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Studi­en­plätze nur für Auserwählte - Streit um Numerus Clausus wieder beim Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt

Grundrechte-Report 2013, Seite 137

Jeder hat das Recht, Beruf und Ausbildungsstätte frei zu wählen. So bestimmt es Artikel 12 Absatz 1 Grundgesetz. Für Tausende Abiturienten bleibt es bei diesen schönen Worten. Sie erhalten nicht den gewünschten Studienplatz. Inzwischen gibt es einen nahezu flächendeckenden Numerus Clausus (NC). Schon vor 40 Jahren stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass dem Mangel an Studienplätzen „nachhaltig nur durch Erweiterung der Kapazitäten begegnet werden kann.“ Es sei „nicht zu bestreiten, dass sich der absolute Numerus Clausus am Rande des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren bewegt“.

Wartezeit länger als Studium

Diese Grenze ist – 40 Jahre nach dieser Entscheidung des Verfassungsgerichts – aus Sicht des Verwaltungsgerichts (VG) Gelsenkirchen überschritten. Das Gericht ist bundesweit für alle Rechtsstreitigkeiten mit „Hochschulstart“, der früheren ZVS (Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen), zuständig. Es legte am 26.04.2012 (Aktenzeichen 6 K 3656/11) dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob die „§§ 31, 32 Hochschulrahmengesetz … sowie die Vorschriften zur Ratifizierung und Umsetzung des Staatsvertrags über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung mit dem Grundgesetz vereinbar seien.“ Denn inzwischen sei die Wartezeit in „harten NC Fächern“ wie Human- und Zahn- oder Tiermedizin länger als das eigentliche Studium. Die Zulassung über die Wartezeit stelle damit keine echte Zulassungschance dar, die auch solchen Bewerbern eine Chance gibt, die keine Spitzennote im Abitur nachweisen können.

Die vom VG beanstandeten Regeln zur Vergabe von Studienplätzen gibt es seit dem Jahr 2004. Danach werden die Studienplätze zu je 20 % nach Abiturnote und Wartezeit und zu 60 % nach einem Auswahlverfahren der Hochschulen verteilt. Mit der Abiturnote bekommt einen Studienplatz, wer je nach Bundesland ein Abitur mit 1,0 oder 1,2 hat. An manchen Hochschulen reicht nicht einmal ein Abitur mit 1,0 – es muss sogar eine besonders gute 1,0 sein.

Auch im Auswahlverfahren der Hochschule kommt es auf die Note an. Zwar können Zusatzqualifikationen die Chancen verbessern, doch „auch bei bestmöglicher Erfüllung aller sonstigen Auswahlkriterien“ hat man nur an 5 der 34 Hochschulen eine Chance, wenn die Abiturnote nicht mindestens eine 2,0 ist. Genau die Hochschulen zu treffen, bei denen noch eine gewisse Zulassungschance besteht, ist ein Glücksspiel, denn man kann sich nur an 6 Hochschulen bewerben. Wählen zu viele Studienbewerber dieselbe Hochschule, hat man auch bei „günstigen“ Auswahlkriterien keine Chance.

80 % der Studien­in­ter­es­sierten auf Wartezeit verwiesen

Der „Rest“ der Bewerber muss warten, und er ist groß: 60 % der Abiturienten haben weder nach der Abiturbestenquote noch im Auswahlverfahren der Hochschulen eine Chance in einem harten NC-Fach. Weitere 17 % der Abiturienten haben nur an 5 Hochschulen eine Chance. Faktisch sind damit rund 80 % der Studierenden auf eine Zulassung über die Wartezeit verwiesen, müssen also bis zu 13 Semester auf einen Studienplatz warten. Solche Wartezeiten – in denen man an keiner Hochschule in Deutschland eingeschrieben sein darf – muss man sich leisten können.

Obwohl also fast alles von der Note abhängt, ist die Note im Abitur vom Zufall geprägt. Zum Beispiel von dem Bundesland, in dem man zur Schule geht. In Thüringen haben Abiturienten konstant eine um 0,4 Punkte bessere Note als Schüler in Niedersachsen. Deshalb werden bei der Verteilung nach der Note nicht alle Abiturienten in Deutschland in einen Topf geworfen, sondern Länderquoten gebildet. Anders im Auswahlverfahren der Hochschulen: Hier werden zwar drei Mal so viele Studienplätze verteilt wie in der Abiturbestenquote und die Note hat „maßgebliche Bedeutung“. Trotzdem spielen die Unterschiede zwischen den Bundesländern keine Rolle.

Ergebnis also: entweder Spitzennote oder mehr als sechs Jahre warten. Das Bundesverfassungsgericht stellte bereits fest, der Numerus clausus führe „zu der krassen Ungleichheit, dass ein Teil der Bewerber alles und der andere Teil – zumindest für eine mehr oder weniger lange und für die weitere Lebensentscheidung möglicherweise ausschlaggebende Dauer – nichts erhält.“ Eine solche Ungleichbehandlung, die sich auf das zweifelhafte Kriterium der Abiturnote stützt, ist mit der grundrechtlichen Gewährleistung aus Artikel 12 Absatz 1 GG, Artikel 3 Absatz 1 GG nicht vereinbar, so das VG in seinem Vorlagebeschluss.

Verschlech­te­rung verletzt Menschen­rechte

Darüber hinaus verletzt die Bundesrepublik Deutschland den „Internationalen Pakt über soziale, kulturelle und wirtschaftliche Rechte“ der Vereinten Nationen. Seit 1976 gilt er als Bundesrecht. Nach Artikel 13 Absatz 2 c Halbsatz 1 dieses „UN-Sozialpakts“ sind die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, „die Hochschulausbildung auf jede geeignete Weise jedermann gleichermaßen entsprechend seinen Fähigkeiten zugänglich zu machen.“ Dieses soziale Menschenrecht verpflichtet die Vertragsstaaten damit auch, Universitäten und Hochschulen auszubauen. Diese Verpflichtung kann nicht von einem Tag auf den anderen erfüllt werden; die Unterzeichnerstaaten müssen aber gemäß Artikel 2 Absatz 1 UN-Sozialpakt „unter Ausschöpfung aller [ihrer] Möglichkeiten Maßnahmen […] treffen, um nach und nach […] die volle Verwirklichung der im Sozialpakt anerkannten Rechte zu erreichen.“ Diese Verpflichtung zum „Fortschritt“ beinhaltet zugleich ein Verbot „regressiver Schritte“, verbietet also grundsätzlich eine Verschlechterung etwa durch den Abbau von Ausbildungskapazitäten. Solche Verschlechterungen sind nur unter strengen Voraussetzungen zulässig.

Die Realität sieht anders aus, gerade in teuren Studiengängen wie der Humanmedizin oder Zahnmedizin. Beispiel: an der Universität Leipzig gibt es genug Professoren und wissenschaftliche Mitarbeiter, um viele weitere Studienplätze für angehende Zahnmediziner anzubieten, hätte nicht die Universität 10 erforderliche Behandlungsstühle verschrottet. An diesem „Engpass“ scheitert jetzt die Zulassung von einigen dutzend Studieninteressierten. Auch die „Umwidmung“ unbefristeter Stellen von wissenschaftlichen Mitarbeitern auf befristete Stellen trägt zum Kapazitätsabbau bei – ohne dass sich deshalb der staatliche Aufwand verringern würde.

Von einem Ausbau der Kapazitäten ist Deutschland gerade in Mangelfächern wie Human- und Zahnmedizin weit entfernt. Das Verhältnis von „Angebot“ und „Nachfrage“ hat sich in den letzten 40 Jahren weiter verschlechtert. Auf 10 Studienplätze in der Humanmedizin bewarben sich 1970 36 Abiturienten, inzwischen sind es 47 – und eine nicht genannte Zahl hat sich angesichts der Zulassungssituation gar nicht erst beworben.

Verfas­sungs­ge­richt­liche Entschei­dung steht aus

Das Bundesverfassungsgericht hat inzwischen den Vorlagebeschluss des VG Gelsenkirchen durch Beschluss vom 06.09.2012 zurückgewiesen, weil er nicht ausreichend begründet sei. Das Verwaltungsgericht habe sich mit einer Härteklausel nicht ausreichend auseinandergesetzt und Rechtsprechung und Literatur insoweit nicht ausreichend ausgewertet. Aber die Richter in Gelsenkirchen zeigen sich von dieser „Watsche“ des Bundesverfassungsgerichts unbeeindruckt. Durch einen weiteren Beschluss vom 08.10.2012 brachten sie zum Ausdruck, dass sie weiter von der Verfassungswidrigkeit des Zulassungsverfahrens ausgehen. Das letzte Wort ist also nicht gesprochen. Doch es wird noch ein weiter Weg sein, bis das soziale Grundrecht des UN-Sozialpakts verwirklicht ist und jeder entsprechend seinen Fähigkeiten Zugang zur Hochschulausbildung hat.

Literatur

BVerfG vom 6.9.2012 (Aktenzeichen 1 BvL 13/12)

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