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"Gefahr im Vollzuge" statt "Gefahr im Verzuge". Grund­rechts­ver­let­zungen durch polizei­liche Wohnungs­durch­su­chungen

Martina Kant

Grundrechte-Report 1998, S. 158-163

Mustafa C. konnte es kaum glauben, als er nach Hause kam und an seiner Wohnungstür ein ausgewechseltes Schloß vorfand. Auf einem Zettel las er, er könne sich den neuen Schlüssel bei der Polizei abholen. Die nämlich hatte in seiner Abwesenheit seine Wohnung durchsucht. In einem anonymen Schreiben war Mustafa C. des Drogenschmuggels bezichtigt worden, genaue Angaben fehlten. Mehrere Tage wurde der in Berlin lebende Türke daraufhin von der Polizei beobachetet – ohne Ergebnis, wie sein Anwalt später in der Ermittlungsakte lesen konnte. Trotzdem erließ eine Richterin einen Durchsuchungsbeschluß für Mustafa C.s Wohnung. Das Verfahren wurde nach einem halben Jahr eingestellt, da sich die Vorwürfe als vollkommen haltlos erwiesen.

Mißbrauch der Ausnahmekonstruktion „Gefahr im Verzuge“

Durchsuchungen von Wohnungen und Häusern, um Personen oder Beweismittel aufzuspüren, gehören zum polizeilichen Alltag, so ist in einer Polizeizeitschrift zu lesen. „Die Wohnung ist unverletzlich“, heißt es hingegen unmißverständlich in Art. 13 GG. Geschützt werden soll die räumliche Privatsphäre der Wohnung, aber auch der Geschäfts-, Büro- und Arbeitsräume vor staatlichen Eingriffen. Eingriffe in Form von Durchsuchungen gestattet das Grundgesetz nur, wenn sie ein Richter oder eine Richterin angeordnet hat; bei Gefahr im Verzuge, d. h. wenn das Einholen eines richterlichen Beschlusses den Zweck der Durchsuchung erschweren oder vereiteln würde, kann eine Wohnungsdurchsuchung auch ausnahmsweise durch die Staatsanwaltschaft oder die Polizei angeordnet werden.

Aus der Ausnahme ist längst der Normalfall geworden: Zwischen 65 und 90 Prozent aller Wohnungsdurchsuchungen finden wegen vermeintlicher Gefahr im Verzuge auf Anordnung der Staatsanwaltschaft bzw. der Polizei statt. Von einem vorbeugenden Richtervorbehalt, den die Mütter und Väter des Grundgesetzes bei einem so schwerwiegenden Eingriff vorsahen, kann keine Rede mehr sein; vielmehr läuft das verfassungsrechtlich und gesetzlich in der Strafprozeßordnung und den Polizeigesetzen vorgeschriebene Verfahren leer. Die vorherrschende nichtrichterliche Anordnung von Wohnungsdurchsuchungen bei „Gefahr im Verzuge“ ist damit tendenziell verfassungswidrig. Genau quantifizierbar ist das Problem allerdings nicht, da flächendeckende Erhebungen bislang fehlen und die Landesjustizverwaltungen sie auch in Zukunft nicht beabsichtigen. Lediglich aufsehenerregende Einzelfälle gelangen in die Medien und werfen Schlaglichter auf das polizeiliche und richterliche Gebaren.

Den Übereifer der Polizei bekamen im Februar 1996 gleich sieben Mitglieder der SPD-Jugendorganisation (JUSO) zu spüren, als sie im Kommunalwahlkampf Plakate der Rechts-Partei „Bund Freier Bürger“ mit dem Aufkleber „Keine Nazis in den Stadtrat“ überklebten. Die Polizei nahm sie vorläufig fest, behandelte sie erkennungsdienstlich und durchsuchte anschließend ihre Wohnungen. „Sicherstellung und Wohnungsdurchsuchung waren weder erforderlich noch verhältnismäßig“, urteilte später das Münchner Amtsgericht über den Grundrechtsverstoß. Das Tatmotiv liege „für jeden vernünftigen Menschen auf der Hand“, nach ihm mußte also „nicht im Wege einer Wohnungsdurchsuchung geforscht werden“.

Eine gerichtliche Zurechtweisung erhielten auch Berliner Polizeibeamte nach einer Wohnungsdurchsuchung im Jahr 1993. Hintergrund war die Anzeige einer Türkin gegen ihren früheren Lebensgefährten, er habe sie 14 Tage zuvor mit einer Waffe bedroht. Auf der Suche nach der Waffe führt die Polizei am darauffolgenden Tag ohne richterlichen Beschluß eine Wohnungsdurchsuchung wegen „Gefahr im Verzug“ durch. Das Amtsgericht Tiergarten urteilte, die Wohnungsdurchsuchung sei unangemessen und – zumal ohne Durchsuchungsbeschluß – nicht rechtmäßig gewesen.

Diese nicht untypischen Beispiele führen drastisch vor Augen, daß die Polizei mitunter unverhältnismäßig, ja oftmals willkürlich Wohnungsdurchsuchungen bei „Gefahr im Verzug“ vornimmt. Die Gewerkschaft der Polizei sieht die „Schuldigen“ bei den Richterinnen und Richtern selbst, da diese wegen beruflicher Überbelastung häufig nicht schnell genug erreichbar seien. Rechtsanwältinnen und -anwälte hingegen nennen als Grund das polizeiliche Erfolgsdenken, dem eine rechtliche Kontrolle oft hinderlich sei.

Zur gängigen Praxis hat es sich entwickelt, bei ertappten Ladendieben im Anschluß an die Festnahme die Wohnung oder das Haus der Verdächtigen nach weiteren Beutestücken zu durchsuchen. Dabei handelt es sich im Regelfall um ein verfassungswidriges Vorgehen, da nicht aufgrund des einen Diebstahls darauf geschlossen werden kann, daß die Verdächtigen weitere Diebstähle begangen haben und Diebesgut in der Wohnung aufbewahrten. Um eine offensichtliche Grundrechtsverletzung zu vermeiden, wird in der polizeilichen Praxis nicht selten durch überzeugendes oder bestimmtes Auftreten auf die „Einwilligung“ der von der Durchsuchung Betroffenen hingewirkt.

Kaum wirksamer Richtervorbehalt

Gefahren für das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung erwachsen allerdings nicht allein aus der exzessiven exekutiven Anordnung von Wohnungsdurchsuchungen bei „Gefahr im Verzuge“. Selbst der Richtervorbehalt mag nicht ohne weiteres als Garant für ein verfassungsgemäßes Verfahren überzeugen, wie der Eingangsfall zeigt.

Wegen Termindrucks und Überbelastung gehen Richterinnen und Richtern Durchsuchungsbeschlüsse oftmals zu leicht von der Hand. Ohne gründliche Prüfungen, dafür mit übergroßem Vertrauen in Staatsanwaltschaft und Polizei werden Durchsuchungsbeschlüsse unterschrieben. Der Richter oder die Richterin kennen zuweilen den Tatvorwurf nur ungenau oder haben keine Vorstellung davon, wonach überhaupt gesucht werden soll. In einer vom Bundesverfassungsgericht beanstandeten richterlichen Durchsuchungsanordnung hieß es etwa lediglich, „der Beschuldigte sei verdächtig, andere unter leeren Versprechungen zu Zahlungen zu veranlassen“, und „vorgefundene Beweismittel“ würden „beschlagnahmt, insbesondere Unterlagen über den Handel mit Esoterik pp.“ (NJW 1994, 328 I f.). Durchsuchungsanordnungen, die keinerlei tatsächliche Angaben über den Inhalt des Tatvorwurfs enthalten, entsprechen nicht rechtsstaatlichen Mindestanforderungen, urteilte in diesem Fall das Bundesverfassungsgericht. Zur bloßen Ausforschung einer Wohnung ist eine Durchsuchung unzulässig.

Jüngstes Opfer eines unbestimmten und dadurch willkürlichen richterlichen Durchsuchungsbeschlusses wurde das Antirassismusbüro Bremen (ARAB). Im Ermittlungsverfahren wegen „Beleidigung, Verleumdung u. a.“ wurden am 3. Dezember 1997 sämtliche Räume des ARAB durchsucht, um die Urheber eines Flugblatts mit dem Aufruf zu Aktionstagen gegen rassistische Polizeigewalt zu ermitteln. In den Flugblättern, so heißt es im Durchsuchungsbeschluß, seien beleidigende und verleumderische Ausdrücke enthalten „wie z. B. Polizeiterror“ und „rassistische Kriminalitätsdebatte“, außerdem „werden darin Straftaten gebilligt, u. v. a.“. Jenseits dessen, daß solche Äußerungen vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt sind und ihre Kriminalisierung einen massiven Eingriff in die Meinungs- und Pressefreiheit darstellt, mangelt es dem Durchsuchungsbeschluß an einer Konkretisierung des Tatvorwurfs, worin beispielsweise die Straftaten bestehen sollen. Formulierungen wie „u. v. a.“ werden dem Bestimmtheitsgrundsatz jedenfalls nicht gerecht und haben in einem richterlichen Durchsuchungsbeschluß nichts zu suchen.

Auch bei der Vollstreckung richterlicher Durchsuchungsbeschlüsse werden die Rechte der Betroffenen verletzt. So wurden Wohnungs- bzw. Büroinhaber unzulässigerweise daran gehindert, bei der Durchsuchung anwesend zu sein, wie etwa bei der Durchsuchung der Räume des Allgemeinen Studentenausschusses (AStA) der Universität Göttingen im Juli 1994. In Berlin durchkämmten im September 1996 150 Polizeibeamte auf der Suche nach einem Mann, der wegen Urkundenfälschung gesucht wurde, ein ehemals besetztes Haus auf richterliche Anordnung komplett, obwohl seit 1991 Mietverträge bestanden. Zudem hätten die Beamten Wohnungstüren gewaltsam aufgebrochen, obwohl ihnen von den Bewohnern Schlüssel angeboten wurden.

Alle diese Beispiele zeigen, daß das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung an vielen Stellen verletzlich ist und tatsächlich auch verletzt wird: durch die exzessive Anordnung durch die Polizei bei „Gefahr im Verzuge“, durch Ungenauigkeiten und teilweise Beliebigkeit richterlicher Durchsuchungsanordnungen und bei der Durchsuchung selbst.

Einen wenn auch nur kleinen Fortschritt für das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung haben zwei Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von April/Mai 1997 zur zeitlichen Gültigkeit von richterlichen Durchsuchungsanordnungen und zum Rechtsschutz gebracht (vgl. den Beitrag von Müller-Heidelberg zu Art. 19, Abs. 4). Die häufig genug grundrechtsverletzende Alltagspraxis bei Wohnungsdurchsuchungen wird sich dadurch jedoch kaum verändern.

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