Publikationen / Grundrechte-Report / Grundrechte-Report 2010

Unerbetener Besuch vor der Wohnungstür - Schnüf­fe­lex­zesse von „Hartz IV-Er­mitt­lern“

Grundrechte-Report 2010, Seite 142

In jeder Folge der Sat1-Doku Soap „Gnadenlos gerecht – Sozialfahnder ermitteln“ steigen zwei gestylte Hartz IV-Ermittler aus ihrem schicken, neuen, großen Auto und besuchen Arbeitslosengeld II (Alg II)-Beziehende. Sie gucken nach Mobiliar zur (Erst)-Ausstattung der Wohnung. Sie schnüffeln unterm Betttuch und suchen eine Bedarfsgemeinschaft, sie forschen nach Hinweisen auf den tatsächlichen Wohnort. Nur bei Gesetzeskennern treten Fragen zu Recht und   Unrecht auf. Denn seit wann darf eine Familie pauschal des Sozialleistungsmissbrauchs verdächtigt werden? Ist das Ansprechen von Nachbarn rechtmäßig? Wieso wird der Besitz eines Lieferfahrzeuges als „gesetzwidriges Vermögen“ bezeichnet? Seit wann geben Möbel Auskunft über die Bedürftigkeit? Wieso darf unterstellt werden, dass jemand woanders wohnt, wenn er zweimal am Vormittag nicht angetroffen wird? Was zunächst wie eine rechtmäßige Handhabe bei Hausbesuchen erscheint, entpuppt sich bald als kriminalisierende Stimmungsmache gegen Bedürftige und als Pauschalvorwurf des Sozialleistungsmissbrauchs.

Schwierige Gemengelage an der Türschwelle

Im Recht sein, rechtmäßig behandelt werden oder Recht bekommen, sind verschiedene Paar Schuhe. Wie juristisch kompliziert die Materie der Hausbesuche ist, zeigen die gesetzliche Regelung in § 6 Absatz 1, Satz 2 Sozialgesetzbuch II (SGB II) und ihre Auslegung in der Verwaltungspraxis der Ämter bei der Vorbereitung und Durchführung von Hausbesuchen sowie die Rechtsdurchsetzung bei den Gerichten. Der Außendienst des SGB II-Trägers steht mitunter bei ALG-II-Beziehenden vor der Tür und begehrt Einlass in die Wohnung. Gesetz und konkretes Vorgehen liegen hier oft sehr weit auseinander, wie das Folgebeispiel zeigt. So meinten Außendienstler zu einer ALG-II-Bezieherin: „Sie haben doch nichts zu verbergen! Na dann können wir ja hineinkommen!“ Ohne zu Wort zu kommen, war sie flugs beiseite gedrängt. Blitzartig hatten zwei Hartz IV-Ermittler ihre anderthalb Zimmer besichtigt und befanden: „Hier wohnen nur Sie allein. Wir können nicht erkennen, dass hier ein Untermieter wohnt.“ Sie meinte: „Ich wusste ja nicht mal, ob die von mir oder meinem Mitbewohner was wollen, und dachte, wenn Du die jetzt nicht reinlässt, streichen sie Dir das ALG II.“ Infolge der Besichtigung wurden dem Untermieter ab dem nächsten Tag die anteiligen Kosten der Unterkunft gestrichen, und er musste klagen.

Trotz ausführlicher Anweisungen der Bundesagentur für Arbeit (BA) werden Hausbesuche noch immer nach eigenem Gusto ausgeführt. Vor Schreck wissen dann die Betroffenen nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Sie glauben, dass bei Nichteinlass des Außendienstes die ALG-II-Sperre droht, was nur ausnahmsweise gilt, wenn leistungserhebliche Tatsachen nicht anders feststellbar sind. Gleichwohl wurden bereits fälschlich Leistungen gestrichen, die nur durch aufwendige, langwierige Klageverfahren wiedergeholt werden konnten. Und welcher Vermieter wartet schließlich länger als zwei Monate auf Miete? Die verfassungsmäßige Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung nach Artikel 13 Absatz 1 Grundgesetz gilt auch für ALG-II-Beziehende. Ihre Wohnung ist nicht gegen ihren erklärten Willen zu betreten. Jede/r kann dem Außendienst den Zutritt verweigern und bestimmt letztendlich selbst, ob, wann und in welchem Umfang dieser die Wohnung betritt. Schikanen wie Eintrittserzwingungen können als Hausfriedensbruch, Nötigung, falsche Verdächtigung, Bedrohung, Rechtsbeugung im Amt bzw. Beihilfe angezeigt werden.

Die Bundesagentur für Arbeit hält einen Hausbesuch jedoch in einer Fülle von Konstellationen für zweckmäßig: zur Ermittlung des tatsächlichen Aufenthalts; zur Prüfung der Notwendigkeit und des Umfanges beantragter Beihilfen nach § 23 Absatz 3 SGB II (Erstausstattungen für die Wohnung, einschließlich Haushaltsgeräten, sowie für Bekleidung, Schwangerschaft und Geburt); zur Überprüfung von Wohnungsverhältnissen, z. B. zur Feststellung der Wohnfläche; bei Fragen der Verwertbarkeit von Vermögen, insbesondere der Aufteilbarkeit bei selbst genutztem Wohneigentum; zur Abgrenzung von Bedarfs- und Haushaltsgemeinschaft; zur Indizienfeststellung, um die Vermutung einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft zu widerlegen; zur Feststellung von verschwiegenem Einkommen.

Manche Fragen versucht die Agentur anders zu klären, z.B. durch Vorsprachen bei Banken und Versicherungen oder Gespräche mit sonstigen Dritten, u.U. Nachbarn, Vermietern. Zur Feststellung von verschwiegenem Einkommen können auch Gespräche mit Arbeitgebern geführt werden, diese dürfen allerdings nicht wegen Verdacht auf Schwarzarbeit erfolgen.

Solche Schnüffelei stellt ebenfalls einen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte dar. Datenschützer mahnen die Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit an, z.B. müsse der Sachverhalt vorher amtlich geklärt werden. Vorrangige Informationen z. B. zur Abstammung der Kinder, über gemeinsame Konten und Versicherungen können per Datenabgleich mit anderen Ämtern zur Klärung herangezogen werden.

Keine bedin­gungs­losen Hausbesuche

Üblicherweise entscheidet der Leiter des SGB II-Trägers über einen Hausbesuch, dessen im Einzelfall vorliegender Grund in der Akte eingetragen wird. Das Amt soll vorher über einen Termin für die Wohnungsbesichtigung informieren. Vor dem Eintritt in die Wohnung muss sich der Außendienst unaufgefordert mit dem Dienstausweis identifizieren. Er muss den Betroffenen ausführlich die Gründe erklären und ihn über die mögliche Verweigerung des Wohnungszutritts aufklären. Hausbesuche zur „Ermittlung eines Sachverhalts“ (Bedarfsfeststellung-und -kontrolle) nach § 20 SGB X i. V. m. § 21 Absatz 1 Nr. 4 SGB X i. V. m. SGB II sind nur dann erlaubt, wenn dies zur Klärung bereits bekannter Indizien erforderlich ist. Routinemäßige Wohnungskontrollen sind verboten. TV und Journalisten haben kein Zutrittsrecht zur Wohnung, auch nicht bei ALG-II-Beziehern.

Informationserhebung ist ausschließlich zur eingeschränkten Sachverhaltsklärung erlaubt. Eine Wohnungszutrittserlaubnis ist kein Persilschein zum Schränkeöffnen; dies bedarf ausdrücklicher Einwilligung und dient spezifischer Sachverhaltsklärung. Erlaubt ist allenfalls ein kurzer Blick, aber kein „Schrankdurchwühlen“. Der Außendienst darf in der Regel nicht ohne Einverständnis des Betroffenen Daten in der Nachbarschaft erheben, z.B. durch Befragung (Sozialgericht Düsseldorf, Entscheidung vom 7. Dezember 2005, Az.: S 35 A 343/05 ER). Dies würde gegen Datenschutzrecht verstoßen. Dasselbe gilt für die Befragung Minderjähriger, außer wenn das Kind unmittelbar betroffen ist. Fotos in Akten sind gemäß § 67 Absatz 6 Nr. 1 SGB X gespeicherte Sozialdaten, weshalb das Fotografieren in den Wohnungen Betroffener nur nach vorheriger Ansage und Einwilligung in strittigen Fällen zur Beweissicherung statthaft ist.

Die rechtliche Situation ist also kompliziert, die Druckmittel der Behörden sind enorm hoch. Trotzdem sollte jede und jeder auf seinem Recht bestehen, Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte verweigern und im Zweifelsfall klagen.

Literatur
www.gegen-zwangsumzuege.de
www.gegen-hartz.de

nach oben