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Die deutsche Rente ist nicht sicher - NS-Ghet­to­a­r­bei­tern wird die Auszahlung ihrer Rente verwehrt

Grundrechte-Report 2009, Seite 142

Die Geschichte von M. ist einer der unzähligen Leidenswege, den Jüdinnen und Juden während des Vernichtungsfeldzuges der Nazis in Europa durchleben mussten. Als die deutsche Wehrmacht 1941 ihr Heimatland überfiel und besetzte, begann auch unmittelbar die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. M. wurde gezwungen, in ein planmäßig errichtetes Ghetto zu übersiedeln. Sie verlor ihre Eltern, musste trotz ihres jugendlichen Alters von 15 Jahren schwerste körperliche Arbeiten an einer Bahnstrecke verrichten und litt in Folge der grauenvollen Arbeits- und Lebensbedingungen an Unterernährung, Kälte und schweren Krankheiten. Im November 1942 gelang ihr die Flucht aus dem Ghetto, kurz bevor es aufgelöst und seine Bewohner in die Vernichtungslager deportiert und dort ermordet wurden. In der von Todesängsten und menschenunwürdigen Bedingungen geprägten Illegalität überlebte sie den Krieg. Aufgrund ihrer Verfolgungsschäden erhielt sie Zahlungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz, nicht aber Leistungen nach dem Stiftungsgesetz zur Zwangsarbeit. Im Mai 2003 stellte sie bei der Landesversicherungsanstalt Hamburg einen Antrag auf Altersrente für ihre Beschäftigungszeit im Ghetto. Der Rentenversicherungsträger lehnte ihren Antrag ab. Sie habe, so beschied die Behörde, nicht glaubhaft machen können, dass es sich bei ihren Tätigkeiten um eine bezahlte Arbeit aus freiem Willensentschluss gehandelt habe. Eine freiwillige, entgeltliche Beschäftigung sei aber die rentenrechtliche Voraussetzung für die Zahlung einer Rente. M. klagte, scheiterte aber schließlich vor dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht (Urteil vom 27.5.2008, Az.: L 12 R 30/07).

Der renten­recht­liche Nachteil

Zigtausenden Leidensgenossinnen und Leidensgenossen von M. ergeht es nicht anders. Sie alle haben spätestens Anfang der neunziger Jahre ihr Rentenalter erreicht und dürften angesichts der unsäglichen Geschichte deutscher Wiedergutmachungsleistungen kaum damit gerechnet haben, jemals für ihre Arbeit gerecht entlohnt, geschweige denn berentet zu werden. Das änderte sich 1997, als das Bundessozialgericht in einem Grundsatzurteil entschied, dass sich aus der Beschäftigungszeit in einem Ghetto Rentenanwartschaften nach der seinerzeit geltenden Reichsversicherungsordnung (RVO) ergeben können (Bundessozialgericht, Urteil vom 18.6.1997, Az.: RJ 66/95). Die Hoffnung der ehemaligen Ghettoarbeiterinnen und Ghettoarbeiter auf entsprechende Leistungen verstärkte sich dann fünf Jahre später, als der Bundestag mit Bezug auf dieses Urteil das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) verabschiedete, das die Auszahlung dieser Renten erheblich vereinfachen sollte. Über 70.000 Betroffene stellten daraufhin Anträge bei den Rentenversicherungsträgern. Doch nur etwa 5.000 erhielten einen positiven Bescheid. Die übrigen 90 Prozent der Anträge wurden abgelehnt – häufig mit der Begründung, die Angaben der NS-Opfer seien widersprüchlich, unzureichend oder schlicht nicht glaubhaft.

Das NS-Regime betrieb systematisch die Auslöschung der jüdischen Bevölkerung, die Ghettos stellten in diesem Zusammenhang lediglich den Vorhof der Shoa dar. Für die Insassen der Ghettos bedeutete die Arbeit bei den umliegenden Betrieben der Wehrmacht und der deutschen Privatwirtschaft eine überlebensnotwendige zusätzliche Essensration und bewahrte sie vor einer Selektion bei der nächsten Deportation in die Konzentrationslager. Auch wenn der Gesetzgeber mit dem Ghettorentengesetz keine Entschädigungsleistung, sondern den Ausgleich eines „rentenrechtlichen Nachteils“ beabsichtigte, ist es angesichts des Schicksals der Betroffenen geradezu absurd, die Arbeit in den Ghettos mit sozialversicherungsrechtlichen Begriffen wie „Freiwilligkeit“ und „Entgelt“ kategorisieren zu wollen.

Weder freiwillig noch entgeltlich 

Den deutschen Rentenbehörden mangelt es offenbar an einem Mindestmaß an Empathie, wenn ihnen diese Widersprüche dazu dienen, die Rentenanträge als unplausibel zurückzuweisen. An Zynismus grenzen indes nicht wenige Entscheidungen der Sozialgerichte, die Klagen der Betroffenen mit einer restriktiven Auslegung der Tatbestände und fragwürdigen historischen Erörterungen zum Ghettoalltag abgewiesen haben. Es spricht Bände, wenn das Bundessozialgericht ausdrücklich betonen muss, dass „eine aus eigenem Willensentschluss zustande gekommene Beschäftigung in einem Ghetto weder das Bestehen eines auf bestimmte oder unbestimmte Zeit angelegten Arbeitsverhältnisses noch den Abschluss eines Arbeitsvertrages“ voraussetze, dass es für die Qualifizierung als Entgelt „nicht auf die Art und Höhe und auch nicht auf die Angemessenheit oder gar auf eine ‚Gerechtigkeit‘ der Vergütung“ für die geleistete Arbeit ankomme und dass rentenversicherungsrechtliche Besonderheiten wie Mindestalter, Wartezeiten oder eine angebliche Versicherungsfreiheit in den Fällen der Ghettoarbeit keine Berücksichtigung finden sollen (Urteil vom 14.12.2006, Az.: B 4 R 29/06).

Die Bundesregierung hat lange Zeit keinen Handlungsbedarf gesehen. Wiederholt erklärte sie auf kritische Nachfragen, dass die nur etwa 5.000 Bewilligungen ihren Erwartungen entsprechen. Auch sei kein Fehlverhalten bei der Umsetzung des Gesetzes festzustellen; vielmehr resultierten die geringen Bewilligungsquoten aus der Unkenntnis der Antragsteller über die schwer verständliche Rechtslage. Für eine Änderung des Ghettorentengesetzes bestünde insofern kein Anlass.

Wie so oft spielen deutsche Behörden gegenüber den mittlerweile hoch betagten Opfern des Nationalsozialismus auf Zeit. Denn die Rentenversicherungsträger fürchten Ausgaben in Höhe von bis zu 2,3 Milliarden Euro, sollten alle Betroffenen ihre Ansprüche rückwirkend geltend machen können. Erst auf Druck jüdischer Opferverbände aus Israel und den USA zeigte sich Deutschland bereit, einzulenken und eine „unbürokratische Lösung“ zu verfolgen. Per Kabinettsbeschluss richtete man im September 2007 einen Fonds ein, aus dem jede Ghettoarbeiterin und jeder Ghettoarbeiter als Anerkennungsleistung zunächst eine einmalige Zahlung von 2.000 Euro erhalten soll. Das Volumen des Fonds beträgt 100 Millionen Euro – angesichts der tatsächlichen Gesamtsumme ein minimaler Symbolbetrag.  

Deutsche Solidar­ge­mein­schaft

Die Bundesrepublik ist nach Artikel 20 Absatz 1 GG ein sozialer Bundesstaat, dessen Aufgabe es ist, für soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Zu diesem Zweck hat der Gesetzgeber die Sozialversicherungssysteme geschaffen. Anwartschaften, die in diesem Zusammenhang durch eigene Leistung verdient wurden, sind durch die Eigentumsgarantie des Artikel 14 GG geschützt. Die Anwendungspraxis und die unzureichende Ausgestaltung des Ghettorentengesetzes hintertreiben diese Vorgaben und setzen die anspruchsberechtigten Ghettoarbeiter zu Bittstellern herab. Selbst hoch belastete und verurteilte NS-Täter entließ man nach 1945 nicht aus der Solidargemeinschaft der Versicherten; ihren Opfern allerdings verbaut man den Zugang zu ihrer Rente und verwehrt ihnen damit auch mittelbar die Anerkennung ihres Leidensweges.

Deutschland hat sich aber insbesondere in Reaktion auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in Artikel 1 Absatz1 S.2 Grundgesetz zur Wahrung der Menschenwürde verpflichtet. Dies beinhaltet auch, das mit ihrer Verletzung erlittene Unrecht zügig und umstandslos auszugleichen. Noch heute zeigt man sich in Deutschland nicht fähig, dieser Verantwortung hinreichend gerecht zu werden.

Literatur

von Renesse, Jan Robert, Wiedergutmachung fünf vor zwölf – Die Sozialgerichtsbarkeit und die Rentenansprüche jüdischer Ghettoüberlebender, Neue Juristische Wochenschrift 2008, S. 3037 ff.

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