Publikationen / Grundrechte-Report / Grundrechte-Report 1998

Verfolgt nicht nur vom Staat: Frauen­spe­zi­fi­sche Asylgründe

Regina Kalthegener

Grundrechte-Report 1998, S. 176-180

„Asyl ist Menschenrecht!“ Mit diesem Aufruf zum internationalen Tag der Menschenrechte machten engagierte Gruppen und Einzelpersonen am 10. Dezember 1997 auf den Text des Artikels 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 aufmerksam, dessen Umsetzung längst noch nicht selbstverständlich geworden ist: „Jedermann hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.“

Jedermann, auch jede Frau? Menschenrechte von Mädchen und Frauen sind integraler Teil der allgemeinen Menschenrechte. Menschenrechtsverletzungen an Mädchen und Frauen können durch unterschiedliche Formen von sexueller Gewalt begangen werden. Dies wurde auf der Weltmenschenrechtskonferenz 1993 in Wien und auf der Vierten Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking klargestellt. Danach zählen folgende spezifische Diskriminierungen und Verfolgungen von Frauen zu den anerkannten frauenspezifischen Fluchtursachen: genitale Verstümmelung (siehe Fälle von der Elfenbeinküste), drohende Tötung nach Verletzung der „Familienehre“, Vergewaltigung und andere sexuelle Übergriffe (Asylanträge aus Pakistan, Somalia), drohende Tötung, auch wegen politischer Betätigung ihrer männlichen Verwandten (z. B. Algerien), Verstöße gegen restriktive Bekleidungs- und Verhaltensregeln, zum Beispiel in streng islamischen Ländern (vermehrt Fälle aus Afghanistan), Witwenverbrennung, Zwangsabtreibung, insbesondere weiblicher Föten (Asylanträge aus China), Zwangssterilisation oder Zwangsverheiratung. Margit Gottstein faßte bereits 1986 die besonderen Fluchtgründe zutreffend zusammen als „schwere Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit und die persönliche Freiheit von Frauen mit dem Ziel, die Herrschaft von Männern über Frauen herzustellen, aufrechtzuerhalten oder für andere Ziele auszunutzen“.

Der Problematik wurde in der deutschen Öffentlichkeit nach dem Bekanntwerden der Massenvergewaltigungen bosnischer Frauen seit 1993 besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Dieses öffentliche Interesse steht seitdem jedoch immer noch in einem krassen Mißverhältnis zu der weitgehenden Nichtberücksichtigung frauenspezifischer Fluchtgründe im Ausländerrecht. Zwar wurde von seiten der Gerichte in Einzelfällen betont, daß frauenspezifische Gründe mit einem asylerheblichen Merkmal als Verfolgung zu werten seien, doch gelangte in zahlreichen Entscheidungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge nur das Duldungsrecht des § 53 Ausländergesetz zur Anwendung und nicht das weitergehende Asylrecht. In einigen Fällen wurde den Betroffenen im Gerichtsverfahren zumindest aus humanitären Gründen ein Bleiberecht zuerkannt.

So unterschiedlich die Bedingungen und Ursachen für Repressionen auch sind, es bleibt festzustellen, daß sowohl Staaten als auch politische und soziale Gruppierungen eine gezielte geschlechtsspezifische Verfolgung von Frauen betreiben, dulden oder zu ihr aufrufen. Deutlich wird dies an den zunehmenden Übergriffen fundamentalistischer Islamisten in Algerien und Ägypten und an der Entwicklung seit Ende 1996 unter den Taliban-Milizen in Afghanistan. Dennoch halten deutsche Gerichte an dem restriktiven Begriff der „staatlichen Verfolgung“ fest (vgl. auch den Beitrag von Maier-Borst). Sexuelle Übergriffe im Kontext von Krieg und Bürgerkrieg werden überwiegend als nicht asylrelevant betrachtet: Es fehle an dem Erfordernis einer staatlichen oder quasistaatlichen Verfolgung. Das durch diese Praxis herbeigeführte Dilemma der Frauen wurde in mehreren Verfahren deutlich, so auch in dem Fall einer Somalierin, die nach dem Sturz der Regierung durch die neuen Machthaber aus dem Stamm der Hawiye wegen ihrer Stammeszugehörigkeit angegriffen, geschlagen und vergewaltigt worden war. Der Asylantrag wurde mit der Begründung abgewiesen, Art. 16 a GG und der Abschiebeschutz des § 51 Abs. 1 AuslG könnten hier nicht beansprucht werden, da seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges 1991 in Somalia keine gesamtstaatliche Herrschaftsgewalt mehr bestehe und mit deren Wiedererrichtung in absehbarer Zeit nicht zu rechnen sei. „Dabei erfordern Effektivität und Stabilität eine gewisse Stetigkeit und Dauerhaftigkeit der Herrschaft, verkörpert vorrangig in der Durchsetzungsfähigkeit und Dauerhaftigkeit des geschaffenen Machtapparats“ (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. 4. 1997 – 9 C 15.96).

Die Empfehlungen des UNHCR-Exekutivkomitees aus dem Jahr 1985 wurden von den Entscheidern im Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge kaum berücksichtigt. Danach können sich die Staaten die Interpretation zu eigen machen, daß weibliche Asylsuchende, die aufgrund von Verstößen gegen den in ihrem Heimatland herrschenden Sittenkodex harte oder unmenschliche Behandlung zu erwarten haben, eine „besondere soziale Gruppe“ i. S. d. Art. 1 A (2) der UN-Flüchtlingskonvention von 1951 darstellen. Die Entscheidungspraxis steht auch im Gegensatz zum von der Bundesregierung im selben Gremium 1993 unterstützten Beschluß, „daß Personen als Flüchtlinge anerkannt werden, deren Anspruch auf den Flüchtlingsstatus auf wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung durch sexuelle Gewalt wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung basiert“ (UNHCR-Exekutivkomiteebeschluß Nr. 73, 1993, Buchstabe d). Deutschland teilt die Einschätzung nicht, daß das „Geschlecht“ allein als Merkmal einer bestimmten sozialen Gruppe fungieren könne, und sieht auch nicht die Notwendigkeit, dem Beispiel Schwedens zu folgen, das 1996 eine neue Schutzkategorie in sein Asylrecht eingeführt hat, die unter anderem wegen ihres Geschlechts verfolgte Frauen und Homosexuelle umfaßt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wird statt dessen in der asylrechtlichen Wertung frauenspezifischer Fluchtgründe mehr auf die bestehenden kulturellen Differenzen zwischen Asyl- und Herkunftsland unter Verweis auf die dortige allgemeine Situation der Frauen eingegangen als auf die Universalität der Menschenrechte ohne geschlechtliche Diskriminierung. Ungeachtet erwiesener Tatsachen, daß unter den Taliban-Milizen Frauenrechte in Afghanistan menschenrechtsverletzend eingeschränkt und sogar außer Kraft gesetzt werden, urteilte das Verwaltungsgericht Hannover im Falle einer afghanischen Asylbegehrenden, „Rückkehrerinnen ist es zumutbar, den dort von ihnen erwarteten Verhaltensmustern zu entsprechen. Kleidervorschriften und eine Reglementierung des Auftretens im öffentlichen Leben begründen noch keine Verletzung der Menschenwürde. In Afghanistan sind alle Frauen gleichermaßen davon betroffen“ (VG Hannover vom 1. 7. 1997 – 5 A 3103/94).

Daß es auch anders gehen kann, zeigt eine bemerkenswerte Entscheidung des Verwaltungsgerichts in Magdeburg, die im März 1997 bekanntgegeben wurde. Die Asylbegehrende, Staatsangehörige des Staates Elfenbeinküste, war zur Königin des Volksstammes der Apolo bestimmt worden. Damit hätte sie sich einer „Beschneidung“ unterwerfen müssen. Hinter diesem verharmlosenden Begriff verbirgt sich ein schreckliches Ritual, bei dem Mädchen und Frauen an ihren äußeren Genitalien grausame Verstümmelungen zugefügt werden. Weltweit sind nach Schätzungen des UNHCR 150 Millionen Mädchen und Frauen von Genitalverstümmelung betroffen, jedes Jahr werden erneut zwei Millionen Opfer dieser Praktiken. Genitalverstümmelung ist Folter und Menschenrechtsverletzung. Mit Begründungen, die jeder Grundlage entbehren, werden etwa die Klitoris abgetrennt, die kleinen Schamlippen entfernt, Haut und Gewebe aus der Vagina herausgeschabt oder die großen Schamlippen abgetrennt und die verbleibende Haut zusammengenäht oder mit Dornen aneinandergeheftet, so daß nur eine winzige Öffnung verbleibt. Die Eingriffe erfolgen ohne Narkose, dauern bis zu zwanzig Minuten und werden mit einer Scherbe, Schere, Rasierklinge oder einem Messer durchgeführt. Im Streitfall gab das Verwaltungsgericht dem zunächst auf Verwaltungsebene abgelehnten Asylantrag statt (VG Magdeburg, Gerichtsbescheid vom 20. 06. 1996 – 1 A 185/95).

„Der von der Zwangsbeschneidung Betroffene wird unter Mißachtung seines religiösen und personalen Selbstbestimmungsrechts zum bloßen Objekt erniedrigt.“ Ungeachtet der Entscheidungen anderer Verwaltungsgerichte urteilte das Magdeburger Gericht in Anlehnung an die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, politische Verfolgung i. S. v. Art. 16 a GG sei zwar grundsätzlich staatliche Verfolgung, jedoch müsse eine von privaten Dritten betriebene Verfolgung dem Staat dann zugerechnet werden, wenn der Staat dem Betroffenen nicht mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Mitteln Schutz gewähre (BVerfGE 80, 336). Diese Voraussetzungen lägen vor, eine inländische Fluchtalternative bestehe nicht, und es sei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, daß die Klägerin bei ihrer Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen der beschriebenen Art ausgesetzt sei. Ihr Überleben hat die Klägerin wahrscheinlich dem außerordentlichen Zufall zu verdanken, daß das Verwaltungsgericht Magdeburg örtlich zuständig war und für das erkennende Gericht keine Zweifel darüber bestanden, daß eine gegen den Willen der Betroffenen durchgeführte „Beschneidung“ ihrer Intensität nach einem asylrechtlich erheblichen Eingriff in ihre physische und psychische Integrität gleichkommt.

Weitere Informationen bei der Frauenrechtsorganisation terre des femmes e. V., Postfach 2565, 72015 Tübingen.

nach oben