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20 Jahre Tafeln - kein Grund zu Feiern

Grundrechte-Report 2014, Seite 134

1993 gründeten Frauen in Berlin die erste Tafel. Heute gehören dem Bundesverband der Tafeln mehr als 900 Vereine an, die Lebensmittel an in Armut lebende Menschen verteilen. Nach Angaben des Bundesverbands werden wöchentlich 1,5 Millionen Menschen mit Nahrung versorgt, die entweder vom Markt genommen oder gespendet wurde.

Hunger­be­kämpfer oder Essens­ret­ter?

Die Idee hinter den Tafeln entstand in den USA unter dem Begriff Food Banks (Nahrungsmittelbanken), in die man „einzahlt“ wenn es einem gut geht, und aus der man Nahrung erhält, wenn es einem schlecht geht. Eine Aufgabe, die zumindest in Deutschland eigentlich durch den Sozialstaat übernommen wird. Auch stimmt die Logik aus dem 1960er Jahren nicht mehr: zwar gibt es auch heute den Bäcker von nebenan, der Brot an die Tafeln weiter gibt. Deutlich dominanter sind jedoch die Kooperationen der Tafeln mit großen Lebensmittelketten, die so auf günstige Weise ihren Abfall entsorgen und ihr Image aufpolieren. Befeuert wurde die Entwicklung in den letzten Jahren zudem durch die Debatte um die Eindämmung der Lebensmittelverschwendung, die unter anderem durch den Film „Taste the Waste“ weite Teile der Öffentlichkeit erreicht hat. Ganz auf dieser Linie nennen sich die Tafeln heute „Die Essensretter“. Gleichzeitig sehen sich die Tafeln mit derselben Frage konfrontiert wie die Lebensmittelbanken in den USA: sind sie bereit und mutig genug, aus den Erfahrungen, die zehntausende von Mitarbeitern ihrer Einrichtungen täglich mit Ernährungsarmut in Deutschland machen, Konsequenzen zu ziehen und politische Veränderungen einzufordern, um die Ursachen von Hunger bekämpfen? Die Politiker wiederum müssen sich der Frage stellen, ob sie bereit und mutig genug sind, ihre Politik auf das Ziel auszurichten, dass die Tafeln überflüssig werden.

Die Tafeln und die Menschen­rechte

Hinter diesen Fragen steht die Annahme, dass die Existenz der Tafeln ein gesellschaftliches Umfeld schafft, das der Politik ermöglicht, sich nicht mit den Ursachen von Ernährungsarmut beschäftigen zu müssen. In der Tat ignoriert die Politik das Problem der Ernährungsarmut weitgehend, andererseits hofiert sie die Tafeln, sei es lokal oder über die Einladung zu Bundesparteitagen oder die Schirmherrschaft einer Ministerin für den Bundesverband. Kritische Fragen zur Existenz der Tafeln bleiben unbeantwortet: Auf eine Anfrage der Fraktion der Linken aus dem Jahr 2011 an die Bundesregierung, wie sie sich die Zunahme der Tafeln und der mit diesen Angeboten versorgten Personen erkläre, antwortete diese nur, dass ihr zu der Zahl der Tafeln keine überprüfbaren Daten vorliegen. So überrascht es auch nicht, dass der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aus 2013 ebenfalls nicht auf das Phänomen der Tafeln eingeht.

Dabei gibt es eine Reihe menschenrechtlicher Fragen, die sich angesichts der Ausbreitung der Tafeln stellen: zunächst einmal sind sie ein deutliches Anzeichen dafür, dass Ernährungsarmut in Deutschland ein reales Problem ist, dass das Recht, sich selbstbestimmt und aus eigener Kraft zu ernähren zu können also nicht erfüllt ist. Zu niedrige Löhne, Renten und Sozialleistungen führen bei immer mehr Menschen dazu, dass am Ende des Monats kein Geld mehr für das Essen übrig bleibt. Besonders betroffen sind alleinerziehende Mütter. In seinem passend zum Tafeljubiläum erschienenen Buch „Schamland“ ermöglicht der Autor Stefan Selke Einblicke in die Welt der Tafelnutzer. Die von ihm beschriebene soziale Ausgrenzung und Beschämung stellt eine Verletzung der Menschenwürde dar. Sosehr sich einzelne haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter bemühen und versuchen, bei den Tafeln ein angenehmes Umfeld zu schaffen, sie können damit nichts an der Tatsache ändern, dass der Gang zu den Tafeln ein allzu deutliches Zeichen ist, auf welcher Seite der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich jemand steht.

Hunger­be­kämp­fung oder auf Dauer angelegte Armen­spei­sung?

Die Tafeln sind keine Suppenküchen, die Abhilfe in kurzfristigen Notsituationen anbieten, sondern sie entwickeln sich zu einer auf Dauer angelegte Armenspeisung, solange sich an den Einkommen der armen Teile unserer Gesellschaft nichts ändert. Hier steuernd einzugreifen ist Aufgabe der Politik. Welche dramatische Auswirkung politische Veränderungen auf dem Rücken der Armen haben kann, zeigt sich in Großbritannien. Während die Ausgaben der Privathaushalte steigen, sinken ihre Einnahmen aus Arbeit und Sozialleistungen, mit dramatischen Konsequenzen: so berichtete die Nahrungsmittelbank Trussel Trusts dass sich infolge der Austeritätspolitik der Regierung die Zahl der Nutzer in 2012 im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt hat. Die Nahrungsmittelbanken in Großbritannien kommen der Nachfrage kaum hinterher. Sieht so die Zukunft auch in Deutschland aus?

Es ist verblüffend, wie wenig in der Kommentierung der Entwicklung der Tafeln Parallelen zu den Lehren aus der internationalen Debatte um Nahrungsmittelhilfe gezogen werden. Internationale Nahrungsmittelhilfe war lange Zeit vor allem ein Ventil für Länder wie die USA, um Produktionsüberschüsse abzusetzen. Zu den bekannten Folgen einer solchen Politik gehört die Zerstörung lokaler Märkte in Entwicklungsländer und die dauerhafte Abhängigkeit von Menschen, ganzer Regionen und Länder von Nahrungsmittelhilfe. Heute steht deshalb im Vordergrund, die Hilfe für Hungernde mit der lokalen Entwicklung zu verzahnen und langfristige Lösungsansätze für die Bekämpfung von Hunger und Armut zu fördern. Im Zentrum steht dabei die Anerkennung der Menschenrechte der von Hunger und Armut betroffenen Menschen und im Gegenzug dazu die menschenrechtlichen Verpflichtungen der Staaten, über den Ausbau sozialer Sicherung einen universellen Rechtsanspruch zu gewährleisten. Wo Nahrungsmittel auf den lokalen Märkten vorhanden sind, sind Geldleistungen der Verteilung von Lebensmitteln in jedem Fall vorzuziehen, um dem Anspruch auf Selbstbestimmung gerecht zu werden.

Moral statt Menschen­rechte

Die Parallelen zur Entwicklung der Tafeln in Deutschland sind deutlich: die Profiteure sind marktdominierende Akteure – in diesem Fall nicht die USA, sondern die großen Lebensmittelketten. In Deutschland teilen sich die fünf führenden Supermarktketten Aldi, Edeka, Metro, Rewe und die Schwarz-Gruppe (Lidl und Kaufland) inzwischen rund 90 Prozent des Marktes. Sie alle sind integrierter Teil des Systems der Tafeln. Eine weitere Parallele liegt darin, dass in beiden Fällen dasselbe Argument den Fokus auf strukturelle Fragen verdrängt: Es wäre unmoralisch, überschüssige Lebensmittel nicht an Arme zu verteilen. In Bezug auf Nahrungsmittel, die in Deutschland im Müll landen, wird oftmals zudem das Argument vorgebracht, dass dies den Druck auf die natürlichen Ressourcen weltweit und auf die globalen Nahrungsmittelpreise erhöhe. Hat man lange darüber gelächelt, wenn Kinder aufgefordert wurden, ihren Teller leer zu essen, da die Kinder in Afrika hungern, so kommt dieser Satz nun als ernstgemeinte Aufforderung daher. Was am familiären Essenstisch die Kinder sind, das sind in unserer Gesellschaft die Armen, die auf die Tafeln angewiesen sind. Sie essen, was bei den Tafeln auf den Tisch kommt. Sie sind die Verlierer in diesem Spiel um wirtschaftliche Macht und Profit, die abgespeist statt in ihren menschenrechtlichen Ansprüchen gestärkt werden.

Literatur

Ehm, Frithjof „Lebensmittelrecht und Völkerrecht in Deutschland. Ein Beitrag zum Recht auf Nahrung und Einwirkungen des Völkerrechts in das deutsche und europäische Lebensmittelrecht“ in ZLR – Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht, 4/2013, 12. August 2013, S. 395-414

Selke, Stefan „Schamland. Die Armut mitten unter uns“, Econ, 2013

Supermarkt-Initiative „Die Macht der Supermarktketten“, Oxfam, 2013, unter: www.oxfam.de/publikationen/macht-der-supermarktketten

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