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NSU-Op­feran­ge­hö­rige im Fokus polizei­li­cher Ermitt­lungen

Grundrechte-Report 2014, Seite 143

Im April 2013 hat der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Unterstützer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) vor dem Oberlandesgericht München (OLG) begonnen. Für die Angehörigen von Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodorus Boulgarides, Halit Yozgat und Mehmet Kubasik war der Prozessbeginn mit einer neuen Hoffnung auf Aufklärung verbunden: Denn die zentrale Frage, warum ausgerechnet ihre Väter, Söhne und Brüder zum Ziel des tödlichen Rassismus der Neonazis wurden, hatten die Abschlussberichte der Untersuchungsausschüsse im Bundestag (BT-UA) und im Bayerischen Landtag, die im Sommer 2013 vorgelegt wurden, nicht beantwortet. Dies gilt auch für die tödlichen Schüsse auf die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn – bei denen ihr Kollege Martin Arnold schwer verletzt wurde.

Das doppelte Leid der Opferan­ge­hö­rigen

Nach über 100 Verhandlungstagen am OLG wird vor allem ein Befund deutlich, der auch den Abschlussbericht des BT-UA zum NSU prägt: In einer für politisch rechts und rassistisch motivierte Gewalttaten nahezu klassischen Täter-Opfer-Umkehr waren sowohl die Mordopfer des NSU als auch ihre Angehörigen zum Teil über mehr als ein Jahrzehnt unter Generalverdacht gestellt worden. Im Bericht heißt es: „Der Ausschuss hat aus den vorliegenden Akten den Eindruck gewonnen, dass die meisten Ermittler sowohl bei der Ceska-Mordserie als auch bei den Sprengstoffanschlägen in Köln nicht nur den Schwerpunkt auf die Ermittlungsrichtung „Organisierte Kriminalität“ gelegt, sondern an diesem Schwerpunkt auch dann noch festgehalten haben, als Spur um Spur in diese Richtung ergebnislos blieb.) Den Angehörigen der Ermordeten sei durch die Ermittlungen weiteres Leid hinzugefügt worden, das vermeidbar gewesen wäre und „hätte vermieden werden müssen.“

Vor dem OLG haben inzwischen Angehörige die Ermittlungsmethoden der Strafverfolger detailliert beschrieben. Über Jahre hinweg waren mit den Ehefrauen und Kindern immer wieder Vernehmungen durchgeführt worden, in denen auch wissentlich falsche Anschuldigungen gegen die Mordopfer erhoben wurden. So hatten Ermittler nach der Ermordung von Enver Simsek seiner Ehefrau ein Foto einer blonden Frau vorgelegt und behauptet, es handele sich um seine Geliebte , mit der er zwei Kinder gehabt hätte. Die Witwe des 2005 in München ermordeten Schlüsseldienst-Inhabers Theodorus Boulgarides, hat ebenfalls davon berichtet, dass Polizeibeamte „Eifersucht“ als mögliches Mordmotiv unterstellt hätten – obwohl längst bekannt war, dass es sich um eine bundesweite Mordserie handelte, bei der immer dieselbe Waffe eingesetzt wurde.

Verdeckte Ermittler gegen Angehörige eingesetzt

Die Familie des neunten Mordopfers, des 21-jährigen Halit Yozgat aus Kassel, war ebenfalls Ziel massiver Ermittlungsmaßnahmen – wie beispielsweise dem Einsatz eines Verdeckten Ermittlers des Polizeipräsidiums Kassel, der das Vertrauen des Vaters gewinnen sollte. Mehrere Telefonanschlüsse der Familie wurden über Monate hinweg überwacht. Und weil das Landesamt für Verfassungsschutz behauptet hatte, der Vater würde bei Freitagsgebeten in einer Moschee in Kassel zur Blutrache an dem Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme aufgefordert – Temme hatte aufgrund seiner Anwesenheit am Tatort in Kassel zunächst unter Mordverdacht gestanden – ließ die Polizei ein knappes halbes Jahr nach der Tat die Telefone des Vaters erneut überwachen. Begründet wurde diese Maßnahme mit „Gefahrenabwehr“ und „den ethnisch-kulturellen Hintergründen der Opferfamilien“. Die Polizei stellte dann allerdings fest, dass die vermeintlichen Quellen des Verfassungsschutzes schlicht gelogen hatten: Der Vater hatte kein einziges Mal ein Freitagsgebet in der fraglichen Moschee besucht.  Die Angehörigen machten – wie viele andere Betroffene rechter und rassistischer Gewalt auch – zudem die Erfahrung, dass ihre Vermutungen, bei den Tätern könnte es sich um Neonazis oder Rassisten gehandelt haben, von den Polizeibeamten so wenig ernst genommen wurden, dass sie noch nicht einmal in den Vernehmungsprotokollen vermerkt wurden.

Der für die so genannte „BAO Bosporus“, die polizeiliche Sondereinheit, die die Ermittlungen in der Ceska-Mordserie koordinierte, zuständige Nürnberger Oberstaatsanwalt Kimmel räumte als Zeuge im bayerischen Ausschuss ein , dass zudem Verdeckte Ermittler als vermeintliche Journalisten und Detektive den Kontakt zu Angehörigen aufgenommen hatten.  Geleitet waren diese Ermittlungsmaßnahmen ganz offensichtlich von einer Prämisse, die der Leiter der BAO Bosporus, Wolfgang Geier, in einem Interview mit der Berliner Zeitung im Juli 2006 präzise formulierte: Ihm werde „bei den Befragungen nicht immer die Wahrheit gesagt. Oder nicht die ganze Wahrheit. Ich denke an Bekannte, Freunde und Verwandte der Opfer. Und ich bin mir nicht sicher, ob sie uns nichts sagen können oder nichts sagen wollen. Von dieser Seite kamen jedenfalls keine wichtigen Hinweise.“ Geier, so notiert die Berliner Zeitung, spreche von einer Parallelwelt, in die er geblickt habe und in der es kein Vertrauen zu den Behörden gäbe.

Yvonne Boulgarides, die Witwe von Theodorus Boulgarides, hat in einem Interview mit der Wochenzeitung ZEIT die Praxis der Verdeckten Ermittler – aber auch ihr Vertrauen zur Polizei – wie folgt beschrieben: Einige Monate nach dem Mord hätten zwei türkische Männer vor ihrer Wohnungstür gestanden, die behauptet hätten, Privatdetektive zu sein. Sie habe daraufhin in Panik die Polizei verständigt. Zunächst habe man ihr versprochen, einen Streifenwagen zu schicken – der allerdings nicht kam. Nach zwanzig Minuten habe sie wieder angerufen, da hätte es geheißen, sie könne die Männer ruhig einlassen, die Polizei wisse Bescheid. In dem anschließenden Gespräch hatten die Männer behauptet, für einen Nürnberger Verein türkischer Kleinunternehmer in der Mordserie zu ermitteln und stellten lauter Fragen, die die Polizei auch schon gestellt hatte. Sie habe danach nie wieder etwas von den vermeintlichen Detektiven gehört.

Auch das Polizeipräsidium Köln hatte nach dem Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße im Juni 2004 Verdeckte Ermittler in der Straße eingesetzt. Deren Abschlussbericht jedoch, wonach „Ursache und Ausgangspunkt des Sprengstoffanschlages nicht im Bereich Keupstraße in Köln zu finden“ seien, wurde ganz offensichtlich ignoriert. Der Inhaber des Frisör-Salons, vor dem die Nagelbombe gezündet worden war und der deshalb als Tatverdächtiger behandelt wurde, obwohl sein Bruder durch die Nägel schwer verletzt worden war, berichtet, er habe sich bis zur Selbstenttarnung des NSU im November 2011 „über sieben Jahre lang anhören müssen“, dass er „in mafiöse Machenschaften verstrickt“ sei. „Sie haben mich vor den Augen meiner beiden Kinder immer wieder abgeholt, um mich zu verhören.“

Darüber hinaus wurden minderjährige Kinder der Ermordeten – wie die damals 14-jährige Semiya Simsek sowie die damals 15-jährige Tochter von Theodorus Boulgarides kurz nach dem Verlust ihrer Väter ohne Beistand einer volljährigen Person ihres Vertrauens alleine vernommen. Und Geschwister der Mordopfer mussten – wie die Schwester des 2001 in Hamburg ermordeten Gemüsehändlers Süleyman Tasköprü – bei den Vernehmungen ihrer Eltern übersetzen.

Dringend notwendige Verän­de­rungen

Semiya Simsek, die Tochter des am 9. September 2000 ermordeten Blumengroßhändlers Enver Simsek hat die Auswirkungen der jahrelangen Verdächtigungen durch die Strafverfolger bei der zentralen Trauerfeier im Februar 2012 in Berlin mit dem Satz beschrieben: „In Ruhe Abschied nehmen und trauern, das konnten wir nicht.“ Die Folgen dieser ganz offensichtlich von rassistischen Vorurteilen und Stereotypen geprägten Ermittlungen: Sie verhinderten erfolgreiche Ermittlungen und die Familien vereinsamten unter dem Stigma vermeintlicher krimineller Kontakte, traumatisierte Kinder und junge Erwachsene brachen ihre schulischen und universitären Ausbildungen ab, Ehefrauen erkrankten unter der Last des Verlustes und der Verdächtigungen und einige Familien verarmten, während die Neonazis des NSU über zehn Jahre unbehelligt mordend durch Deutschland ziehen konnten.

Noch immer warten die Familien darauf, dass das Versprechen einer „umfassenden und schonungslosen Aufklärung“ durch Bundeskanzlerin Angela Merkel sich tatsächlich materialisiert – und sie beispielsweise erfahren, was die Neonazi-V-Leute von diversen Verfassungsschutzämtern im Umkreis des NSU wussten und welche Motive dem Schreddern von V-Mann-Akten im Rahmen der so genannten „Aktion Konfetti“ am 11.11.2011 im Bundesamt für Verfassungsschutz tatsächlich zugrunde liegen.

Dringend notwendig bleibt vielerorts eine Veränderung der polizeilichen Praxis bei der Verfolgung von rassistisch und politisch rechts motivierten Gewalttaten. „Warum soll es mich beruhigen, dass ich nun weiß, dass Neonazis für den Bombenanschlag in meiner Straße verantwortlich waren“, sagte eine Anwohnerin der Kölner Keupstraße. „Denn die Angst, dass so etwas wieder passieren kann, bleibt.“

Literatur

BT-Drs. 17/14600 Abschlussbericht des 2. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses
http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/146/1714600.pdf

Jana Simon „Das zweite Trauma“ in: DIE ZEIT vom 1. Dezember 2012

Semiya Simsek „Schmerzliche Heimat – Deutschland und der Mord an meinem Vater“, Berlin/2013

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