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Räume der Belie­big­keit - Hamburgs Polizei macht die Stadt gefährlich

Grundrechte-Report 2012, Seite 172

„Das Schanzenviertel, Hamburgs angesagtes Szeneviertel, versprüht mit vielen kleinen Boutiquen, Restaurants, Cafés und einer Partymeile einen ganz eigenen Charme“ – so bewirbt die Stadt Hamburg ihren „alternativen“ Stadtteil. Am Vorabend des 1. Mai 2011 wollte die Anwohnerin Claudia P. (Name geändert) eines dieser Restaurants besuchen und machte sich mit einigen Freundinnen gegen 23 Uhr auf den Weg in Richtung Schanzenbahnhof.

Wenige Stunden zuvor hatten in der Stadt mehrere Tausend Menschen für den Erhalt des seit 20 Jahren besetzten Kulturzentrums „Rote Flora“ und gegen den von ökonomischen Interessen bestimmten Umbau der Stadtstruktur demonstriert. Claudia P. durfte in dieser Nacht erfahren, wie auch die Polizei an der Umgestaltung der Hamburger Stadtstruktur mitwirkt. Im Anschluss an diese Demonstration und in Erwartung der viel beschworenen Mai-Krawalle hatte die Polizei ein großzügig bemessenes Areal, das außer dem Schanzenviertel auch den größten Teil von St. Pauli-Nord sowie Bereiche von Altona-Altstadt umfasste, zum „Gefahrengebiet“ erklärt.

Die Rechtsgrundlage für die Schaffung solcher „Gefahrengebiete“ findet sich seit 2005 einigermaßen versteckt im Hamburgischen Datenverarbeitungsgesetz der Polizei. Hiernach kann die Polizei Gebiete definieren, in denen sie verdachtsunabhängig Personen kurzfristig anhalten, befragen, ihre Identität feststellen und mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen kann. Das tat die Hamburger Polizei denn auch fleißig, und tatsächlich versprühte das Schanzenviertel an diesem Abend „einen ganz eigenen Charme”: Das Viertel war von Beamt/innen umringt und von Kontrollposten durchzogen. Nach Medienangaben waren diesem Wochenende nicht weniger als 2.500 Beamte und Beamtinnen im Einsatz und mehr als 1.200 Personen wurden kontrolliert. So war das normalerweise pulsierende Schanzenviertel an diesem Abend ein seltsam leergefegter Raum polizeilichen Ausnahmezustands.

Gefah­ren­ge­biete statt Gefah­ren­mo­mente

Auch Claudia P. musste auf ihrem kurzen Weg zum Restaurant eine Polizeikette passieren, doch zu ihrer Überraschung wurde sie nicht durchgelassen. Sie musste sich ausweisen und ihr Rucksack wurde durchsucht. Ein Beamter erklärte ihr, dass gegen sie ein Aufenthaltsverbot für das „Gefahrengebiet Schanze“ verhängt werde. Auch der Hinweis darauf, dass sie im „Gefahrengebiet Schanze“ wohne und daher den  Aufenthalt in diesem Gebiet nur schwerlich vermeiden könne, brachte keinen Erfolg; dies sei „wohl bekannt“, erwiderte der Beamte, „aber egal“. Sie habe auf dem schnellsten Weg nach Hause zu gehen und dürfe die Wohnung bis fünf Uhr morgens nicht mehr verlassen. Statt gemütlich im Restaurant zu sitzen, war Claudia P. damit auf einmal ohne erkennbaren Grund einer stundenlangen Ausgangssperre, einem faktischen Hausarrest unterworfen.

Doch damit nicht genug, denn diese Maßnahme genügte der Hamburger Polizei offenbar noch nicht. Ein anderer Beamter verkündete, Claudia P. werde zwecks praktischer Durchsetzung des Aufenthaltsverbots in Gewahrsam genommen. Und so fand sie sich bald in der Zelle einer Polizeiwache eingesperrt, bis morgens um drei Uhr. Eine mehrstündige Freiheitsentziehung, für die keinerlei erkennbare Gefahrenmomente zur Begründung angegeben wurden.

Tatsächlich war die polizeiliche Willkür im Schanzenviertel an diesem Abend eine plastische Demonstration, weswegen das Bundesverfassungsgericht unermüdlich darauf hinweist, dass belastende Maßnahmen hinreichend gesetzlich bestimmt sein müssen. Laut Gesetz muss den Menschen die Rechtslage erkennbar sein, damit sie ihr Verhalten daran ausrichten und sich auf mögliche Maßnahmen einstellen können. Das Hamburger Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei nennt als Voraussetzung für die Schaffung der Gefahrengebiete und die damit verbundenen Maßnahmen schlicht „konkrete Lageerkenntnisse“ der Polizei. Alles Nähere wird der Polizei überlassen, so dass sie über eine sehr weite und vage Ermächtigung verfügt, die es ihr ermöglicht, nach Belieben gegen unliebsame Personengruppen vorzugehen. Die Menschen in den „Gefahrengebieten“ haben keine Möglichkeit, diesen Maßnahmen zu entgehen: Die Polizei braucht weder einen konkreten Anfangsverdacht noch eine konkrete Gefahr. Es reicht, dass Menschen nur nach Hause oder in ihrem Viertel spazieren gehen möchten. Letztlich könnte im Gesetz der Begriff „Lageerkenntnisse“ auch durch die Worte „wie es der Polizei gerade gefällt“ ersetzt werden. In der konkreten Situation wäre dies kein Unterschied. Wieder einmal wurden der Exekutive neue Mittel an die Hand gegeben, die der Willkür Tür und Tor öffnen – so sie nicht sogar darauf angelegt sind, ein Ermessen einzuräumen, dass in dieser Weite exekutiver Willkür mindestens gefährlich nahe kommt.
Claudia P.’s Anwalt Carsten Gericke hält die Vorschriften des Hamburger Gesetzes über die Datenverarbeitung der Polizei auch unter anderen Aspekten für verfassungswidrig. Weil durch die wahllosen Personenkontrollen gespeichert werden kann, an welchem Ort sich eine kontrollierte Person mit welcher anderen Person aufgehalten habe, greife das Gesetz in das informationelle Selbstbestimmungsrecht ein. Und die Durchsuchung mitgeführter Sachen sei als „Eindringen in die private Sphäre eines Betroffenen im Weg des zweckgerichteten Ausforschens“ zu werten, so Anwalt Gericke.

No-go-areas

Seit 2005 wurden in Hamburg ungefähr 40 Gefahrengebiete kurzfristig und teils auch längerfristig eingerichtet (eine hervorragende kommentierte Übersicht findet sich unter http://www.grundrechte-kampagne.de/map/node). Einige Gebiete werden zu bestimmten Anlässen nur für kurze Zeit als “gefährlich” deklariert, andere für mehrere Jahre, und in ihrer Ausdehnung variieren die Gefahrengebiete von einer einzelnen U-Bahn-Station bis hin zu ganzen Stadtvierteln. So gilt beispielsweise das bahnhofsnahe Viertel St. Georg seit 1995 als Gefahrengebiet, so dass die Polizei hier leichter gegen Prostitution und die Drogenszene vorgehen kann. Allein in St. Georg wurden von Mitte 2005 bis März 2009 nicht weniger als 22.412 Personen angehalten, es wurden 29.840 Identitätsfeststellungen durchgeführt, 38.587 Platzverweise erteilt sowie gegen nicht weniger als 53.181 Personen Aufenthaltsverbote ausgesprochen.

Angesichts dieser imposanten Zahlen wird oft vorgebracht, die Polizei unterstelle in Gefahrengebieten alle Anwesenden einem Generalverdacht. Das ist so nicht richtig, denn tatsächlich sind in den verschiedenen Gefahrengebieten meist bestimmte Personengruppen im Fokus. Nach Angaben des Senats richten sich die Maßnahmen gegen verschiedenste polizeilich definierte Gruppen, wie beispielsweise Drogenabhängige und –dealer/innen, „Linksalternative“, alkoholisierte Jugendliche, Fußballfans oder im Fall von St. Georg Prostituierte. Eine dort lebende Frau wird also, wenn sie sich bedeckt kleidet, weniger kontrolliert werden, aber in „Gefahrengebieten“ zur Bekämpfung des Drogenhandels kann für dunkelhäutige Menschen jeder Weg zum Spießrutenlauf werden, denn erfahrungsgemäß wird Drogenkriminalität in Hamburg Menschen mit dunkler Hautfarbe zugeschrieben. Die Einrichtung solcher „Gefahrengebiete“ hat so zur Folge, dass Kontrollen in diesen Gebieten zu alltäglichen diskriminierenden Erfahrungen werden können. No-go-areas der neuen Art.

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