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Zuwan­de­rung: Kommunen verweigern Obdach

Grundrechte-Report 2014, Seite 125

Die Erweiterung der EU und die Freizügigkeitsrechte innerhalb der EU ermöglichen seit einigen Jahren die verstärkte Zuwanderung aus Südosteuropa nach Deutschland. Die Motive für die Wanderungsbewegungen sind vielfältig. Menschen, kommen zum Studium nach Deutschland, sie kommen, weil sie einen Arbeitsplatz in Deutschland gefunden haben, sie ziehen ihren hier schon länger lebenden Familienangehörigen nach. Es kommen auch Arbeitsmigranten, die der bitteren Armut in ihrem Heimatland entkommen wollen und nach Deutschland reisen, um hier Arbeit und Auskommen für ihre Familie zu finden.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise und die – wesentlich von der deutschen Regierung verfolgte und erzwungene – Austeritätspolitik als Antwort auf diese Krise, haben nicht nur die wirtschaftliche Lage in Südosteuropa verschlechtert und so zur Steigerung der Migration beigetragen. Sie haben auch die Migration aus Südosteuropa, die seit den 1990er Jahren wegen der sprachlichen und kulturellen Nähe zu einem erheblichen Anteil nach Italien und Spanien erfolgte, teilweise nach Deutschland umgelenkt.

Populismus schürt Abwehr­hal­tung

Insbesondere gegenüber Zuwanderern aus Rumänien und Bulgarien wird von Teilen der Medien und der Politik eine populistisch aggressive Angst- und Abwehrhaltung geschürt, die zum Teil verdeckt, teils offen diskriminierende Züge gegenüber Sinti und Roma trägt. Es wird eine „Einwanderung in die Sozialsysteme“ unterstellt, die Inanspruchnahme von Rechten wird als Missbrauch diffamiert; und es wird dramatisiert, indem der häufig kurzfristige oder zirkuläre Charakter der Migration unterschlagen und nur Zuwanderungs- aber nicht Abwanderungszahlen genannt werden. So standen im Jahr 2012 den 174.658 Zuwandern aus Rumänien und Bulgarien 103.930 Abwanderer aus diesen Ländern gegenüber: Im Saldo war also aus diesen beiden Ländern eine Zuwanderung von 70.728 Personen zu verzeichnen. Dem Bild von Elendsmigration und Einwanderung in die Sozialsysteme stehen Fakten entgegen: die Erwerbstätigenquote bei den erwerbsfähigen Bulgaren und Rumänen liegt bei ca. 80 Prozent und die Akademikerquote ist relativ hoch. Die Quote der arbeitslosen Bulgaren und Rumänen lag in Deutschland Ende 2012 bei 9,6 Prozent und damit nur knapp über dem gesamtdeutschen Schnitt und weit unter der Quote für alle in Deutschland lebenden Ausländer.

Nicht zu leugnen ist dennoch, dass es eine statistisch nicht bezifferbare Minderheit unter den Zugewanderten gibt, die unter äußerst schwierigen und elenden Bedingungen in Deutschland lebt. Die zugewanderten Bulgaren und Rumänen sind vor allem aus zwei Gründen stärker als andere Zuwanderergruppen hiervon betroffen: Bis Ende 2013 besaßen sie nur eine eingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit und wurden deshalb oft in prekäre Selbstständigkeit oder ungesicherte Arbeitsverhältnisse, in Schwarzarbeit, oft als Tagelöhner, gedrängt. Oder sie konnten überhaupt kein Auskommen finden. Des weiteren findet diese Zuwanderergruppe sehr häufig keinen Zugang zum Sozialleistungssystem (v.a. SGB II und SGB XII), obwohl viele von ihnen einen Anspruch hätten. Sie, häufig aber auch Mitarbeiter sozialer Dienste, kennen ihre Rechte und Ansprüche nicht und machen sie folglich nicht geltend. Schlimmer noch: statt offensiv über die sozialen Rechte aufzuklären und die Inanspruchnahme zu erleichtern (wie es z.B. §§ 13ff SGB I fordern) und damit der Verelendung entgegenzuwirken, herrscht bei den zuständigen Verwaltungen eine Haltung der Ignoranz und der Verweigerung der Umsetzung der geltenden Rechtlage vor (vgl. Katharina Stamm in diesem Band, S. 182 ff.).

Unmensch­liche Lebens­be­din­gungen

Ohne den Zugang in die sozialen Sicherungssysteme (Lohnersatzleistungen, Krankenversicherung) geraten viele dieser Migranten erst recht in äußerst prekäre Lebenssituationen. Ihr Arbeitseinkommen reicht nicht zum Leben aus, sie werden, was immer wieder vorkommt, im informellen Sektor um ihren Lohn geprellt oder sie finden überhaupt keine Arbeit. In dieser Situation kann Wohnraum oft nur zu unmenschlichen Bedingungen organisiert werden. Die Betroffenen leben nicht selten ohne vertragliche Absicherung in überbelegten Wohnungen, auf Dachböden oder in Kellern ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen. Sie übernachten in Autos oder aber sie leben sogar ohne jedes Obdach auf der Straße oder in improvisierten Biwaks in den Randzonen der Städte.

Obdachlosigkeit, ein Leben ohne jede Unterkunft, gefährdet die Gesundheit, das Leben und die Möglichkeit, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Damit sind elementare Rechte, Rechte, die durch das Grundgesetz geschützt sind, bedroht. Die Polizei- bzw. die Ordnungsbehörden sind verpflichtet, unfreiwilliger Obdachlosigkeit durch die Vermittlung in eine Unterkunft abzuhelfen, weil die „öffentliche Sicherheit und Ordnung“ (Sicherheits- und Ordnungsgesetze der Länder) gefährdet ist, wenn die grundrechtlich geschützten Lebensgüter Einzelner bedroht sind. In der Rechtsprechung hat sich diese Beurteilung seit langem durchgesetzt. Grundrechtsträger sind alle Menschen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit oder ihres sozialrechtlichen Status. Zuständig für die Unterbringung sind die Kommunen, in denen sich der jeweilige Obdachlose tatsächlich aufhält. Die Unterbringung hat solange zu erfolgen, wie die Gefährdung besteht bzw. bis Selbsthilfe oder andere Abhilfe greift.

Fast alle Kommunen in Deutschland entziehen sich jedoch gegenüber Bulgaren und Rumänen dieser Verpflichtung. Sie entziehen sich stillschweigend oder mit der falschen Begründung, sie seien zur Unterbringung nur verpflichtet, wenn sozialrechtliche Ansprüche auf existenzsichernde Leistungen vorhanden seien.

Einige Kommunen bieten statt einer Unterbringung eine Fahrkarte „ins Heimatland“ an oder beschränken die Unterbringung auf wenige Tage. Andere ermöglichen den Obdachlosen ohne „sozialrechtliche Ansprüche“ eine Unterbringung in den nur in den Wintermonaten zusätzlich eingerichteten niedrigschwellig zugänglichen und mit schlechteren Standards versehenen „Winternotprogramm“ (Hamburg) bzw. „Kältehilfe“ (Berlin). Andere öffnen spezielle Substandardunterkünfte, wenn die Temperatur unter den Gefrierpunkt sinkt (München 2012/2013).

Die hier verknappt dargestellte Rechtslage zur Unterbringungsverpflichtung findet sich ausführlich und wohl begründet in Rechtskommentaren, ist in der Rechtsprechung entwickelt und bestätigt, findet sich in verschiedenen Empfehlungen und Handreichungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG-W), dem Zusammenschluss der in diesem Feld arbeitenden gemeinnützigen und öffentlich-rechtlichen Sozialorganisationen, Träger und Verbände.

Nach aktuellem Kenntnisstand aber gibt es in Deutschland keine Kommune, die ihrer Pflicht zur Unterbringung unfreiwillig Obdachloser unabhängig von Staatsangehörigkeit und sozialrechtlichen Ansprüchen vollständig nachkommt.

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