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UN-So­zi­al­pakt: Menschen­rechte zweiter Klasse? - UN-Kritik an der Bundes­re­pu­blik

Grundrechte-Report 2012, Seite 176

Die im Mai 2011 verabschiedeten Ermahnungen und Empfehlungen des UN-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sind deutlich: Die Bundesrepublik hat bei den Menschenrechten erheblichen Nachholbedarf. So könnte die für „Hartz IV“-Empfängerinnen bestehende Pflicht, jede zumutbare Arbeit anzunehmen, gegen Menschenrechte verstoßen. Die deutsche Außen- und Entwicklungspolitik steht teilweise im Widerspruch zu menschenrechtlichen Verpflichtungen – sowohl mit ihren Ausfuhrsubventionen für die Landwirtschaft als auch mit der Unterstützung deutscher Unternehmen im Ausland. Migrantinnen werden beim Zugang zu Bildung und Arbeit menschenrechtswidrig mittelbar diskriminiert, Asylbewerber leben unter menschenunwürdigen Bedingungen. Hohe Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland, ungleiche Karrierechancen von Männern und Frauen, fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen, menschenrechtswidrige Streikverbote für Beamte – die Zahl der Mahnungen ist groß, das Gewicht teilweise erheblich.

In der Theorie sind die Menschenrechte universell, unveräußerlich und unteilbar. Die Würde des Menschen ist nur dann gesichert, wenn ihm alle Rechte gleichermaßen zukommen. Wer obdachlos ist und jeden Tag hungrig einschläft und aufwacht, wird die Einschränkung seiner Berufsfreiheit durch Bettelverbote kaum vor Gericht bringen. Und das Eigentumsrecht hat für ihn oder sie gerade einmal Platz in ein paar Plastiktüten oder auf einem Handwagen. Entsprechend ist seit Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 geklärt, dass politische Freiheitsrechte einerseits und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte andererseits gleichwertig sind und nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. 1966 wurden diese Rechte in zwei Menschenrechtsverträgen konkretisiert und mit organisatorischen sowie verfahrensrechtlichen Instrumenten ergänzt. 1976 traten der so entstandene UN-Sozialpakt und der UN-Zivilpakt in Kraft; die Bundesrepublik hat beide Verträge ratifiziert.

Dennoch spricht die in Deutschland wie den meisten westlichen Staaten vorherrschende politische und journalistische Praxis eine andere Sprache: Gewöhnlich werden nur die Freiheitsrechte als Menschenrechte erwähnt; eine Verletzung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte wird im öffentlichen Diskurs kaum je als Menschenrechtsverletzung gebrandmarkt. Eine verkehrte Welt, führt man sich vor Augen, dass in der UN-Charta wie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte teilweise sogar zwischen Menschenrechten einerseits und Grundfreiheiten andererseits sprachlich differenziert wird: Als Menschenrechte im engen Sinn sollten danach vor allem die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte gelten, die einen Teilhabe- oder Leistungsanspruch der Menschen begründen.

Die ungleiche Wahrnehmung der Menschenrechte hat politische Gründe, ist aber besonders auch daraus zu erklären, dass zu ihrem Schutz ganz verschiedene Instrumente zur Verfügung stehen. Abwehrrechte gegen den Staat lassen sich in der Regel unproblematisch in Gerichtsverfahren vorbringen. Solche Rechte hingegen wie die auf Arbeit, soziale Sicherheit, einen angemessenen Lebensstandard inklusive Ernährung, Bekleidung und Wohnung, Gesundheit oder Bildung bedürfen zu ihrer vollen Entfaltung stets gesetzlicher und organisatorischer Regelung. Diese Rechte sind u. a. im UN-Sozialpakt verankert. Hier fehlt es in Deutschland wie in vielen anderen Ländern am Wissen, dass politische Kämpfe um einfachgesetzliche Ansprüche gegen Staat und Private der Realisierung von Menschenrechten dienen. Diese werden gewöhnlich gar nicht erst in Betracht gezogen – obwohl sie nach den Menschenrechtsgrundsätzen des Bundesverfassungsgerichts zur Auslegung des einfachen Rechts als auch der im Grundgesetz verbürgten Grundrechte herangezogen werden müssten.

Nützliche Schat­ten­be­richte der NGOs

In seiner Sitzung vom 2. bis 20. Mai 2011 behandelte der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte des Wirtschafts- und Sozialrates der UN den 5. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland sowie zwölf „Schatten“- oder Parallelberichte verschiedener Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftlicher Bündnisse. In seinen „abschließenden Bemerkungen“ – dem offiziellen Bericht – erkannte er kaum positive Entwicklungen der sozialen Menschenrechtspraxis in Deutschland. Einige Gründe hierfür sind gleich am Anfang der im Bericht aufgelisteten „hauptsächlichen Besorgnisse“ genannt: Viele der Empfehlungen des vorausgegangenen, 2001 verabschiedeten letzten Berichts seien nicht umgesetzt worden. Der Sozialpakt spiele in der gerichtlichen Praxis keine Rolle. Die Kompetenzen des Deutschen Instituts für Menschenrechte seien zu stark eingeschränkt. In den eingangs teilweise aufgeführten insgesamt 34 Punkten äußert der Ausschuss entsprechende Besorgnisse und Empfehlungen. Schwerpunkte sind dabei u. a. Kritik an den Hartz-Gesetzen. So fordert der Ausschuss konkrete Strategien und Aktionspläne gegen Arbeitslosigkeit in besonders betroffenen Gebieten, die Freiheit von Zwang bei der Annahme von Arbeitsstellen und die Sicherstellung eines angemessenen Lebensunterhalts bei der sozialen Sicherheit. Hinsichtlich der Außenhandels- und Entwicklungspolitik wird eine Beachtung und Förderung der Menschenrechte gefordert. Bisher würden wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte bei der Ausfuhr von Lebensmitteln, Investitionshilfen und auch der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit nicht hinreichend beachtet.

Eine mangelhafte Umsetzung des Sozialpaktes lässt sich nicht nur dem UN-Ausschuss-Bericht entnehmen, er wird auch in den Schattenberichten der Menschenrechtsorganisationen deutlich. So weist der Bericht der 20 Organisationen umfassenden „Allianz für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in Deutschland“ auf eine „Föderalismus-Falle“ hin: Die Kompetenzteilung zwischen Bund und Ländern bei der Umsetzung des Paktes führe dazu, dass der Bund sich an vielen Stellen seiner Verantwortung entziehe. Zwischen Bund und Ländern bestehe keine hinreichende Verzahnung. Zudem fehle es an einem politischen und finanziellen Rahmen für Menschenrechtsbildung, -beratung und -politik, um den Sozialpakt mit Leben zu füllen.

Den Parallelberichten der NGOs sind sicherlich auch der Umfang und der kritische Charakter der Ausschuss-Empfehlungen zu verdanken. Insofern ähnelt der Bericht einem gerichtlichen Gutachten über die Vertragsumsetzung. Berücksichtigt wird nur, was von Beteiligten ins Verfahren eingebracht wurde – aber das ist nicht wenig. Die beteiligten Nichtregierungsorganisationen zeigen, dass jedenfalls die zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Sozialpakt und den Instrumenten zu dessen Umsetzung quantitativ und qualitativ zugenommen hat. So gehen einige Schattenberichte auch auf die an alle Vertragsstaaten gerichteten sogenannten Generellen Bemerkungen des Ausschusses ein und prüfen anhand dieser Bemerkungen die Einhaltung der Menschenrechtsbestimmungen – eine Vorgehensweise, die vom Ausschuss auch für die offiziellen Staatenberichte eingefordert wird, von der Bundesregierung aber nicht beachtet wurde.

Das Zusatz­pro­to­koll muss ratifiziert werden

Die jedenfalls kurzfristig vorhandene Medienaufmerksamkeit nach Verabschiedung der Empfehlungen zeigt, dass die Öffentlichkeit zunehmend sensibilisiert wird. Hinter den Anforderungen an eine ernst zu nehmende Menschenrechtspraxis bleibt die Bundesrepublik jedoch weiterhin zurück. Hier bedarf es breiter öffentlicher Auseinandersetzung, einer ausführlichen Behandlung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte in der Juristenausbildung sowie einer Regelprüfung, ob in der Gesetzgebung die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte beachtet werden. Überfällig ist auch die Zeichnung und Ratifizierung des Vertrags über das einem Gerichtsschutz ähnelnde Individual- und Gruppenbeschwerdeverfahren zum Sozialpakt. Denn die Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts zeigt: Die internationalen Menschenrechtsverträge werden de facto nur dort von der Rechtsprechung berücksichtigt, wo internationale Gerichte den nationalen Spruchkörpern Menschenrechtsverletzungen vorwerfen.

Literatur

www.institut-fuer-menschenrechte.de

Finckh, Ulrich, Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sind Menschenrechte, in: Grundrechte-Report 2008, S. 20-23.

Kutscha, Martin, Völkerrecht auf den Kopf gestellt. Das Bundesverwaltungsgericht billigt Studiengebühren, in: Grundrechte-Report 2010, S. 202-205.

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