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Verfas­sungs­wid­rige NATO-­Nu­klea­r­po­li­tik? - Nach dem Richter­spruch des Inter­na­ti­o­nalen Gerichts­hofs

Dieter Deiseroth

Grundrechte-Report 1998, S. 238-245

Der Richterspruch

Am 8. Juli 1996 hat der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag auf der Grundlage von Art. 96 der UN-Charta der UN-Generalversammlung ein Rechtsgutachten erstattet, das die ihm vorgelegte Rechtsfrage nach der Völkerrechtsmäßigkeit der Androhung oder des Einsatzes von Atomwaffen dahin beantwortet, „daß die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen grundsätzlich („generally“) gegen diejenigen Regeln des Völkerrechts verstoßen würden, die für bewaffnete Konflikte gelten, insbesondere gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts“.

Der Gerichtshof sah sich allerdings nicht in der Lage, positiv oder negativ definitiv festzustellen, ob der Einsatz oder die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen in einer für einen Staat existenzgefährdenden extremen Notwehrsituation – ausnahmsweise – rechtmäßig oder rechtswidrig sei. Im Wortlaut: „Allerdings kann der Gerichtshof angesichts der gegenwärtigen Lage des Völkerrechts und angesichts des ihm zur Verfügung stehenden Faktenmaterials nicht definitiv die Frage entscheiden, ob die Androhung oder der Einsatz von Atomwaffen in einer extremen Selbstverteidigungssituation, in der die Existenz eines Staates auf dem Spiele stünde, rechtmäßig oder rechtswidrig wäre.“

Geltende NATO-Nukleardoktrin und IGH-Entscheidung

Die Bundesregierung hat in einer 1996 veröffentlichten Antwort auf eine parlamentarische Anfrage im Deutschen Bundestag erklärt:

„Die Bundesregierung sieht sich durch das Gutachten in ihrer Auffassung bestärkt, daß bei Androhung des Einsatzes oder Einsatz von Nuklearwaffen Art. 2 Abs. 4 und Art. 51 der UN-Charta – die Regeln der Verhältnismäßigkeit sowie die auf alle Waffen anwendbaren Regeln des Humanitären Völkerrechts – zu beachten sind. Das Gutachten zeigt auch, daß der Gerichtshof zur Kenntnis nimmt, daß die Staatenpraxis noch nicht zu einem generellen Verbot von Nuklearwaffen gelangt ist. Es bezeichnet folgerichtig den Besitz von Nuklearwaffen durch die Kernwaffenstaaten und die zugrundeliegende Abschreckungsstrategie nicht als völkerrechtswidrig.

Die geltende Verteidigungsstrategie des Nordatlantischen Bündnisses bleibt daher – auch im Lichte des IGH-Gutachtens – mit dem Völkerrecht vereinbar.“ (13/5906).

Ergänzend hat die Bundesregierung gesagt, sie teile „die Auffassung des IGH, das gegenwärtige Völkerrecht kenne kein Verbot der Androhung oder des Einsatzes von Nuklearwaffen in einem extremen Fall der Selbstverteidigung, in dem die Existenz des Staates auf dem Spiel steht“ (ebd.).

Auf der Tagung des NATO-Rates 1996 in Brüssel ist mit Zustimmung des deutschen Verteidigungsministers beschlossen worden:

„Wir bekräftigen, daß die nuklearen Kräfte der Bündnispartner weiterhin eine einzigartige und essentielle Rolle in der Allianzstrategie der Kriegsverhinderung spielen. Von neuen Mitgliedern, die in jeder Beziehung Vollmitglieder der Allianz sein werden, wird erwartet, daß sie das Konzept der Abschreckung sowie die essentielle Rolle unterstützen, die die Nuklearwaffen in der Allianzstrategie spielen. Die Erweiterung der Allianz wird keine Änderung im gegenwärtigen Nukleardispositiv der NATO erforderlich machen, und daher haben die NATO-Länder nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlaß, nukleare Waffen auf dem Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren, noch sehen sie die Notwendigkeit, das NATO-Nukleardispositiv oder die Nuklearpolitik in irgendeinem Punkt zu verändern – und sehen wir dazu auch in Zukunft keine Notwendigkeit.“ (abgedruckt in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 105 vom 20. 12. 1996, S. 1136)

Die geltende NATO-Nukleardoktrin hat die deutsche Bundesregierung wie folgt beschrieben:

„Die eurogestützten Nuklearwaffen haben weiterhin eine wesentliche Rolle in der friedenssichernden Gesamtstrategie des Bündnisses … Deshalb wird die Bundesregierung … nicht für einen Verzicht auf die Option der Allianz eintreten, ggf. Nuklearwaffen als erste einzusetzen. … Die Erklärung des Verzichts auf die Möglichkeit eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen durch das (NATO-)Bündnis würde die Kriegsverhütungsstrategie aushöhlen.“ (vgl. BT-Drucks. 12/4766).

Die Bundesregierung und die NATO

– beharren somit in ihrer Nukleardoktrin auch für die Zukunft auf der Notwendigkeit von Atomwaffen und weisen dieser auf unabsehbare Zeit eine „wesentliche Rolle“ in der Gesamtstrategie des Bündnisses zu,

– lehnen nach wie vor jeden Verzicht auf einen möglichen Einsatz von Atomwaffen in einem militärischen Konflikt strikt ab,

– behalten sich sogar den möglichen atomaren Ersteinsatz von Atomwaffen vor.

Bundesregierung und NATO können sich nicht auf die zitierte sogenannte „Notwehr-Klausel“ im IGH-Rechtsgutachten berufen. Völkerrechtlich „sicher“ und „geklärt“ ist die grundsätzliche Völkerrechtswidrigkeit eines Einsatzes und der Androhung eines Einsatzes von Atomwaffen. Ein „generally no“ ist eben ein „grundsätzliches Nein“ und nicht ein „grundsätzliches Ja“.

Nuklearwaffeneinsätze sind, wie der IGH festgestellt hat, nach dem geltenden Völkerrecht allenfalls insoweit noch nicht verboten, als es um eine „extreme Selbstverteidigungssituation (geht), in der die Existenz eines Staates auf dem Spiele stünde“. In der geltenden und von der Bundesregierung mitgetragenen NATO-Nukleardoktrin ist von einer solchen Beschränkung auf den Fall „einer extremen Selbstverteidigungssituation, in der die Existenz eines Staates auf dem Spiel stünde“, nirgendwo die Rede. Die NATO droht den Einsatz von Atomwaffen nach wie vor nicht „nur“ für den Fall an, daß das Überleben eines ihrer Atomwaffenstaaten (oder Mitgliedsstaaten) „auf dem Spiele“ steht. Vielmehr sieht die NATO-Nukleardoktrin (wie oben zitiert) weiterhin sogar die „Möglichkeit eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen durch das (NATO-)Bündnis“ vor.

Jedenfalls soweit die NATO-Nukleardoktrin die Androhung und den Einsatz von Nuklearwaffen nicht auf den Fall der „extremen Selbstverteidigungssituation, in der die Existenz eines Staates auf dem Spiele stünde“, beschränkt, verstößt sie gegen den Richterspruch des IGH.

Rechtliche Verbindlichkeit des IGH-Richterspruchs

Die Bundesregierung hat in ihrer bereits zitierten Stellungnahme gegenüber dem Deutschen Bundestag die Auffassung vertreten, daß Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs weder nach der UN-Charta und dem IGH-Statut noch nach allgemeinem Völkerrecht rechtlich verbindlich seien (BT-Drucks. 13/5906).

Der vom Internationalen Gerichtshof 1996 verkündete Richterspruch ist zwar nicht in der Form eines Beschlusses oder eines Urteils ergangen. Es handelt sich jedoch um ein nach Art. 96 UN-Charta erstattetes Rechtsgutachten („advisory opinion“).

Das Bundesverfassungsgericht hat durch sein aus seinen beiden Senaten bestehendes „Plenum“ in seinem Beschluß vom 8. November 1952 mit 20 zu 2 Stimmen zur Bindungswirkung von ihm (auf der Grundlage des damaligen § 97 BVerfGG) erstatteter Rechtsgutachten entschieden:

„Wenn ein Gericht durch Gesetz zur Erstattung von Rechtsgutachten berufen wird, so handelt es auch bei dieser Tätigkeit als Gericht. Das Gutachten beruht dann ebenso wie ein Urteil des Gerichts auf Gesetz und Recht; es ist nicht eine bloße Zusammenfassung der Meinungen einzelner Richter, sondern es geht vom Gericht als solchem aus und hat dessen Autorität … Obwohl also das Gutachten nicht die rechtliche Wirkung eines Urteils hat, ist es doch seinem materiellen Gehalt nach einem Urteil gleichzustellen.“ (vgl. BVerfGE 2, 79ff, (87, 89)

Nichts anderes kann für die vom IGH auf der Grundlage von Art. 96 der UN-Charta erstatteten Rechtsgutachten gelten. Mit seinen nach Maßgabe der Verfahrensvorschriften des IGH-Statuts erstatteten Rechtsgutachten beantwortet der IGH als das dafür nach der UN-Charta zuständige Gericht die ihm gestellten Fragen nach dem geltenden Völkerrecht.

Das IGH-Rechtsgutachten und Art. 25 GG

Auf die ihr im Deutschen Bundestag gestellte Frage, ob das Rechtsgutachten des IGH über Art. 25 GG nach ihrer Auffassung innerstaatliche Rechtswirkungen zum Beispiel für die Gestaltung der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik entfalte, hat die Bundesregierung in der bereits zitierten Bundestags-Drucksache knapp und eindeutig geantwortet: „Nein“ (BT-Drucks. 15/5906).

In der Bundesrepublik Deutschland sind nach Art. 25 GG die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ „Bestandteil des Bundesrechtes“, das vom Gesetzgeber, von der Regierung, der Verwaltung und den Gerichten strikt zu beachten ist (Art. 20 Abs. 3 GG); sie „gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebiets“.

Zu den „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ im Sinne des Art. 25 GG gehört nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit Ausnahme des Völkervertragsrechts, soweit in ihm nicht völkergewohnheitsrechtliche Regeln kodifiziert sind, das gesamte geltende Völkerrecht, insbesondere das Völkergewohnheitsrecht sowie die von den „civilized nations“ anerkannten allgemeinen Grundsätze des Rechts (so auch die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, vgl. u. a. BVerfGE 15, 34f; E 46, 342 ff).

Der IGH hat in seinem Rechtsgutachten darauf hingewiesen, daß jedenfalls die folgenden Regeln des sogenannten humanitären (Kriegs-)Völkerrechts als geltendes Völkergewohnheitsrecht anzusehen und zu beachten seien, die aber bei einem Einsatz von Nuklearwaffen nicht eingehalten werden könnten:

– Jeder Einsatz von Waffen muß zwischen kämpfender Truppe (Kombattanten) und der Zivilbevölkerung unterscheiden.

– Bei jedem Waffeneinsatz müssen unnötige Grausamkeiten und Leiden vermieden werden.

– Unbeteiligte und neutrale Staaten dürfen bei einem Waffeneinsatz nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.

Damit stellen jedenfalls diese Regeln „allgemeine Regeln des Völkerrechts“ im Sinne des Art. 25 GG dar.

Der IGH hat daraus den Schluß gezogen: „Aus den oben … erwähnten Anforderungen ergibt sich, daß die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen generell gegen diejenigen Regeln des Völkerrechts verstoßen würden, die für bewaffnete Konflikte gelten, insbesondere gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts.“

Angesichts dessen läßt sich kaum daran zweifeln, daß auch diese Feststellung des IGH zu den „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ im Sinne des Art. 25 GG zu zählen ist. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind eben die Regeln des Völkergewohnheitsrechts „kraft Art. 25 Satz 1 GG als solche mit ihrer jeweiligen völkerrechtlichen Tragweite Bestandteil des objektiven, im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland geltenden Rechts“ (vgl. BVerfGE 46, 403f).

Nach der Rechtsprechung des BVerfG sind die Träger der deutschen öffentlichen Gewalt gemäß Art. 25 GG gehalten, alles zu unterlassen, was einer unter Verstoß gegen allgemeine Regeln des Völkerrechts vorgenommenen Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger im Geltungsbereich des Grundgesetzes Wirksamkeit verschafft (vgl. BVerfGE 75, 19). Ferner sind sie gehindert, an _einer gegen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verstoßenden Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger bestimmend mitzuwirken (vgl. dazu BVerfG, ebd.). Dies gilt auch für das Verhalten der deutschen Bundesregierung in den Gremien der NATO. Die Mitwirkung deutscher Stellen innerhalb der NATO ist nicht von den Bindungen des Grundgesetzes freigestellt (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG). Mithin ist jede deutsche Bundesregierung innerhalb der NATO-Gremien durch Art. 25 GG gehindert, an einer gegen die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ verstoßenden „Nuklearpolitik“ mitzuwirken, und hat alles zu unterlassen, was hinsichtlich der NATO-Nuklearpolitik mit den vom IGH herausgearbeiteten „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ unvereinbar ist. Für ein verfassungskonformes Verhalten der zuständigen deutschen Organe ergibt sich daraus ein großer aktueller Handlungsbedarf.

Literatur:

Die Friedenswarte (hrsg. von Knut Ipsen, Volker Rittberger, Christian Tomuschat), Heft 3/1996, mit dem engl. Text des IGH-Gutachtens und Beiträgen von Richard Falk, Michael Bothe, Harald Müller, Camille Grand.

Hartmut Hilgenberg, Das Gutachten-Verfahren vor dem IGH zur völkerrechtlichen Zulässigkeit von A-Waffen, Saarbrücken, 1996.

IALANA, Hrsg., Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. Dokumentation – Analysen – Hintergründe. Mit einem Geleitwort von Bundesverfassungsrichter a. D. Helmut Simon, Münster 1997.

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