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Das Grundrecht auf Bildung wird verletzt. Folgerungen aus der PISA-Studie

Dieter Wunder

Grundrechte-Report 2002, S. 90-94

Das Grundrecht auf Bildung – gestützt insbesondere auf Art. 2 und 3 GG – wird in Deutschland eklatant verletzt. Dieses unangenehme Hauptergebnis der von der OECD initiierten, im Dezember 2001 veröffentlichten Untersuchung PISA (Programme for International Student Assessment) wird nun einer breiten Öffentlichkeit ins Bewusstsein gerückt. Zwar ist es für Fachleute nicht neu, dass soziale Benachteiligungen trotz dreißigjähriger bildungspolitischer Bemühungen nach wie vor den Bildungsweg junger Menschen aus den Unterschichten (wie man früher sagte) oder dem Arbeitermilieu (so PISA) entscheidend bestimmen; aber dass Deutschland in der Überwindung solcher Benachteiligungen deutlich schlechter ist als viele andere OECD-Länder, war überraschend und bestürzend.

Die Ursachen für dieses Versagen sind vielfältig. Das politische Klima der letzten zwanzig Jahre war dem Thema Chancengleichheit abträglich; sie galt als sozialer Luxus, verankert allein bei einer überholten Linken. Bildungspolitisch hatten sich die Konservativen – anders als in vielen Nachbarländern – auf die traditionelle Schulstruktur festgelegt: Die Expansion von Gymnasium und Realschule befriedigte die Bedürfnisse der aufstiegsbewussten Mittelschichten. Die Gesamtschule wurde so wider Willen zur vierten Schulart, die sich auf sozial Benachteiligte, Problemfälle und/ oder pädagogisch engagierte Eltern beschränkte und damit zwar eine wichtige Aufgabe erfüllte, aber das gemeinsame Lernen in einer heterogenen Gruppe, eine Grundvoraussetzung zur Überwindung von Nachteilen, nicht ermöglichte. Die meisten Lehrkräfte haben sich der Realität angepasst: Das Denken in Begabungstypen ist nach wie vor verbreitet; Unterricht in homogenen, insbesondere lernwilligen Gruppen gilt als leichter denn anderes; die Erziehungsaufgabe wird hintangestellt. Man versäumte die mühsame Arbeit an einer Pädagogik der Heterogenität; die Hochschulen gaben Lehrpersonen dafür kaum Hilfen.

Eine Gruppe aus dem Arbeitermilieu – die Kinder von Zuwanderern – ist besonders stark benachteiligt. Die deutsche Gesellschaft hat kein Konzept des Zusammenlebens mit den Zuwanderern entwickelt, demzufolge hat die Mehrheit bis vor kurzem die Probleme der Jugendlichen zwar als bedauernswert, aber nicht als ihr eigenes Problem empfunden. Dass Deutschkenntnisse eine Voraussetzung für das Leben in Deutschland sind, wusste man, aber es wurde wenig getan, dies auch durchzusetzen. Weiter gehende Forderungen wie die, Einwanderern das Einleben durch vielfältige Maßnahmen zu erleichtern, ihnen aber zugleich Wertschätzung für ihre Herkunft zu sichern, zum Beispiel auch durch die Förderung ihrer Sprachfähigkeit in der eigenen Sprache, galten als weltfremd.

Die Folgerungen aus PISA zu ziehen wird nicht einfach sein, denn das Bildungssystem ist strukturell konservativ: Bis Reformen greifen, in der Organisation, im Unterricht, im Umgang der Lehrpersonen mit Jugendlichen, wird viel Zeit vergehen. Der Föderalismus verführt zudem Kultusminister, Fehler jeweils bei den anderen Ländern zu suchen, sich selbst aber bestätigt zu sehen: Da wird man die deutsche PISA-Studie über den Ländervergleich (PISA-E) im Herbst 2002 abwarten müssen.

Die Verletzung des Grundrechts auf Bildung kann nur dann überwunden werden, wenn sich unter Politikern ein Konsens über das Ziel Chancengleichheit als vorrangige Aufgabe des Bildungssystems bildet. Da wird eine Ideologie über Bord zu werfen sein, die die Förderung von Kindern und Jugendlichen allein der Familie anheim gibt – bewusst übersehend, dass viele Eltern überfordert sind. Eliteförderung darf nicht auf Kosten der Benachteiligten erfolgen; sie baut vielmehr auf einer breiten Förderung aller Kinder auf. Solidarität mit den ‹Schwachen› muss ein Programm sein, das sich jede Partei zu Eigen macht. So wie geschlechtsbezogene Benachteiligungen heute durch das Programm Gender mainstreaming überwunden werden sollen, so brauchen wir operationalisiert und kontrolliert ein verpflichtendes Programm Chancengleichheit, das Jahr für Jahr überprüft wird. Einige konkrete Folgerungen scheinen klar zu

sein:

1. Die vorschulische Erziehung muss Bildungsaufgaben übernehmen – wie in den meisten OECD-Staaten. Kinder mit sprachlichen Defiziten in der deutschen Sprache müssen besondere Hilfen erhalten. 2. Kinder und Jugendliche brauchen mehr Zeit zum Lernen; Ganztagsschulen sind ein wichtiger Schritt hin zu mehr Chancen für alle. Dabei muss Lernen, nicht Aufsicht und ‹Betreuung› im Vordergrund stehen – so berechtigt Forderungen der Arbeitsmarkt- und Frauenpolitik auf ganztägige Betreuung für Kinder sind: Kinder brauchen Unterstützung beim Lernen und haben Anspruch auf zusätzliche Angebote. 3. Wir brauchen eine Pädagogik der Heterogenität. Lehrpersonen müssen ihren Blick für Unterschiede schärfen und dementsprechend unterschiedliche Lehrmethoden entwickeln, bis hin zur Individualisierung des Unterrichts. 4. Unterschiedliche Kinder brauchen unterschiedliche Angebote. Jede Einheitlichkeit ist schädlich. Solche vielfältigen Angebote sind allerdings nicht drei Schulformen zuzuordnen, wie viele glauben, denn diese nivellieren ihrerseits. Sie sind vielmehr als Angebote innerhalb einer Schule zu entwickeln; ideal ist eine Gesamtschule, die für alle Schüler, nicht nur ausgelesene, da ist. 5. Benachteiligte bedürfen besonderer Förderung. Schulen in sozialen Brennpunkten müssen besser ausgestattet werden als andere. Die besten Lehrer sind dort gefragt. 6. Für besonders Benachteiligte ist das enge Zusammenwirken von Schule, Jugendhilfe und Eltern unerlässlich. 7. Weiterbildung muss aufgewertet werden. Die zweite und dritte Chance, ja wenn nötig, immer wieder eine neue, muss systematisch entwickelt werden.

Fördern, nicht auslesen war das Motto der Bildungsreformer der 60er und 70er Jahre. Genau diese Aufgabe stellt sich nach den PISA-Erkenntnissen. Der begabte junge Mensch, auch der hoch begabte, darf erwarten, dass ihm die Möglichkeit zur Entwicklung aller seiner Fähigkeiten gegeben wird. Um wie viel mehr gilt ein solcher Grundsatz für den Durchschnitt und die Benachteiligten. Das Menschenbild des Bildungssystems muss eines der Offenheit für den Reichtum eines jeden Menschen sein; nicht Begabtentypen und eine entsprechende (soziale) Selektion nach Schulformen dürfen das Bildungssystem prägen, sondern die Bereitschaft, jeden Menschen mit seinen Möglichkeiten entsprechend seinen Stärken und Schwächen zu fördern. Der Grundfehler des Bildungssystems und vieler Lehrkräfte besteht darin, zu ‹wissen›, was ein junger Mensch kann und nicht kann. Max Frisch hat in seiner Parabel «Andorra» eindrucksvoll davor gewarnt, sich ein Bild des anderen Menschen zu machen. Dies legt den anderen fest – insbesondere im pädagogischen Umgang des Erwachsenen mit dem Heranwachsenden – und beschneidet ihm damit Möglichkeiten des Menschseins.

Chancengleichheit hat enge Grenzen. Es gibt keine Ergebnisgleichheit. Die Ungleichheit der Gesellschaft kann nicht beseitigt werden; wohl aber ist es Aufgabe des Bildungssystems, diese Ungleichheit so wenig wie möglich auf den Bildungsprozess junger Menschen durchschlagen zu lassen.

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