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Erziehungs- und Elterngeld für Migran­tinnen und Migranten mit humanitärem Aufent­halts­recht

Grundrechte-Report 2013, Seite 91

Dürfen Migranten und Flüchtlinge von sozialen Leistungen ausgeschlossen werden? Diese Frage hat viele Dimensionen, weil das Sozialrecht zahlreiche, für den Nichtspezialisten unüberschaubar viele Regelungen aufweist und der Gesetzgeber manche Sonderregelung für Menschen ohne deutschen Pass getroffen hat. Daher mehren sich die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu Fragen über Grund und Reichweite der sozialrechtlich gebotenen Gleichbehandlung von ausländischen Staatsangehörigen mit Inländern. Gegenstand verfassungsrechtlicher Klärung war schon wiederholt das frühere Erziehungsgeld, das vor sechs Jahren durch das Elterngeld abgelöst wurde. Am 10. Juli 2012 hat das BVerfG auf Vorlage des Bundessozialgerichts (BSG) entschieden, dass der Ausschluss von ausländischen Staatsangehörigen mit einer humanitären Aufenthaltserlaubnis vom Erziehungs- oder Elterngeld verfassungswidrig ist (BVerfG, Beschluss vom 10.7.2012, Az. 1 BvL 2/10 u.a.).

Ausgehend von der Entscheidung des Gerichts vom 6. Juli 2004 (BVerfGE 111, S. 176), wonach eine Differenzierung der Erziehungsgeldberechtigung für Ausländer nach dem formalen Status ihres Aufenthaltstitels mit Artikel 3 Absatz 1 GG nicht im Einklang stehe, stellten sich für die Nachfolge- und Neuregelungen des Erziehungs- und Elterngeldes die parallelen Fragen. Streitig war namentlich, ob für ausländische Eltern mit humanitärem Aufenthaltsrecht eine Erziehungs- und Elterngeldberechtigung nur vorgesehen werden dürfe, soweit sie sich im Inland seit mindestens drei Jahren aufhalten und für den gleichen Zeitraum in den inländischen Arbeitsmarkt integriert waren. Das Gericht verwarf die Differenzierung des Gesetzgebers. Sie sei mit dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz unvereinbar.

Fehlende Prognose über künftige Aufent­halts­dauer

Das gesetzgeberische Motiv, den Eltern nur derjenigen Kinder ein Erziehungs- oder Elterngeld zu gewähren, welche sich voraussichtlich auf Dauer im Inland aufhielten (Bundestags-Drucksache 16/1368, S. 8), legitimiere nicht die getroffene Regelung. Zwar sei eine Ungleichbehandlung auf Grund der unterschiedlichen Dauer des Verbleibens im Inland nicht von vornherein verfassungswidrig (BVerfGE 111, S. 160, BVerfGE 111, S. 176). Der Gesetzgeber habe aber Kriterien für den Anspruch maßgebend sein lassen, die nicht verlässlich den Umfang und die Dauer des Inlandsaufenthalts von Eltern und Kind prognostizieren lassen.

Diese Prognose lasse sich weder aus der Dauer der aktuellen Beschäftigung im Inland noch dem Vorliegen der Voraussetzungen einer humanitären Aufenthaltserlaubnis erschließen. Anknüpfend an seine frühere Rechtsprechung erinnert das BVerfG erneut daran, dass der Aufenthaltstitel keinen hinreichenden Aufschluss über den künftigen Daueraufenthalt gebe. Diese Folgerung habe auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) unter ausdrücklicher Berufung auf die Rechtsprechung des BVerfG gezogen (EGMR, NVwZ 2006, S. 917 f.). Der Gesetzgeber habe bei seiner Differenzierung insbesondere nicht berücksichtigt, dass bei Vorliegen eines humanitären Aufenthaltstitels das Gesetz Möglichkeiten einer Verfestigung und Verlängerung der Aufenthaltsbefugnis vorsehe (§ 26 Aufenthaltsgesetz, AufenthG). Auch die Arbeitsmarktintegration der Eltern während des Zeitraumes der Geburt des Kindes deute zwar auf eine dauerhafte Bleibeperspektive hin; es sei allerdings daraus nicht der Umkehrschluss statthaft, dass keine Bleibeperspektive habe, wer im Zeitraum der Geburt des Kindes nicht hinreichend in den inländischen Arbeitsmarkt einbezogen sei.

Die Rückkehr der aus humanitären Gründen Aufenthaltsberechtigten sei vielmehr entscheidend von den Bedingungen abhängig, welche sich im Herkunftsstaat künftig ergeben werden. Diese Entwicklung sei unabhängig von der Arbeitsmarktintegration im Inland zu beurteilen. Denn eine Aufenthaltsbefugnis nach § 25 Absatz 4 AufenthG wegen persönlicher Hinderungsgründe oder nach § 25 Absatz 5 AufenthG wegen tatsächlicher oder rechtlicher Unmöglichkeit der Ausreise können von der Fortwirkung von Kriegszuständen abhängen oder sich aus Gründen des Familienschutzes (Artikel 6 GG, Artikel 8 Europäische Menschenrechtskonvention) ergeben.

Arbeits­mark­tin­te­gra­tion: Kein zwingender Aspekt

Das BVerfG stellt außerdem fest, dass Merkmale der Arbeitsmarktintegration keine hinreichende Grundlage für eine Prognose über die zu erwartende Aufenthaltsdauer darstellen. In den für verfassungswidrig erklärten Normen werden teilweise Gruppen vom Eltern- und Erziehungsgeld ausgeschlossen, bei denen die Sicherung des Lebensunterhalts durch Erwerbsarbeit gar nicht verlangt werden darf (§§ 24, 25 Absatz 3 bis 4b AufenthG). Das Aufenthaltsgesetz macht die Verlängerung des Aufenthaltsrechts aus humanitären Gründen damit nicht, jedenfalls nicht zwingend von der Sicherung des eigenen Lebensunterhalts abhängig. Es ist außerdem von der Verfassung nicht gefordert, dass eine gesicherte Bleibeperspektive mit der Aussicht auf eine Niederlassungserlaubnis bereits im Zeitpunkt der Anspruchsentstehung zu bestehen hätte. Vor allem mit Blick auf geringfügig und damit versicherungsfreie Beschäftigte und im Hinblick auf Frauen, deren Arbeitsverhältnis während der Schwangerschaft endete, wäre es nicht begründbar, die Elterngeldberechtigung von der Arbeitsmarktintegration zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes abhängig zu machen. Die gesetzliche Regelung sei auch für langfristig im Inland sozialversicherungspflichtig Beschäftigte unsachgemäß, die vor der Geburt des Kindes Arbeitslosengeld I bezogen haben, die aber bei Geburt des Kindes Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende bezögen. Ganz generell gibt das BVerfG auch kritisch zu bedenken, dass im Hinblick auf die Beschäftigungsverbote für Mütter vor der Entbindung das Kriterium der Arbeitsmarktintegration schwerer zu erfüllen sei als bei Männern oder Nicht-Eltern. Für Eltern sei nach der gesetzlichen Lage die Inanspruchnahme von Elterngeld insbesondere dann nahezu unerfüllbar, soweit sie nicht bereits vor der Geburt in einem Arbeitsverhältnis gestanden haben.

Diskri­mi­nie­rung aufgrund des Geschlechts

Das BVerfG beanstandete die Regelungen ferner unter dem Aspekt der Gleichbehandlung der Geschlechter (Artikel 3 Absatz 2 und 3 GG). Ein Verstoß liege vor, wenn die in der Mutterschutz-Frist verbrachten Phasen der Nichtarbeit und auch die Stillzeit bei der Elterngeldberechtigung von ausländischen Staatsangehörigen unberücksichtigt blieben. Denn die daraus erwachsenden Nachteile für Frauen sind elementar mit der Mutterschaft verbunden, welche nur bei Vorliegen von Sachgründen erheblichen Gewichts gerechtfertigt werden könnten. Solche seien indes nicht zu erkennen. Die Elterngeldberechtigung für Nichtdeutsche ist nach diesem Beschluss neu zu fassen. Differenzierungen auf Grund von Aufenthaltsstatus und Erwerbsbeteiligung sind – tendenziell – nicht von Belang. Allerdings ist bisher noch nicht die Frage geklärt, ob auch die langjährig hier lebenden, ohne Aufenthaltstitel nur geduldeten Menschen, die oftmals schon über ein Jahrzehnt oder länger im Inland sich „vorübergehend“ aufhalten dürfen, vom Gleichbehandlungssatz ebenfalls umfasst werden und deshalb auch rechtlich wie Inländer gestellt sein müssten. Im Lichte der jüngsten Urteile des BVerfG liegt es nahe, sie ebenfalls in den Anspruch auf Erziehungs- und Elterngeld einzubeziehen, weil ihnen wie ihren Kindern eine hinreichend begründete Bleibeperspektive unterstellt werden kann.

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