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Menschen­rechts­ver­let­zungen im deutschen Schul­sys­tem: behindert werden durch Sonder­be­schu­lung

Grundrechte-Report 2009, Seite 95

Die UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen, die im Dezember von der Bundesregierung ratifiziert wurde, legt fest, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen zu verbieten und ihnen die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte zu garantieren. Bildungssysteme sind demnach inklusiv bzw. integrativ zu gestalten sind. Inklusiv heißt: Alle Kinder werden gemeinsam unterrichtet. Die Konvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der durch ein Vertragsgesetz gemäß Artikel 59 Absatz 2 GG in deutsches Bundesrecht umgesetzt wird.

Die Vertragsstaaten verpflichten sich u. a. dazu, Menschen mit Behinderungen einen gleichberechtigten Zugang zu einem inklusiven Bildungssystem zu gewährleisten. Bei der Verwirklichung dieses Rechts haben die Vertragsstaaten sicher zu stellen, dass Menschen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem und vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden. Menschen mit Behinderungen erhalten das Recht auf gleichberechtigten Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grund- und weiterführenden Schulen mit angemessenen Vorkehrungen für ihre besonderen Bedürfnisse. Dies soll dadurch sichergestellt werden, dass Menschen die notwendige Unterstützung ihrer besonderen Bedürfnisse innerhalb des allgemeinen Bildungssystems erhalten. So werden ihnen erfolgreichere Bildungswege ermöglicht. Das Gesetz zielt auf die vollständige Integration von Menschen mit Behinderungen in das Bildungssystem und schließt wirksame, individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen mit ein, die die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestatten“ (UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen, Artikel 24 Absatz 1 bis 5).

Benachteiligungsverbot

Die UN-Konvention geht damit über das seit 1994 im Grundgesetz verankerte Gebot „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden” (Artikel 3 Absatz 3 GG) hinaus. Das Bundesverfassungsgericht (1 BvR 9/97) hat noch am 8. Oktober 1997 entschieden, dass dieses Grundrecht nur dann einen Anspruch auf integrative Beschulung gewähre, wenn in einem Bundesland entsprechende Kapazitäten zur Verfügung stehen. Ein Bundesland könne aber nicht gezwungen werden, solche Ressourcen einzurichten. Zukünftig ist das Gebot der Gleichbehandlung im Sinne der Konvention auszulegen, weil nationale Gerichte angehalten sind, die Grundrechte in Einklang mit der internationalen Konvention zu bringen.

Die Konvention legt unmissverständlich nahe, Menschen mit Behinderungen den Zugang zu allgemeinen und weiterführenden Regelschulen und zu teriärer Bildung nicht länger zu verwähren, d. h. ausreichend für inklusive Bildung zu sorgen.

Bislang wird in Deutschland hingegen überwiegend eine Sonderbeschulung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen praktiziert. Es existiert ein ausdifferenziertes, separates Sonderschulwesen, das dem europäischen Standard der inklusiven Bildung nicht entspricht. Der Anteil der Sonderschüler an allen Schülern liegt bei 4,9 Prozent. Im Jahr 2006 wurden 86 Prozent der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Sonderschulen unterrichtet. Die ca. 420 000 Kinder und Jugendliche, die eine Sonderschule mit ihrer jeweiligen Ausrichtung auf einen Förderschwerpunkt (wie beispielsweise Lernen, körperliche und motorische Entwicklung, etc.) besuchen, haben weniger (Lern-) Anreize und Vorbilder als ihre Altersgenossen in einer inklusiven Klassengemeinschaft. An inklusiven Schulen wird Vielfalt und Leistungshetereogenität für das kognitive wie soziale Lernen von allen Kindern genutzt. Hingegen erhöht sich die Leistungskluft zwischen Schülern mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf, je länger die Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf einer Sonderschule verbleiben. In der Regel führt der Sonderschulbesuch nicht zu einem qualifizierenden schulischen Zertifkat; in einigen Bundesändern ist ein Erwerb solcher Zertifikate nicht möglich. Um die 80 Prozent der Schüler verlassen die Schule ohne qualifizierenden Anschluß , womit ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt erheblich erschwert wird. Der Sonderschulbesuch stellt damit eine unmittelbare Diskriminierung dar.

Nach der Schule befinden sich die meisten Sonderschulabgänger in einem sogenannten Übergangssystem. Die Berufsförder- oder Berufsvorbereitungprogramme vermitteln keinen qualifizierenden Ausbildunsgabschluss. Es besteht ein erhebliches Risiko, nach einer (rehaspezifischen) Berufsvorbereitung keine Vollausbildung zu erhalten. Die „schulische Behinderung“ von Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf wird in den Maßnahmen der Berufsausbildung fortgeführt. Reguläre Arbeitsplätze erhalten Schulabgänger von Sonderschulen nur in Ausnahmefällen. Dies hat zur Folge, dass Menschen mit Behinderungen im späteren Lebensverlauf überdurchschnittlich häufig arbeitslos und abhängig von staatlichen Leistungen und Fürsorge sind.

Mittelbare Diskri­mi­nie­rung

Darüber hinaus werden Sonderschüler auch mittelbar aufgrund sozialer Herkunft, Migration und Geschlecht diskriminiert. Unter der größten sonderpädagogischen Kategorie, der „Lernbehinderung“, wird bspw. eine negative Abweichung von den Durchschnittsleistungen der Gleichaltrigen verstanden, womit insbesondere Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien und Kinder mit kulturellen Unterschieden klassifiziert und aus Regelklassen ausgesondert werden. Kinder aus armen Familien und Kinder mit Migrationshintergrund sind seit Jahrzehnten an Sonderschulen überrepräsentiert. Der Anteil an männlichen Schülern ist überdurchschnittlich hoch.

Das deutsche Sonderschulsystem stellt ein räumlich getrenntes und in Inhalt und Umfang reduziertes Angebot an Lernmöglichkeiten zur Verfügung. Langfristige gesellschaftliche Teilhabe kann aber nicht durch Ausgrenzung erreicht werden. Deshalb forderte der UN-Inspektor Vernor Muñoz vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen 2007, das deutsche mehrgliedrige Schulsystem zu überdenken: es sei selektiv und diskriminierend.

Es müssen jedoch nicht alle Schüler mit besonderen Bedürfnissen in Deutschland ihre Klasse und Schule verlassen. In Deutschland unterrichten zahlreiche Modell- und Integrationsschulen Schüler mit und ohne Behinderungen im gemeinsamen Unterricht. Manche Bundesländer, wie etwa Berlin und Bremen, beweisen mit einer Integrationsquote von 34 bzw. 45 Prozent, dass die schulische Inklusion aller Kinder möglich ist. Im Bundesdurchschnitt werden jedoch nur 14 Prozent aller Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarf in Regelschulen integriert. Dies signalisiert: Inklusive Bildung ist möglich, wenn sie gewollt wird. Sie sollte flächendeckend umgesetzt und ausreichend finanziert werden, um die Bildungserfolge von Menschen mit Behinderungen zu erhöhen.

Unseres Erachtens besteht keine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, da integrative Beschulung bereits praktiziert wird und flächendeckend umgesetzt werden kann. Die Bildungsergebnisse vieler anderer Länder zeigen, dass ihre inklusive Beschulung sowohl häufiger zum Erreichen schulischer Zertifikate führt als auch einen verbesserten Zugang zu tertiärer Bildung und dem Arbeitsmarkt ermöglicht. Eine Sonderbeschulung stellt hingegen eine Benachteiligung dar und widerspricht dem nun verankerten Recht von Menschen mit Behinderungen auf einen gleichberechtigten Zugang zu hochwertiger, möglichst inklusiver Bildung.

Literatur

Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll 2008

KMK, Sonderpädagogische Förderung in Schulen 1997 bis 2006, Bonn 2008

Maschke, Michael, Behindertenpolitik in der Europäischen Union, Wiesbaden 2008

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