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Auch Arbeitslose dürfen den Glauben verlieren

Grundrechte-Report 2010, Seite 86

Im Grundrechte-Report 2007, Seite 82 ff. hat der ehemalige Bundesverfassungsrichter Jürgen Kühling unter der Überschrift „Ich glaub’s nicht“ über das in der Tat unglaubliche Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 30. März 2006, Az. L 1 AL 162/05, berichtet. Eine Hausangestellte im Wirtschaftsdienst eines katholischen Krankenhauses hatte es gewagt, aus der Kirche auszutreten und war prompt daraufhin fristlos gekündigt worden. Die Agentur für Arbeit setzte noch eins drauf: Sie verhängte für den Bezug des Arbeitslosengeldes eine 12wöchige Sperrfrist, weil die Hausangestellte nach § 144 SGB III ihre Arbeitslosigkeit vorsätzlich oder grob fahrlässig selbst herbeigeführt habe – denn sie hätte ja wissen müssen, dass sie bei Kirchenaustritt gekündigt würde ! Das Sozialgericht Koblenz sah dies zwar wegen der Religionsfreiheit nach Artikel 4 Grundgesetz anders – aber beim Landessozialgericht Rheinland-Pfalz unter dem Vorsitz seines Präsidenten Bartz (der heute Präsident des Oberlandesgerichts Koblenz ist) bekam die Bundesagentur Recht. Um seine grundgesetzwidrige Entscheidung abzusichern, ließ das Landessozialgericht noch nicht einmal die Revision zu.

Gott sei Dank war dies aber nicht das letzte Wort. Das Bundessozialgericht ließ auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Hausangestellten die Revision ausdrücklich zu und machte in der Verhandlung am 29. Mai 2008 deutlich, was es von dem Urteil des Landessozialgerichts hielt – nämlich nichts. Um ein höchstrichterliches Urteil zu vermeiden, nahm daraufhin die Bundesagentur für Arbeit ihre Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz zurück, welches folglich nunmehr rechtskräftig ist: Eine Sperrzeit für das Arbeitslosengeld bei Kirchenaustritt ist – natürlich – rechtswidrig.

Es ist erstaunlich, wie kirchliche Ansprüche immer wieder sich auch gegen höchstrichterliche Urteile durchsetzen. Trotz der Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Gleichbehandlung von Religionen und zum Kreuz in Klassenzimmern ist in mehreren Bundesländern das islamische Kopftuch für Lehrkräfte verboten, werden christliche Symbole für Lehrkräfte jedoch ausdrücklich erlaubt (Nonnentracht z.B. in Baden-Württemberg außerhalb des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen) und hängen weiterhin christliche Kreuze in den Schulen. Auch der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg hat dies im Jahr 2009 in einem italienischen Fall für einen Verstoß gegen die Menschenrechte erklärt – ob mit mehr Erfolg als in Deutschland bleibt abzuwarten.

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