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Wehrpflicht contra Gewis­sens­frei­heit

Ulrich Finckh

Grundrechte-Report 1998, S. 79-84

Die Garantie der Gewissensfreiheit ist – zumindest im negativen Bereich – ein Schutzrecht des einzelnen gegenüber staatlicher Inanspruchnahme. Der nachträglich eingefügte Art. 12a GG erlaubt aber die Wehrpflicht, wenn sie gesetzlich geregelt wird. Kann das aber auch für denjenigen gelten, dessen Gewissen ihm jeden solchen Dienst als Verbrechen verbietet? Die Wehrpflicht gilt sowieso nur für den, der kein Kriegsdienstverweigerer ist. Die Ersatzdienstpflicht zur Erfüllung der Wehrpflicht gilt dann für den, der den Kriegsdienst mit der Waffe aus Gewissensgründen ablehnt. Aber selbst im Zivildienstgesetz (ZDG) wird damit gerechnet, daß es Leute gibt, die nicht nur den Waffendienst im Krieg, sondern jeglichen Kriegsdienst und jeglichen Ersatzdienst aus Gewissensgründen als verbrecherisch ablehnen. Deshalb gibt es den § 15a ZDG, auf dessen Problematik Ernst Gottfried Mahrenholz im Grundrechte-Report 1997 hingewiesen hat.

Der Konflikt eskaliert. Einerseits ziehen manche totalen Kriegsdienstverweigerer die Konsequenzen, schon Musterung und KDV-Verfahren abzulehnen und sich im Falle der Einberufung zur Bundeswehr wegen Befehlsverweigerung oder Fahnenflucht eher ins Gefängnis werfen zu lassen, als ihre Gewissensentscheidung zu verraten. Gestärkt wird diese Haltung durch das Hinzukommen ostdeutscher totaler Kriegsdienstverweigerer, die mit Empfehlung der evangelischen Kirchen in der DDR jeden Waffen- und waffenlosen Dienst in der NVA abgelehnt hatten. Da sie den Dienst nicht wegen des DDR-Unrechts, sondern wegen des Unrechts von Krieg und Kriegsvorbereitung abgelehnt hatten, verstärken sie die Gruppe der totalen Kriegsdienstverweigerer.

Für die radikalen Kriegsdienstverweigerer, die nicht einmal das KDV-Verfahren mitgemacht haben, hat der Bundesminister der Verteidigung mit dem Erlaß BMVg-P II 7-24-09-10 vom 18. Dezember 1995 verfügt, daß sie nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 6 oder Abs. 4 Nr. 2 Wehrpflichtgesetz (WPflG) entlassen werden dürfen, solange sie nicht mindestens zu sieben Monaten Freiheitsstrafe verurteilt sind. Die Folge ist, daß sie immer wieder mit Gewalt zum Wehrdienst gezwungen werden sollen und bei durchgehendem Verweigern in der Bundeswehr mit Arrest mehrfach hintereinander bestraft und zusätzlich vor Strafgerichten angeklagt werden, so auch 1997.

Die jüngsten konkreten Fälle

1. Verfassungsbeschwerden gegen Freiheitsstrafen (nach mehrfachen Arreststrafen der Bundeswehr):

Heiko T., Urteil des Landgerichtes Hildesheim, sieben Monate ohne Bewährung, Revision vom Oberlandesgericht Celle verworfen, Verfassungsbeschwerde nicht angenommen (2 BvR 867/97).

Hans-Caspar B., Urteil Amtsgericht Tiergarten, Berlin, sechs Monate ohne Bewährung, Berufung vom Landgericht Berlin und Revision vom Kammergericht Berlin verworfen, Verfassungsbeschwerde nicht angenommen (2 BvR 1692/97).

2. Verfassungsbeschwerde gegen vier unmittelbar aufeinanderfolgend verhängte Disziplinararreste, verbüßt vom 15. August bis 4. September 95, vom 4. September bis 24. September 95, vom 25. September bis 15. Oktober 95 und 16. Oktober bis 30. Oktober 95:

Tino S., die Arreststrafen wurden jeweils vom Truppendienstgericht Nord gebilligt, die Beschwerden dagegen verworfen. Verfassungsbeschwerde nicht angenommen (2 BvR/7/96).

Keine Verfassungsbeschwerde wurde bisher eingelegt von:

Axel K. Der Totalverweigerer erhielt folgende Arreststrafen der Bundeswehr: 7 Tage, 14 Tage, 21 Tage, 12 Tage, 21 Tage und wurde vom Landgericht Halle zu sechs Monaten Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt. Der letzte Arrest wurde durch Hungerstreik und Flucht aus dem Krankenhaus unterbrochen. Nach einer Verurteilung durch das Landgericht Halle (sechs Monate auf Bewährung) wurde Herr K. am 14. Juli 1997 erneut von Feldjägern in eine Kaserne gebracht. Dort sollte der letzte Arrest vollends verbüßt und ein neuer Arrest verhängt werden. Auf Intervention der Totalverweigerer-Initiative Braunschweig und Rückfrage beim Truppendienstgericht wurde der Arrest abgebrochen, da verjährt. Zu neuem Arrest kam es nicht mehr, weil Herr K. am 29. August 1997 aus der Bundeswehr entlassen wurde. Der Fall führte im November 1997 zu einer kleinen Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag (BT-Drucksachen 13/8844 und 13/9274).

Um die Fälle zu würdigen, muß man sich bewußtmachen:

1. Arreststrafen der Bundeswehr sind Freiheitsentzug, also an Art. 103 und 104 GG zu messen. Sie werden vom Disziplinarvorgesetzten verhängt; der Vorsitzende des zuständigen Truppendienstgerichts muß zwar zustimmen, doch kennt er lediglich Bericht und Antrag des Vorgesetzten. Nur auf Beschwerde des Bestraften hin verhandelt das Truppendienstgericht, oft erst nach Antritt oder gar Verbüßung des Arrests. Immer verhandelt das Truppendienstgericht unter Vorsitz des Richters, der dem Arrest zugestimmt hatte, den der Beschwerdeführer also als befangen empfinden muß. Da die Zuständigkeit in der Wehrdisziplinarordnung (WDO) geregelt ist, kann er ihn aber nicht als befangen ablehnen. Das Verbot der Doppelbestrafung wird mißachtet mit der Behauptung, es gehe um Erziehungsmaßnahmen, wobei „Erziehung“ das Brechen der ein für allemal getroffenen Gewissententscheidung bedeutet.

2. Die Freiheitsstrafen werden unabhängig von den Arreststrafen verhängt. Auf das Strafmaß nimmt der Bundesminister der Verteidigung Einfluß durch den erwähnten Erlaß. Seit einiger Zeit werden meist 84 Tage Arrest verhängt, im Fall K. wurde sogar auf 96 Tage zu verlängern versucht. Das ist ein Hohn auf die Obergrenze von 21 Tagen in der WDO, zumal für gewissensgebundene Straftäter ein Wohlwollensgebot gilt. Die Möglichkeiten der Gerichte, von einer Freiheitsstrafe abzusehen oder den Vollzug zur Bewährung auszusetzen, werden auf diese Weise unterlaufen. Das bedeutet:

Rechtsradikale werden sofort entlassen;

Straftäter können nach Verurteilung zu mindestens drei Monaten Freiheitsstrafe nach Hause geschickt ( § 29 Abs. 1 Nr. 6 oder Abs. 4 Nr. 2 WPflG) werden;

Hoch- und Landesverräter werden nicht einberufen, wenn sie zu mindestens sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt wurden (§10 Abs. 1 Nr. 1 WPflG);

totale Kriegsdienstverweigerer werden nach möglichst vielen Arreststrafen erst entlassen, wenn sie zu mindestens sieben Monaten Freiheitsstrafe verurteilt sind.

Wer die Bundeswehr in schlechten Ruf bringen könnte, wird also ausgeschlossen; wer sie und die Wehrpflicht ablehnt, wird verfolgt. Steht das Eigeninteresse des Militärs über der Verfassung? Es geht offensichtlich um Grundfragen unserer Verfassung, im einzelnen um Ungleichbehandlung, Mißachtung der Gewissensentscheidung, Freiheitsentzug ohne rechtliches Gehör und ohne Gerichtsurteil, militärische Mehrfachbestrafungen für ein und dieselbe fortdauernde Tat, Parallelverfahren der Bundeswehr und der Strafjustiz, Mißachtung des § 29 WPflG und damit der Bindung an Recht und Gesetz, Versuch der Beeinflussung der unabhängigen Gerichte, Unterlaufen der Strafaussetzung zur Bewährung, auch wenn keinerlei Vorstrafen vorliegen und die Sozialprognose uneingeschränkt positiv ist, Mißachtung des Wohlwollensgebots der Rechtsprechungen und nicht zuletzt auch um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung in diesen Verfahren.

Wozu brauchen wir ein Verfassungsgericht, wenn es solche ernsten Anfragen nicht behandelt? Hätte das Gericht nicht die Verfassungsbeschwerde aufgreifen und zugleich die Frage behandeln müssen, ob die nach Art. 87a GG zur Verteidigung aufgestellten Streitkräfte überhaupt noch verfassungsgemäß mit der Wehrpflicht zu regeln sind? Es gibt derzeit keine Bedrohung, die diesen schweren Eingriff in das Leben junger Männer rechtfertigt. Oder ist Art. 12a GG Rechtfertigung für staatliche Willkür? Hat das Verfassungsgericht nicht schon 1978 auf die Möglichkeit einer Freiwilligenarmee hingewiesen? Hat nicht der Bundespräsident recht, der bei der 35. Kommandeurtagung der Bundeswehr allein die Verteidigungsnotwendigkeit als Rechtfertigung der Wehrpflicht ansah? Indem das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerden nicht angenommen hat, hat es unserem Staat einen Dienst verweigert, auf den wir alle – und zuallererst die Beschwerdeführer – Anspruch haben.

Ich weiß, daß das Bundesverfassungsgericht in früheren Entscheidungen den Umgang mit totalen Kriegsdienstverweigerern nicht beanstandet hat, z. B. im Fall Hansen (2 BvR 1272/82). Aber auch ein Verfassungsgericht tut gut daran, frühere Fehlentscheidungen zu korrigieren. Im Falle der Zeugen Jehovas hat das Gericht die Doppelbestrafungen im zweiten Anlauf gestoppt. Es muß auch jetzt handeln, wenn die Gewissensfreiheit nicht aufgegeben werden soll. Die nächsten Fälle kommen bestimmt, sei es als Verfassungsbeschwerde, sei es als Vorlagebeschluß eines Gerichts, das diese Verurteilungen nicht mehr mit dem Grundgesetz vereinbaren kann.

Literatur:

Der Widerstreit zwischen Wehrpflicht und Gewissen – Dokumentation einer Fachtagung. Herausgeber: Zentralstelle KDV, Bremen 1996.

UrlS – Urteils- und Informationsservice Totale Kriegsdienstverweigerung, Herausgeber TKDV-Initiative Braunschweig.

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