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Tucholsky und das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt

Till Müller-Heidelberg

Grundrechte-Report 1997, S. 71-75

Die wichtigste Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist der Schutz der Verfassung. Eines solchen Schutzes bedürfen in erster Linie immer Minderheiten gegen die Mehrheiten; denn die Mehrheiten stellen die Regierung, den Gesetzgeber, die öffentliche Meinung, auch weitgehend die Rechtsprechung. Sie brauchen nicht gegen sich selbst geschützt zu werden. Die Mehrheiten bestimmen das Geschehen – die Grundrechte der Verfassung setzen der Mehrheit Schranken in ihrer Gestaltungsfreiheit, sie haben ihre Funktion gerade im Schutz der Minderheit gegen die Mehrheit.

Doch gerade wenn das Bundesverfassungsgericht diese seine vornehmste Aufgabe erfüllt und mit Mehrheit im Bundestag beschlossene Gesetze wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz aufhebt, staatliche Entscheidungen als verfassungswidrig kritisiert oder Freiräume des einzelnen gegen die öffentliche Meinung verteidigt, wird Kritik an seinen Entscheidungen laut. So fordern höchste staatliche Stellen, einschließlich des bayerischen Ministerpräsidenten, wie etwa anläßlich des Beschlusses über das Kruzifix in bayerischen Schulen dazu auf, die Entscheidung einfach nicht zu beachten und die Kreuze in den Schulzimmern hängen zu lassen; dann bezeichnet anläßlich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Tucholsky-Zitat der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Geis, dies als verfassungswidrig; dann sprechen führende Vertreter der CSU einschließlich ihres stellvertretenden Vorsitzenden von „Schandurteilen“ (das ist die Sprache der Nazis) oder von einer „Rechtsprechung von juristischen Kaziken“ (Peter Gauweiler). Was ist dies für ein Verfassungsverständnis?

„Soldaten sind Mörder“ (oder, in neuerer Fassung: „Soldaten sind potentielle Mörder“) – dieser Ausspruch erschüttert unser Land nun immer wieder seit mehr als 60 Jahren. 1931 schrieb Kurt Tucholsky diesen Satz in der Zeitschrift Weltbühne, um das Kriegshandwerk zu demaskieren. Die Staatsanwaltschaft hatte nichts Besseres und Eiligeres zu tun, als Anklage wegen Beleidigung der Reichswehr zu erheben. Das Kriminalgericht Moabit und das Kammergericht Berlin sprachen frei, die Reichswehr mußte (und konnte) damit leben. Die Bundesrepublik Deutschland, der doch nach allgemeinem Urteil „freiheitlichste und demokratischste Rechtsstaat, den es je auf deutschem Boden gegeben hat“, kann dies offensichtlich nach Auffassung vieler nicht. Hatte schon der Beschluß der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25.August 1994, der auch in heutiger Zeit dieses Tucholsky-Zitat für einen Ausdruck des Rechts auf freie Meinungsäußerung hielt, für Empörung gesorgt, so waren nach der Bestätigung dieser Rechtsprechung durch den gesamten Ersten Senat in seiner Entscheidung vom 10.Oktober 1995 die Verfassungsveränderer nicht mehr zu bremsen. Zunächst wurde ein Sonderehrenschutz für Soldaten gefordert. Als man merkte, daß dies verfassungsrechtlich wohl nicht gehen würde, versuchten es Bundesregierung und Bundestagsmehrheit eben mit einem vermeintlich ’schlauen Trick‘: Als Drucksache 13/ 3971 brachten die Koalitionsfraktionen am 5.März 1996 den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches ein, mit der Einfügung eines neuen § 109b im Strafgesetzbuch: „Verunglimpfung der Bundeswehr. Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreitung von Schriften Soldaten in Beziehung auf ihren Dienst in einer Weise verunglimpft, die geeignet ist, das Ansehen der Bundeswehr oder ihrer Soldaten in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ (Ende 1996 befand sich der Gesetzesentwurf noch in der parlamentarischen Beratung.)

„Mord ist das schlimmste Verbrechen, das Menschen begehen können. Das Urteil ‚Soldaten sind Mörder‘ ist das schlimmste Urteil, das man über Menschen sprechen kann“, hat der Bundestagsabgeordnete Norbert Geis am 8.März 1996 die Bundestagsdebatte eröffnet. Mörder ist nach § 211 Abs. 2 StGB, wer „heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln … einen Menschen tötet“. Und wer wollte, solange er noch den Anspruch intellektueller Redlichkeit aufrechterhält, leugnen, daß der Hinterhalt zur Kriegstaktik gehört (heimtückisch), daß die Bombe aus nachtdunklem Himmel friedlich schlafende Menschen überrascht (heimtückisch), daß nicht nur Napalm grausame Verletzungen bis zum Tod herbeiführt, daß noch heute nach über 50 Jahren Leiden die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki jedes Jahr ihre Opfer heischen und daß überhaupt zum Beispiel Flächenbombardements oder Atombomben sich in ihrer Auswirkung nicht beherrschen und begrenzen lassen (Gemeingefährlichkeit nach § § 306 ff StGB)?!

Aber darum geht es gar nicht. „Soldaten sind Mörder“ soll vor Augen führen, daß Soldaten töten, und der Satz soll nach Auffassung des Sprechers deutlich machen, daß er dies nicht für gerechtfertigt hält. Dies mag falsch oder richtig sein – es ist aber eine zulässige Position im Kampf um die geistige Meinungsführerschaft und muß dies bleiben. „Jeder soll sagen können, was er denkt, auch wenn er keine nachprüfbaren Gründe für sein Urteil angibt oder angeben kann. Artikel 5 GG schützt die Meinungsfreiheit … auch im Interesse des demokratischen Prozesses, für den sie konstitutive Bedeutung hat. Auch scharfe und überzogene Kritik entzieht eine Äußerung nicht dem Schutz des Grundrechts. Werturteile sind vielmehr durchweg von Artikel 5 geschützt, ohne daß es darauf ankäme, ob die Äußerung ‚wertvoll‘ oder ‚wertlos‘, ‚richtig‘ oder ‚falsch‘, ‚emotional‘ oder ‚rational‘ ist“ (so die beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum „Soldaten sind Mörder“-Zitat NJW 1994, 2943; 1995, 3303 unter Zitierung der seit 1958 dauerhaften und gefestigten Rechtsprechung).

Daß Soldaten als staatliche Funktionsträger und auch als Wehrpflichtige keinen Sonderehrenschutz nach der Verfassung genießen dürfen, hat das Bundesverfassungsgericht ebenfalls in seinen beiden Entscheidungen ausgesprochen – der Sprecher der Koalitionsfraktionen erklärt nichtsdestoweniger unverfroren bei Einbringung des Gesetzes: „Einmal geht es uns um den Schutz der Soldaten und ihrer Ehre.“ Und da das Bundesverfassungsgericht im Leitsatz 3a der zweiten Entscheidung ausgeführt hat: „Werden die Ehrenschutzvorschriften nicht auf Personen, sondern auf staatliche Einrichtungen bezogen, so ist das Gewicht von Artikel 5 Grundgesetz bei der Lösung auftretender Konfliktlagen (Gewährleistung der öffentlichen Anerkennung für staatliche Einrichtungen einerseits – Meinungsfreiheit andererseits) deshalb besonders hoch zu veranschlagen, weil die Meinungsfreiheit gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet“, so setzt der Vertreter der Koalitionsfraktionen gleich noch einen drauf und fährt fort: „Zum anderen geht es uns zugleich – das machen wir durch die Einordnung in den neu zu schaffenden § 109b deutlich – um die Funktionsfähigkeit unserer Bundeswehr, um ihre Verteidigungsbereitschaft, letztlich auch um unsere Bündnisfähigkeit.“ Und er schließt seine Ausführungen unter dem Beifall der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP mit der Feststellung, daß das Bundesverfassungsgericht seit seinem Lüth-Urteil von 1958 der Meinungsfreiheit zuneigt und daß „durch dieses Gesetz, in dem wir als Gesetzgeber eindeutig erklären, daß es uns sehr stark auf den Ehrenschutz der Soldaten ankommt, wir diese Tendenz, soweit es aufgrund unserer Kompetenz möglich ist, korrigieren wollen“. Deutlicher kann kaum gesagt werden, daß ein oberstes Bundesorgan, dem die verfassungsrechtlichen Grenzen seiner Tätigkeit vom Verfassungsgericht aufgezeigt worden sind, sich darüber hinwegsetzen will, mit anderen Worten Verfassungsrechte zwar nicht beseitigen, jedoch einschränken will.

Dieselben Politiker, die die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Tucholsky-Zitat unerträglich finden, sprechen vom „sinnlosen Morden“ in Tschetschenien oder im früheren Jugoslawien oder in Ruanda und scheinen zu vergessen, daß all dieses von uniformierten Soldaten geschieht. Friedrich der Große schrieb 1773 an Voltaire über die Soldaten als „privilegierte Mörder, die die Erde verwüsten“, Scharnhorst 1807 an Blücher: „Man erwartet nun die russischen Verstärkungen und dann geht es wieder ans Morden“, der U-Boot-Kommandant und spätere Kirchenpräsident Martin Niemöller spricht 1959 im Zusammenhang mit der Soldatenausbildung von der „Hohen Schule der Berufsverbrecher“. Waren alle diese Äußerungen strafbare Beleidigungen oder zulässige Meinungsäußerungen, die auf das dahinterstehende Problem des staatlichen Tötens verweisen, welches möglicherweise ethisch unvertretbar sei?

Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde schrieb am 8.März 1932 in der Weltbühne zur damaligen Aufgeregtheit der öffentlichen Diskussion: Der Satz „soll den Gedanken, daß der Krieg Mord ist, in besonders scharf geprägter Form zum Ausdruck bringen. Ob mit Recht, darüber mag man streiten, aber deshalb wegen Beleidigung zu klagen, d. h. nicht nur, sich lächerlich zu machen, sondern auch die Freiheit des Wortes knebeln.“

Der Gesetzentwurf nennt als Alternativen „Keine“ und im Abschnitt Kosten: „Kosten sind nicht zu erwarten.“ Wäre es nicht eine Alternative, es schlicht bei der jetzigen Verfassungs- und Rechtslage der Meinungsfreiheit einschließlich der scharfen Kritikfreiheit zu belassen? Und geht nicht dieser Gesetzesentwurf, sollte er denn Gesetz werden, auf Kosten der Demokratie und des Rechtsstaats?

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