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Visums­pflicht für auslän­di­sche Kinder

Kai Weber

Grundrechte-Report 1998, S. 95-100

Anfang des Jahres 1997 sah sich Bundesinnenminister Kanther als Deichgraf gefordert: 2068 Kinder unter 16 Jahren aus den ehemaligen Anwerbestaaten Türkei, Marokko, Tunesien und dem ehemaligen Jugoslawien waren 1996 ohne Begleitung eines Elternteils in die Bundesrepublik eingereist.

Zwar wurden 1300 dieser Kinder von ihren Verwandten am Flughafen empfangen, und nur 352 der unbegleiteten Minderjährigen stellten einen Antrag auf Asyl (taz 31. 1. 97), doch nach Auffassung des Bundesinnenministers bestand dringender Handlungsbedarf. Ein Schutzwall gegen die Fluten war angesagt: Um das „Einfallstor“ (Kanther) zu schließen, verfügte der Bundesinnenminister mit Eilverordnung vom 11. Januar bis 15. Januar 1997 für zunächst drei Monate – ohne zuvor die Zustimmung des Bundesrates einzuholen – die Einführung der Visumspflicht für Kinder und Jugendliche aus jenen Anwerbestaaten, die nicht der EU angehören. Betroffen von dieser Maßnahme waren schätzungsweise 800000 Kinder von Arbeitsmigranten, die zwar in Deutschland geboren bzw. aufgewachsen sind, deshalb aber noch lange nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Zur Rechtfertigung für die handstreichartige Einführung der Visumspflicht führte Kanther das „Wohl der Kinder“ ins Feld: Es gehe darum, „einen üblen Mißbrauch von Kindern durch Hereinschleppen in unser Land sofort zu stoppen“.

Die Konsequenzen waren verheerend: Kindern wurde wochenlang die Rückkehr aus ihrem Urlaubsort zu ihren Familien nach Deutschland verweigert, weil ihnen das nun erforderliche Visum für Deutschland fehlte. Vor den Ausländerbehörden kam es teilweise zu tumultartigen Szenen. Da die Verwaltung dem Ansturm der Visumspflichtigen vielfach nicht gewachsen war, bildeten sich lange Schlangen.

Kanthers Verordnung rief denn auch massive Proteste hervor. Flüchtlings- und Migrantenorganisationen, Bündnisgrüne, die SPD-Bundestagsfraktion und selbst einige junge CDU-Abgeordnete erklärten, die Eilverordnung kippen zu wollen. Bis in die Unionsfraktion hinein entbrannte ein heftiger Streit, der sich an der Frage entzündete, welche Konsequenzen sich aus der Visumspflicht für die in Deutschland aufgewachsenen Migrantenkinder ergeben. Entscheidend für den lautstarken Protest vieler Migrantinnnen und Migranten waren nicht nur die handfesten materiellen Folgen der Visumspflicht, sondern auch die Tatsache, daß das für selbstverständlich gehaltene Aufenthaltsrecht der eigenen Kinder durch das Erfordernis einer befristeten Aufenthaltserlaubnis in Frage gestellt schien. „Deutschland will uns loswerden“, war vielfach zu hören. „Die Notwendigkeit, sich den Aufenthalt in dem Land, in dem sie geboren und aufgewachsen sind, gestatten zu lassen, ist den Betroffenen nur schwer zu erklären“, brachte die Ausländerbeauftragte Cornelia Schmalz-Jacobsen (FDP) den Unmut auf den Punkt.

Weniger Resonanz fand der Aufruf von flüchtlingspolitischen Verbänden, Kinder aus Migrantenfamilien und Flüchtlingskinder „nicht gegeneinander auszuspielen“. Man verwies darauf, daß „für viele Kinder und Jugendliche in den Wirren des gewalttätigen Konflikts in Kurdistan die Flucht nach Deutschland oft die einzige Chance ist, der unerträglichen Situation von Gewalt, Vertreibung, Menschenrechtsverletzungen oder drohender Zwangsrekrutierung zu entkommen“. Auch der Hinweis von amnesty international, Kinder in der Türkei seien „immer häufiger Opfer staatlicher Gewalt und Folter“, bewirkte kein öffentliches Nachdenken darüber, ob sich unter den 2068 im Jahr 1996 nach Deutschland eingereisten unbegleiteten Minderjährigen vielleicht auch eine ganze Reihe bedrohter Kinder befunden haben mögen. Die Bundesregierung weigert sich bis heute, die Völkerrechtsnormen der UN-Kinderschutzkonvention in der Bundesrepublik voll umzusetzen: Die am 6. März 1992 abgegebene Ratifikationserklärung der Bundesrepublik steht unter dem Vorbehalt, die Konvention dürfe innerstaatliches Ausländerrecht nicht beschränken.

Es war schließlich der niedersächsische Innenminister Gerhard Glogowski, der als Sprecher der SPD-geführten Landesregierung frühzeitig „Kompromißbereitschaft“ signalisierte und damit die Einführung der Visumspflicht für Kinder erst ermöglichte. Glogowski ließ von Anfang an keinen Zweifel daran, daß er die Visumspflicht für Kinder im Prinzip billige. In der Landtagssitzung vom 23. Januar 1997 begründete der Innenminister seine Haltung mit dem Argument, die visumsfreie Einreise werde „mißbräuchlich auch von minderjährigen Personen genutzt, die nicht zu ihren Eltern einreisen und auch nicht nur einen touristischen Aufenthalt bis zu drei Monaten beabsichtigen“. Sodann führte er aus: „Wenn jemand aus Deutschland ein achtjähriges Kind, ohne daß es Eltern in Marokko oder Jugoslawien oder aber in der Türkei gibt, in eines dieser Länder schickt, ohne daß es dort von irgend jemand erwartet wird, dann würde man diesen in Deutschland in meiner Sprache und bei meinen Kumpeln ein Schwein nennen. Denn wer ein Kind in ein fremdes Land schickt, ohne daß es dort erwartet wird, verhält sich sehr schlimm. Umgekehrt ist es im Prinzip genauso. Es kann nicht hingenommen werden, daß Kinder hierhergeschickt werden. Ich mache darauf aufmerksam, daß wir in beachtlichem Umfang Kinderprostitution zu verzeichnen haben.“ (74. Plenarsitzung am 23. 1. 1997)

Es ist der niedersächsischen Justizministerin Heidi Alm-Merk hoch anzurechnen, daß sie diese Äußerungen nicht stehenließ und sich in einer persönlichen Erklärung ungewohnt deutlich vom Innenminister distanzierte: „Ich habe viele Jahre lang im Jugendamt den Bereich Vormundschaft und Pflegschaft betreut und viele unbegleitete Flüchtlingskinder betreuen müssen. Ich war glücklich darüber, daß es Eltern gab, die ihre Kinder angesichts der dramatischen Lage dazu gebracht haben hierherzukommen, und daß sie anerkannt worden sind (…) Deshalb habe ich diese Bezeichnung nicht für gut befunden.“ (ebd.)

Am Abstimmungsverhalten des Landes Niedersachsen ändert diese Erkenntnis freilich nichts. Zwar lehnte der Bundesrat am 14. März 1997 die einen Tag zuvor im Bundestag bestätigte Eilverordnung ab. Zugleich stimmte die Länderkammer jedoch mit großer Mehrheit für den Antrag des Saarlands, eine allgemeine Visums- und Aufenthaltsgenehmigungspflicht für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren aus den ehemaligen Anwerbestaaten einzuführen. Diese Vorlage des Bundesrats wurde vom Bundeskabinett am 2. April 1997 gebilligt und trat am 10. April in Kraft. Die Kernpunkte der neuen Regelung sind:

Staatsangehörige unter 16 Jahren aus den ehemaligen Anwerbestaaten Türkei, Marokko, Tunesien und dem früheren Jugoslawien unterliegen der Visumspflicht.

Dem o. g. Personenkreis wird von Amts wegen eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt, sofern die Einreise nach Deutschland erlaubt erfolgte, die Person sich seither rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat (bzw. nur vorübergehend ausgereist ist), mindestens ein Elternteil eine Aufenthaltsgenehmigung besitzt und die Meldepflicht erfüllt worden ist.

Ist der Aufenthalt der Kinder nicht angezeigt worden, kann bis zum 30. Juni 1998 ein Antrag auf Aufenthaltsgenehmigung gestellt werden.

Keine Chance hatte dagegen der Vorschlag der Ausländerbeauftragten Cornelia Schmalz-Jacobsen (FDP), hier geborenen bzw. aufgewachsenen Kindern ohne deutschen Paß als „Ausgleich“ wenigstens eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Diesen Kindern gelte es zu zeigen, so die Politikerin, daß sie „ohne Wenn und Aber ein willkommener Teil der deutschen Gesellschaft sind“ (FR 23. 1. 1997).

Ebendieses Signal ist politisch nicht gewollt, wie nicht nur an der leidigen Debatte über das völkische Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik deutlich wird. Nach wie vor weigern sich die meisten Politiker in Bonn, die Nachkommen von eingewanderten Migrantinnen und Migranten als Kinder der deutschen Gesellschaft wahrzunehmen und entsprechend zu behandeln. Selbst in der dritten Generation erhalten die Nachkommen von Einwanderern weder automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit noch auch nur Aufenthaltssicherheit in Deutschland.

Genau hier liegt der eigentliche Kern des Problems, das sich nicht erst aufgrund der Einführung der Visums- und Aufenthaltsgenehmigungspflicht für Migrantenkinder stellt, wohl aber durch diese Maßnahme sichtbarer geworden ist: Seid euch nicht sicher, lautet die Botschaft, daß ihr in Deutschland bleiben könnt. Durch deviantes und delinquentes Verhalten gefährdet ihr euer Aufenthaltsrecht.

Die am 1. November 1997 in Kraft getretenen verschärften Ausweisungsbestimmungen im Ausländergesetz sehen keinerlei Ausnahmen für Jugendliche und junge Erwachsene vor, die in Deutschland geboren oder aufgewachsen sind. Zwar genießen sie nach dem Ausländergesetz einen „besonderen Ausweisungsschutz“, sofern sie über eine „unbefristete Aufenthaltserlaubnis“ verfügen. Die generelle Erteilung einer „unbefristeten Aufenthaltserlaubnis“ für diese deutschen Kinder ohne deutsche Staatsangehörigkeit lehnt der Bundesinnenminister jedoch weiterhin kategorisch ab. Dies hat zur Folge, daß jedes Jahr Hunderte von Migrantenkindern im Anschluß an die Verbüßung einer Straftat zusätzlich der archaischen Doppelbestrafung der Verbannung unterworfen werden, in ein Land zumeist, das sie in der Regel kaum kennen und dessen Sprache sie manchmal nicht einmal sprechen.

Betroffen hiervon ist Zekeriye S., ein Sohn türkischer Einwanderer, der seit 23 Jahren im Bundesgebiet lebt und wegen eines BTM-Deliktes zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt wurde. Die Ausweisung ist in solchen Fällen ausländerrechtlich zwingend vorgesehen, wenn kein „besonderer Ausweisungsschutz“ vorliegt. Zwar ist S. im Alter von nur zwei Jahren ins Bundesgebiet eingereist und kennt die Türkei kaum, sein Antrag auf Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis wurde jedoch aufgrund begangener Jugendstrafen mehrfach zurückgestellt. Die Gewährleistung eines besonderen Ausweisungsschutzes sei nicht möglich, so das niedersächsische Innenmninisterium in einer Stellungnahme, „wenn eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bislang nur beantragt wurde oder lediglich die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind“.

Ein anderes Beispiel ist Mikael J., der als Zweijähriger mit seiner Mutter im Rahmen des Familiennachzugs zu seinem im Bundesgebiet lebenden Stiefvater nach Deutschland kam. Mit 16 Jahren wurde ihm aufgrund mehrerer jugendrichterlicher Verurteilungen nur eine auf zwei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, die in der Folgezeit mehrfach befristet verlängert wurde. Nach einer erneuten Verurteilung wegen „Erwerbs von Betäubungsmitteln“ wird Mikael J. nach der zehnmonatigen Haft demnächst aus der Bundesrepublik ausgewiesen werden. In _einem Brief an den Flüchtlingsrat schreibt der heute Fünfundzwanzigjährige: „Ich habe Angst, in ein Land zurückzukehren, welches mein Mutterland ist, das ich aber bis auf zwei Urlaube nicht kenne. Ich kann die Sprache, die in Costa Rica gesprochen wird, nicht sprechen, geschweige denn schreiben. Meine ganzen Verwandten leben in Deutschland und sind teilweise eingebürgert. Ich bin bis auf meinen Paß und meine Hautfarbe deutsch. Ich denke, spreche, schreibe, fühle deutsch. Mein ganzes Leben habe ich in Deutschland gelebt. Deutschland ist meines Erachtens mein Heimatland. Alles ist in Deutschland – Eltern, Familie, Sohn, Freundin, Freunde. Ich weiß nicht weiter …“

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