Publikationen / Grundrechte-Report / Grundrechte-Report 2012

Demon­s­tranten unter Genera­l­ver­dacht? - Funkzel­le­n­ab­fragen als neue Bedrohung der Versamm­lungs­frei­heit

Grundrechte-Report 2012, Seite 100

Am Rande einer Demonstration von Neonazis und der Gegendemonstrationen war es am 19. Februar 2011 in Dresden zu zum Teil heftigen Auseinandersetzungen gekommen. Im Zuge der Aufklärung der damit einhergehenden Straftaten, wie etwa schwerem Landfriedensbruch, Körperverletzungsdelikten etc. (vgl. auch den Artikel von Martin Kutscha auf Seite 127 ff.), beantragte die Dresdener Staatsanwaltschaft eine rückwirkende Abfrage von Nutzerdaten von Telekommunikationen aus Mobilfunkzellen, die sich im Bereich der Auseinandersetzungen befanden.

Nach § 100g Absatz 2 Satz 2 Strafprozessordnung können die Strafverfolgungsbehörden sämtliche, in einem bestimmten Gebiet anfallende Verkehrsdaten (wer mit wem wie lange und von wo elektronisch kommuniziert) aller sich dort aufhaltenden Personen in einer bestimmten Zeitspanne erheben. Zur Aufklärung erheblicher Straftaten ist eine solche Funkzellenabfrage – mittels richterlicher Anordnung – erlaubt, wenn die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsorts eines Beschuldigten auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre.

Die Mobilfunkinfrastruktur erweist sich damit als überaus nützliches Mittel der Sicherheitsbehörden, den Aufenthalt und die Kommunikation von verdächtigen Handynutzern zu ermitteln. Dies geschieht freilich um den Preis einer Erfassung sämtlicher Mobilfunknutzer in dem betreffenden Bereich in einem bestimmten Zeitraum. Oder mit anderen Worten: Je größer das festgelegte Areal ist und je länger der Erfassungszeitraum ist, desto mehr in jeder Hinsicht unverdächtige Bürgerinnen und Bürger müssen sich eine Rasterung daraufhin gefallen lassen, ob sie als Straftäter in Betracht kommen. Und selbstverständlich kann hierbei schon aus technischen Gründen nicht zwischen Telekommunikationen zwischen Normalbürgern und solchen mit besonders zu schützenden Vertrauenspersonen, also Ärzten, Rechtsanwälten, Seelsorgern etc. unterschieden werden.

Über eine Million Handydaten in Dresden erfasst

In Vollzug eines Beschlusses des Amtsgerichts Dresden wurden der Polizei 138.630 Verkehrsdatensätze übermittelt. Diese Datensätze enthielten 65.645 verschiedene Anschlussnummern. Aus diesen Rufnummern wurden anhand von Kriterien wie „Häufung von Telefonaten“ und „Aufenthalt an Tatorten des schweren Landfriedensbruchs“ 460 Anschlüsse von verschiedenen Personen und Institutionen ermittelt, aus denen wiederum die Rufnummern von 379 Einzelpersonen ermittelt wurden.

Im Zuge eines Prüfverfahrens des Sächsischen Datenschutzbeauftragten stellte sich im Nachhinein heraus, dass die Polizei auch aus anderem Anlass, nämlich bei sogenannten Strukturermittlungen gegen eine kriminelle Vereinigung (nach § 129 Strafgesetzbuch), gleichfalls zum Mittel einer Funkzellenabfrage gegriffen hatte. Hiervon betroffen waren am Vortag des 19. Februar 2011 auch Funkzellen, die außerhalb des Demonstrationsgeschehens lagen. Hierdurch kamen die Strafverfolger in den Besitz von weiteren 896.072 Verkehrsdatensätzen, die sodann ebenfalls in die Aufklärung der Straftaten im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen am Rande der Neonazi-Demonstration einflossen. Das Landeskriminalamt stellte daraus über 257.000 Rufnummern fest, zu denen es über 40.000 Personen namentlich ermittelte und in einer Datei speicherte. Nach der Logik der Strafverfolgungsbehörden hätten die im § 129-Verfahren tatverdächtigen Personen auch als Tatverdächtige im Verfahren wegen schweren Landfriedensbruchs in Frage kommen können.

Besonders dreist und respektlos gegenüber verfahrensmäßigen Sicherungen durch den bei Funkzellenabfragen obligatorischen Richtervorbehalt zeigte sich die Staatsanwaltschaft bei der Beantragung der Maßnahme: Ihr Antrag vom 22. Februar 2011 war bereits als richterlicher Beschluss mit dem Briefkopf des Amtsgerichts Dresden ausformuliert. Der Antrag wurde sodann von einem Ermittlungsrichter ohne Änderung unterzeichnet und damit zum Anordnungsbeschluss. Als Verfassungsbruch stellt sich dies schon deswegen dar, weil das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung verlangt, dass die Prüfleistung eines Richters, der einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff anordnet, im Nachhinein rekonstruierbar sein muss. Ob und inwieweit sich der Amtsrichter überhaupt mit dem Sachverhalt und den betroffenen Grundrechten auseinandergesetzt hat, lässt sich angesichts einer solchen Verfahrensweise in keiner Weise nachvollziehen.

Polizei­liche „Erfolge“ als Gefahren für die Versamm­lungs­frei­heit

Im weiteren Verlauf der Ermittlungen wurden in 76 Verfahren die Bestandsdaten von Beschuldigten erhoben und mit den erhobenen Verkehrsdaten abgeglichen (Stand 23. Juni 2011). Derartige Verkehrsdaten wurden dabei auch in Ermittlungsverfahren wegen (einfacher) Körperverletzung, Beleidigung, Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und (einfacher) Sachbeschädigung genutzt. Abgesehen davon, dass es sich hierbei durchgängig nicht um Straftaten von erheblicher Bedeutung handelt und die Verwertbarkeit in einem Urteil daher durchaus fraglich ist, zeitigten die Dresdener Funkzellenabfragen doch ermittlerische Erfolge. Diese indessen hatten einen hohen Preis: Die ganz überwiegende Mehrzahl der zunächst erfassten Mobilfunknutzer waren völlig unverdächtige Versammlungsteilnehmer oder gar gänzlich unbeteiligte Passanten, die einfach nur das „Pech“ hatten, in dem betreffenden Zeitraum und Bereich beispielsweise ein Telefonat geführt oder eine SMS verschickt zu haben. In eben diesem Umstand liegt die grundsätzliche Gefährlichkeit von den hier interessierenden Ermittlungen im Hinblick auf die Versammlungsfreiheit aus Artikel 8 des Grundgesetzes. Diese schützt nicht nur das Recht darauf, an einer Demonstration oder Kundgebung teilnehmen zu dürfen, sondern auch (und gerade!) sich hierzu angstfrei entschließen zu können. Mit dieser Angstfreiheit ist es unvereinbar, damit rechnen zu müssen, aufgrund der Teilnahme an einer Demonstration zum Gegenstand eines wie auch immer gearteten Abgleichs im Rahmen eines gegen andere geführten Strafverfahrens zu werden. Oder anders gewendet: Wer sicher gehen will, nicht in eine solche Rasterung der Mobilfunkteilnehmer im Umfeld einer Versammlung zu geraten, muss Demonstrationen fernbleiben oder aber sein Handy ausschalten und auf diese Weise auf die Ausübung seines Grundrechts auf Telekommunikationsfreiheit verzichten.

Damit lässt sich feststellen: Die Dresdener Funkzellenabfragen zeigen eindrucksvoll, dass die Ermittlungsbehörden durchaus zu unverhältnismäßigen und damit rechtswidrigen Datenerhebungen gegen Zehntausende Bürgerinnen und Bürger greifen, wenn die einschlägigen Regelungen dies nicht ausdrücklich untersagen. Umso dringlicher sind gesetzliche Präzisierungen, die insbesondere auch dem Schutz (hier: des Telekommunikationsgeheimnisses und der Versammlungsfreiheit) von unverdächtigen Bürgern dienen.

Literatur

Bericht des Sächsischen Datenschutzbeauftragten vom 8. September 2011, erhältlich als Landtagsdrucksache 5/6787.

nach oben