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Ernied­ri­gungen in Heili­gen­damm - Die Behandlung von Menschen in Polizei­ge­wahrsam

Grundrechte-Report 2008, Seite 107

Der G8-Gipfel 2008 in Heiligendamm war von einem der größten Polizeieinsätze in der Geschichte der Bundesrepublik begleitet. Mit dem Ziel, maximale polizeiliche Kontrolle auch außerhalb des Absperrzaunes rund um Heiligendamm sicherzustellen, waren Tausende Polizeibeamte Tag und Nacht im Einsatz. Bei Beobachter/innen, Journalist/innen und insbesondere bei den Demonstrant/innen selbst hinterließ die Polizeitaktik zumeist nicht den Eindruck besonnenen Vorgehens mit Augenmaß, sondern einer bewussten Eskalationsstrategie (siehe Beitrag von Elke Steven in diesem Grundrechte-Report, S. 103).

Zu den Folgen dieser Strategie zählen weit über 1.000 Festnahmen von Demonstrant/innen oder Personen, die dafür gehalten wurden. Am Ende wurde nach Polizeiangaben nur jede 10. Freiheitsentziehung richterlich bestätigt (vgl. Pressemitteilung des Innenministeriums von Mecklenburg-Vorpommern Nummer 71 vom 28. Juni 2007).

Polizei­ge­wahr­sam: ein rechtloser Raum

Dass weit über tausend Personen nicht in die bestehenden Strafanstalten eingeliefert werden können, liegt auf der Hand. Die für die Organisation des Großeinsatzes zuständige polizeiliche Sonderdienststelle „Kavala“ hatte daher in Rostock zwei Gefangenensammelstellen („GeSas“) einrichten lassen, wohin alle Festgenommenen eingeliefert wurden. Nach häufig langen Transporten ohne Verpflegung, in überfüllten Bussen, teilweise gefesselt, folgte dort die so genannte Aufnahme. Neben der Personalienfeststellung und der Beschlagnahme aller persönlichen Gegenstände (auch Medikamente, Verpflegung, Hygieneartikel, Telefone etc.) war diese häufig mit einer schikanösen Durchsuchung verbunden: Obwohl mittlerweile mehrfach durch die Gerichte festgestellt wurde, dass keine Person sich im Polizeigewahrsam nackt ausziehen muss (es sei denn, es liegen konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass diese Person gefährliche Gegenstände in der Unterhose transportiert), wurden viele Personen gezwungen, sich vollkommen auszuziehen, sich teilweise sogar nackt breitbeinig mit erhoben Händen an die Wand zu stellen. Währenddessen wurden die durchgebluteten Binden inspiziert. Bitten um neue Hygieneartikel wurden ignoriert. Die Durchsuchungen erfolgten außerdem größtenteils nicht in abgeschlossenen Räumen, sondern lediglich hinter Trennwänden und teilweise unter den Augen aufgehängter Überwachungskameras.

Männer und Frauen sowie Rechte und Linke wurden getrennt auf die Zellen verteilt. Da diese aus 25-50 qm großen, unmöblierten Käfigen bestanden, nebeneinander und gegenüber in einer Fahrzeughalle angeordnet, gab es jedoch keinerlei Privatsphäre. In der GeSa Industriestraße waren über diesen Käfigen außerdem Überwachungskameras angebracht. Telefonate wurden verweigert, Fragen nach Rechtsbeiständen entweder ignoriert oder mit der falschen Auskunft beantwortet, die Anwältinnen und Anwälte hätten keine Zeit (diesen wurde währenddessen der Zugang zur GeSa verweigert). Auch die Verpflegung erfolgte schleppend und bestand aus einer Scheibe Brot, Äpfeln und Wasser. Wer besondere Wünsche hatte (bestimmte Diäten etc.) musste noch länger hungern. Wasser reichte ebenfalls nicht immer für alle. Für Beschwerden fühlte sich niemand zuständig. An Schlaf war bei Dauerbeleuchtung und Lärm durch die Ventilatoren nicht zu denken. Obwohl diese GeSas üblicherweise nur der Unterbringung bis zur (zügig herbeizuführenden) Richterentscheidung dienen, wurden einige Gefangene sogar noch wieder in die Käfige gebracht, als das Amtsgericht deren Langzeitgewahrsam verfügt hatte. In einigen Fällen wurden selbst Personen, deren Freilassung das Amtsgericht verfügt hatte, wieder in die Käfige gesperrt und erst Stunden nach der Richterentscheidung entlassen.

Gericht­liche Überprü­fung? Fehlanzeige!

Nur in der Hälfte der Fälle hat die Polizei dem Amtsgericht Rostock eine Akte zur Entscheidung vorgelegt – und das, obwohl das Gesetz vorschreibt, dass unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen ist, egal, ob es sich um eine Festnahme (also zur Verfolgung einer Straftat) oder um eine Gewahrsamnahme (zur Verhinderung einer Straftat) handelt. Und nur in einem Viertel dieser Fälle ordnete das Gericht das Fortbestehen der Freiheitsentziehung an. In einem Drittel dieser Fälle hob das Landgericht Rostock die Entscheidung des Amtsgerichts auf und ließ die Betroffenen frei. Daraus folgt: ein Großteil dieser Freiheitsentziehungen war rechtswidrig. Den Betroffenen bleibt allerdings nichts anderes übrig, als die Situation einfach zu erdulden. Denn wenn die Polizei die Richtervorführung verzögert, haben sie praktisch keine Chance, etwas dagegen zu tun. Zwar haben sie das Recht, selbst einen Antrag auf richterliche Überprüfung bei Gericht zu stellen. Nur verfügen sie in der Zelle weder über Papier noch Stifte, noch haben sie die Möglichkeit, selbst zum Gericht zu gehen. Diesen Schritt können Anwältinnen und Anwälte übernehmen, denen jedoch in Rostock der Zugang zu den Gefangenen meist verweigert wurde. Die Polizei hat einfach von ihrem „Hausrecht“ – auch über das in die GeSa ausgelagerte Gericht – Gebrauch gemacht und zeitweise alle Anwältinnen und Anwälte der GeSa verwiesen.

Am Ende musste amnesty international (ai) herhalten, um das Verhalten der Polizei zu rechtfertigen: ai hatte die GeSa Industriestraße am 01. Juni 2007 besichtigt. Den Vertretern von amnesty kam es vor allen Dingen darauf an, dass genügend Raum für eine ausreichende sanitäre und medizinische Versorgung bestand, zum anderen Räume für Anwaltskontakte zur Verfügung ständen. Über den konkreten Vollzug des Gewahrsams konnte ai aber gerade keine Stellungnahme abgeben, da die GeSa bei der Besichtigung leer war. Und obwohl ai dies schon in einer Pressemitteilung vom 13. Juni 2007 klarstellte, beruft sich das Innenministerium Meckenburg-Vorpommern zur Rechtfertigung der Gewahrsamspraxis nach wie vor auf diesen Besuch von ai.

Abschreckung und Ersatzbestrafung

Dabei war die Polizei keinesfalls unvorbereitet: Masseningewahrsamnahmen ähnlichen Ausmaßes waren während der Castor-Transporte ins Wendland lange Jahre die Regel – bis die Rechtsprechung dem einen Riegel vorschob. Der Polizei sind daher die rechtlichen Anforderungen an Freiheitsentziehung und Behandlung der Gefangenen bekannt. Dass sie diese ignoriert hat, zeigt, dass das Instrument polizeilicher Freiheitsentziehung vor allem diesen Zweck hat: Ersatzbestrafung unliebsamer Personen und Abschreckung. Denn wo willkürliche Festnahmen in einem unberechenbaren Gewahrsam enden, ist die Demonstrationsfreiheit eine schöne Illusion.

Auch im Land Mecklenburg-Vorpommern, welches sehr wahrscheinlich nie wieder einen G8-Gipfel erleben wird, wird das Verhalten der Polizei die Gerichte noch lange beschäftigen. Am Ende werden die Betroffenen in vielen Fällen Recht bekommen: Die Freiheitsentziehungen waren rechtswidrig, die Verweigerung von Rechtsbeiständen und die schikanöse Behandlung und Unterbringung ebenso. Die seelischen Narben jedoch bleiben. Und auf dem finanziellen Schaden bleiben die Betroffenen ebenfalls sitzen: Schadensersatz wird meist nicht gezahlt (siehe Beitrag von Till Müller-Heidelberg, Grundrechte-Report 2007, S. 124), und die Gerichte erlegen teilweise auch dann die Kosten des Verfahrens den Betroffenen auf, wenn die Polizeimaßnahmen rechtswidrig waren. Selber schuld, wer demonstrieren geht.

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