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Mit Gewalt Fakten schaffen

Grundrechte-Report 2011, Seiten 112 – 116

Seit der Entscheidung zum »Hamburger Kessel« (Az.: VG 2442/86, 30. Oktober 1986) ist gerichtlich geklärt, dass die polizeiliche Einkesselung von Demonstrierenden rechtswidrig ist. Damals, am 8. Juni 1986, waren auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg über 800 Personen bis zu 13 Stunden von der Polizei hinter Absperrgittern festgehalten worden. Trotz gerichtlich festgestellten Schadenersatzansprüchen für jeden einzelnen Demonstrierenden hat sich an der polizeilichen Praxis kaum
etwas geändert.

Auch bei den Protesten gegen die Castor-Transporte ins Wendland werden seit 14 Jahren immer wieder solche rechtswidrigen Maßnahmen festgestellt. Wiederholt hat das OLG Celle entschieden, dass die Einkesselung von Gruppen und die willkürliche Festnahme größerer Gruppen keine rechtmäßigen Maßnahmen der Polizei im Umgang mit Versammlungen sind: So waren der Karwitzer Kessel 1996, der Langendorfer Kessel 1997, die Festnahmen in Aljarn und Hitzacker 2001, der Kessel auf dem Gelände der Freien Schule in Hitzacker 2002, die Einkesselung in Grippel und die des Dorfes Laase 2003 rechtswidrig.

Aber auch die Ingewahrsamnahmen einer Vielzahl von Demonstrierenden, die gegen die Politik des G8-Gipfels in Heiligendamm protestierten, waren von Beginn an rechtswidrig. So urteilte das Verwaltungsgericht Schwerin drei Jahre nach dem G8-Gipfel im Oktober 2010. Des Weiteren verstießen die Haftbedingungen in Käfigen gegen die Menschenwürde. Mehr als 1100 Menschen waren festgenommen und in mobilen Gewahrsamszellen auf nacktem Steinboden, rund um die Uhr bei Neonlicht videoüberwacht, festgehalten worden.

Einkes­se­lungen und unver­hält­nis­mä­ßige Gewalt

All diese Entscheidungen führen jedoch nicht dazu, dass sich die Polizei im Umgang mit Versammlungen an Recht und Gesetz hält. Während des Transports von hochradioaktivem Müll ins Zwischenlager in Gorleben im November 2010 wurden diejenigen, die sich im Wendland auf den Schienen an einer Sitzblockade beteiligt hatten, in der Nacht von Sonntag auf Montag (7./8. November 2010) vom Ort des Geschehens in eine Wagenburg aus Polizeifahrzeugen unter freiem Himmel verbracht. Sie mussten in diesem Kessel über Stunden bei Minustemperaturen ausharren. Eine richterliche Entscheidung wurde nicht herbeigeführt. Erneut ein offensichtlich rechtswidriger Kessel! Der erzwungene Aufenthalt bei eisiger Kälte ist zudem als Körperverletzung einzustufen. Vor der Räumung war das Gleis über lange Zeit offen zugänglich gewesen. Die zur Sitzblockade strebenden Bürger und Bürgerinnen wurden nicht aufgehalten und nicht darüber informiert, dass die Versammlung aufgelöst oder rechtswidrig sei.

Andererseits wandte die Polizei am Sonntag gegenüber Demonstrierenden, die sich den Gleisen an anderer Stelle nähern wollten, sofort physische Gewalt an. Wenn man keine Gefangenen macht, dann muss man gemäß dieser eigenen polizeilichen Logik wohl an selbst geschaffenen Fronten Feinde bekämpfen und ohne jede Kommunikation und Vorankündigung die Gewaltmittel – Schlagstöcke, Pfefferspray, CS-Gas, Pferde, Wasserwerfer – einsetzen. Zwar galt ein Versammlungsverbot – über dessen Rechtmäßigkeit auch zu streiten wäre – für einen 50 Meter breiten Korridor beiderseits der Schiene. Polizeiliche Angriffe erfolgten jedoch auch weit außerhalb dieser Verbotszone. In beiden Bereichen hätten Versammlungen vor dem Einsatz polizeilicher Zwangsmittel erst ordnungsgemäß aufgelöst werden müssen. Eine strafrechtliche Verfolgung dieser Einsätze wird schwierig sein, weil die Verletzten kaum einen einzelnen Beamten als Täter benennen können. Auch französische Polizei war an diesem Gewalteinsatz beteiligt. Zwei Angehörige der französischen Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS), die in Frankreich als besonders brutal gilt, waren in den Einsatz der Bundespolizei integriert. Polizeibeamte aus diversen anderen europäischen Staaten waren beobachtend beteiligt, traten aber in ihren jeweiligen Uniformen auf.

Dieses Vorgehen entspricht dem Gewalteinsatz gegen die Stuttgarter Bürger und Bürgerinnen, die am 30. September 2010 gegen den Plan »Stuttgart 21« im Schlossgarten demonstrierten. Auch sie wurden von brutaler Polizeigewalt getroffen, als es darum ging, einen Abriss schnell umzusetzen. Obwohl die Proteste gegen den Bau des unterirdischen Bahnhofs friedlich verliefen, setzte die Polizei an diesem Mittag gegen
die Bürger, unter denen auch viele Jugendliche waren, Wasserwerfer,
Schlagstöcke und Pfefferspray ein. Obwohl mit Wasserwerfern nicht auf Köpfe gezielt werden darf, erlitten mehrere Personen schwere Augenverletzungen. In Stuttgart ist ein Untersuchungsausschuss des Landtags gegründet worden, der auch eine mögliche politische Einflussnahme auf den Polizeieinsatz aufklären soll.

Durch­su­chungen und Video­über­wa­chung

Auch bezüglich weiterer inzwischen fast selbstverständlicher polizeilicher Vorgehensweisen gegen Versammlungen sind im Jahr 2010 Urteile über deren Rechtswidrigkeit ergangen. So entschied das BVerfG am 12. Mai 2010 (1 BvR 2636/04), dass eine Auflage, die die Durchsuchung aller Teilnehmer vor einer Versammlung vorschreibt, rechtswidrig ist. Wieder einmal stellt das Verfassungsgericht fest, dass auch eine Beschränkung der Art und Weise der Durchführung einer Versammlung einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit darstelle. Eine solche Auflage behindere den freien Zugang und sei geeignet, eine
einschüchternde und diskriminierende Wirkung zu entfalten. Eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit sei nur möglich, wenn die öffentliche Sicherheit oder Ordnung unmittelbar gefährdet sei. Eine Gefahrenprognose müsse »konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte« enthalten. »Bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen« reichten nicht aus.

Die Videoüberwachung von Versammlungen ist längst gängige Praxis geworden, obwohl sie nur angesichts von »tatsächlichen Anhaltspunkten« für »erhebliche Gefahren« für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung vom Versammlungsgesetz vorgesehen ist. Das BVerfG hat in seiner Entscheidung zum Bayerischen Versammlungsgesetz die anlasslose Aufzeichnung des gesamten Versammlungsgeschehens als unzulässigen Eingriff in das Grundrecht gewertet. Am 5. Juli 2010 hat das Verwaltungsgericht Berlin festgestellt (1 K 905.09), dass die Videoüberwachung einer Demonstration gegen die Nutzung der Atomenergie im August 2009 in Berlin rechtswidrig war. Auch wenn »nur« Übersichtsaufnahmen angefertigt und diese nicht aufgezeichnet werden, sei dies zum einen für den Bürger nicht
erkennbar. Des Weiteren sei ein gezieltes Heranzoomen von Personen jederzeit möglich, so dass »durch das Gefühl des Beobachtetseins« die Teilnehmenden »eingeschüchtert« oder gar von der Teilnahme abgehalten werden könnten. Mit Bezug auf das BVerfG urteilt das Verwaltungsgericht Berlin: »Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.« Entsprechend entschied der 5. Senat des Oberverwaltungsgerichts NRW am 23. November 2010 (5 A 2288/09).

Zu befürchten ist allerdings, dass in den neuen Länderversammlungsgesetzen – gemäß den Forderungen der Polizeigewerkschaft – weitere gesetzliche Ermächtigungen für die
Videoüberwachung geschaffen werden.

Die Eingriffsbefugnisse der Polizei und ihre Möglichkeiten, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit einzuschränken, sind auch dann, wenn sie sich an Recht und Gesetz halten, weitgehend. Die Frage ist, wie sie zumindest in diese Grenzen verwiesen werden können. Und höchste Aufmerksamkeit gilt all den Versuchen, die rechtlichen Eingriffsbefugnisse auszudehnen.

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