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„Nur zur Lenkung und Leitung eines Polizei­ein­satzes“ - Video­über­wa­chung bei Versamm­lungen

Grundrechte-Report 2013, Seite 117

Sie sind aus der Versammlungspraxis der letzten Jahre nicht wegzudenken: Die Kamerawagen der Polizei mit der irreführenden Aufschrift „TV-Bildübertragung“, auf deren Dach ein hydraulischer Mast mit Videokamera installiert ist, oder die mit einer erhöhten Plattform ausgestattet sind, auf der ein Polizeibeamter mit einer Videokamera postiert ist. Diese Wagen fahren meist an der Spitze einer Demonstration; die Kameras permanent auf die Versammlung gerichtet. Jede/r, die/der sich jemals mit einem solchen Kamerawagen konfrontiert gesehen hat, kennt ihre abschreckende und einschüchternde Wirkung. Außerdem sieht sich die/der engagierte Grundrechtsträger/in regelmäßig Polizeibeamt/innen mit Stabkamera gegenüber. Diese werden – ob aufzeichnend oder nicht, ist meist nicht erkennbar – auf die Versammlungsteilnehmer/innen gerichtet, ohne dass im Einzelfall deutlich wird, was der Anlass für diese polizeiliche Maßnahme sein könnte. „The police is taping you“ ist eine permanente Erfahrung von Versammlungsteilnehmer/innen.

Übersichts­auf­nahmen sind Grund­recht­s­ein­griffe

Das Oberverwaltungsgericht Münster (Az. 5 A 2288/09) – das Verwaltungsgericht (VG) Münster bestätigend – und das VG Berlin (Az.: 1 K 905.09) haben 2010 erfreulicherweise klargestellt, dass die Beobachtung einer Versammlung mittels eines Video-Wagens der Polizei und die Übertragung der so gewonnenen Bilder in Echtzeit nach dem so genannten Kamera-Monitor-Prinzip einen Eingriff in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit darstellt und schon mangels Rechtsgrundlage rechtswidrig ist. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass allein die Beobachtung von Versammlungsteilnehmer/innen durch Anfertigung von Übersichtsaufnahmen geeignet ist, bei diesen ein Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen und diese in ihrem Verhalten zu beeinflussen oder von der Teilnahme an der Versammlung abzuhalten. Diese Wirkung besteht, so die Gerichte, auch unabhängig davon, ob die Bilder aufgezeichnet werden.

Die Entscheidungen waren klar und in ihrer Begründung nicht weiter überraschend. Der Gesetzesvorbehalt des Grundgesetzes lässt einen Grundrechtseingriff nur auf Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung zu, die in Bezug auf die Anfertigung von Übersichtsaufnahmen bei Versammlungen nicht gegeben ist. Die von der Polizei immer wiederholte Argumentation, Übersichtsaufnahmen würden keinen Grundrechtseingriff darstellen, wurde schon seit Jahrzehnten nicht mehr von ernst zunehmenden Jurist/innen vertreten.

Die polizei­liche Praxis auf den Prüfstand stellen

Wenn offensichtlich jahrelang durch polizeiliche Maßnahmen in Grundrechte von Versammlungsteilnehmer/innen eingegriffen wird, ohne dass es dafür eine Ermächtigungsgrundlage gibt, liegt es nahe, das gesamte Arsenal polizeilicher Maßnahmen rund um Versammlungen einer Rechtmäßigkeitskontrolle zu unterziehen. Handlungsbedarf gibt es beispielsweise angesichts der verbreiteten Praxis, Versammlungsteilnehmer/innen vor dem Betreten des Versammlungsortes einer anlassunabhängigen Durchsuchung der Person und der von ihr mitgeführten Sachen zu unterziehen. Auf Nachfrage wird von den Polizist/innen immer wieder mitgeteilt, dass dies zulässig sei bzw. ein Gefahrenverdacht sich – etwa angesichts schwarzer Bekleidung oder aufgrund mitgeführter Taschen – aus der „kriminalistischen Erfahrung“ ergebe. Üblich – und nicht minder rechtswidrig – ist die Praxis der Polizei, vor Beginn der Versammlung mitgeführte Transparente und Flugblätter auf ihren Inhalt hin zu überprüfen; ein Vorgehen, das landläufig als Zensur bekannt ist. Die Liste ließe sich durch die Begleitung der Demonstration im Spalier oder das permanente Betreten des Versammlungsortes durch Polizeibeamt/innen in Kleingruppen – sei es uniformiert oder in zivil – fortsetzen. Die Urteile aus Münster und Berlin hätten Anlass für eine Nachschulung der Vollzugsbeamt/innen in Sachen Grundrechtsschutz geben können.

Der Berliner Gesetz­ent­wurf

Der Berliner Senat ist aber einen anderen Weg gegangen. Mit der Drucksache 17/0642 vom 9. November 2012 hat die Spitze der Exekutive dem Abgeordnetenhaus einen „Gesetzentwurf über Übersichtsaufnahmen zur Lenkung und Leitung von Polizeieinsätzen bei Versammlungen unter freiem Himmel“ vorgelegt. Danach soll die Polizei Übersichtsaufnahmen von Versammlungen unter freiem Himmel sowie ihrem Umfeld anfertigen dürfen, wenn dies wegen der Größe oder Unübersichtlichkeit der Versammlung zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes erforderlich sei. Diese Übersichtsaufnahmen seien offen anzufertigen und dürften nicht aufgezeichnet werden. Zur Begründung wird ausgeführt, dass bei großen und unübersichtlichen oder gefahrenträchtigen Versammlungen Übersichtsaufnahmen ein wesentliches Instrument zur Gewährleistung einer erfolgreichen Einsatzbewältigung darstellen und eine ergänzende und teilweise die einzige Möglichkeit bieten würden, schnell und angemessen auf das jeweilige Geschehen reagieren zu können. Eine eingehende Begründung für die Notwendigkeit einer solchen Rechtsgrundlage fehlt hingegen ebenso wie praxistaugliche Begrenzungen für die Gestattung des damit verbundenen erheblichen Grundrechtseingriffs.

Falscher Fokus

Der Gesetzentwurf enthält keine tragfähigen tatbestandlichen Begrenzungen. Allein der Begriff der „Übersichtsaufnahme“ ist ungenau und verhindert nicht, dass Personen so herangezoomt werden, dass sie individualisierbar sind. Auch ist vollkommen offen, wann eine Versammlung im Einzelfall so groß oder unübersichtlich ist, dass die Anfertigung von Übersichtsaufnahmen zulässig sein könne. Schon der Ausgangspunkt der Gesetzentwurfsbegründung begegnet tiefgreifenden Bedenken. Die Frage ist doch, ob der Einsatz eines Kamerawagens an der Spitze eines Demonstrationszuges, mit dem nur der vordere Teil einer Demonstration beobachtet wird, überhaupt geeignet sein kann, einen Polizeieinsatz anlässlich einer Demonstration mit (zehn-)tausenden Teilnehmer/innen zu lenken oder zu leiten. Nicht nur zu dieser und anderen Fragen der Geeignetheit, auch zur  Erforderlichkeit schweigt der Entwurf. Und das obwohl die Berliner Polizei seit Juli 2010 offensichtlich ohne Anfertigung von Übersichtsaufnahmen von Versammlungen ausgekommen ist. Dadurch etwaig entstandene Probleme bei der Leitung von Polizeieinsätzen werden in der Gesetzesentwurfsbegründung nicht referiert.

Bezeichnend ist schließlich, dass sich der Berliner Senat nicht mit den Einschüchterungs- und Abschreckungseffekten auseinandersetzt, die durch die permanente Videobeobachtung bei Versammlungsteilnehmer/innen hervorgerufen werden und von den genannten Gerichtsentscheidungen besonders betont worden waren. Gleichwertige Rechtsgüter, zu deren Schutz der Eingriff in die Versammlungsfreiheit gerechtfertigt werden könnte, sind nicht ersichtlich. Der Gesetzentwurf zielt damit alleine darauf ab, der Vollzugspolizei ein ihr lieb gewonnenes Instrument wieder zur Verfügung zu stellen. Durch die Missachtung der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit und der Auswirkungen auf die Versammlungsfreiheit als eines der zentralen Grundrechte schliddert der Entwurf direkt in die Verfassungswidrigkeit.

Literatur

Koranyi, Johannes/ Singelnstein, Tobias: Rechtliche Grenzen für polizeiliche Bildaufnahmen von Versammlungen. Neue Juristische Wochenschrift 2011, S. 124 ff.

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