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Wider staatliche Einschüch­te­rungs­stra­te­gien - Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt rügt bayerischen Versamm­lungs­ge­setz­geber

Grundrechte-Report 2010, Seite 117

Alljährlich wird im Grundrechte-Report von den vielfältigen staatlichen Eingriffen in die Grundrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit berichtet. Demonstrationen werden mit Auflagen in ihren Ausdrucksmöglichkeiten eingeschränkt, sie werden entgegen den versammlungsgesetzlichen Vorschriften anlasslos videographiert oder durch Allgemeinverfügungen gleich gänzlich verboten. Demonstrierende werden eingekesselt und in Gewahrsam genommen, gegen Anmeldende wird Strafverfolgung eingeleitet, die erst, wenn überhaupt, gerichtlich abgewehrt werden kann. Alle Übergriffe können gar nicht aufgezählt werden. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat sich in seinen Entscheidungen oft für ein bürgerrechtlich offen ausgelegtes Grundrecht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit ausgesprochen und das bestehende Versammlungsgesetz immer wieder, wenn auch nicht oft genug, zu Gunsten der Demonstrierenden ausgelegt, obwohl auch dieses Gesetz eine Menge Eingriffsmöglichkeiten für die Polizei vorsieht.

Nach der Föderalismusreform war Bayern das erste Land, das die Chance nutzen wollte, mit einem eigenen Landesgesetz weitergehende Eingriffsmöglichkeiten zu schaffen und der Polizei nach ihrem Gutdünken Möglichkeiten des Verbots, der Auflösung, der Überwachung und Abschreckung an die Hand zu geben (vgl. Wolf-Dieter Narr in Grundrechte-Report 2009, S. 123ff). Die CSU konnte das Gesetz kurz vor Ende der Legislaturperiode im Juli 2008 im Alleingang durchsetzen. Die nach der Wahl mitregierende FDP hatte sich noch an der Klage von dreizehn Organisationen beim BVerfG gegen dieses Gesetz beteiligt.

Gesin­nungs­loses Gesetz?

Seit der Föderalismusreform geistert die Idee durch die Länder, Versammlungsgesetze zu schaffen, die Versammlungen der extremen Rechten leichter verbieten lassen. Das BVerfG hat immer wieder betont, dass Meinungsfreiheit nicht nur für genehme Meinungen gilt und Versammlungsfreiheit nicht an Gesinnung gebunden ist. Die bayerische Regierung war allerdings konsequent, als sie von Beginn an in den Begründungen für das Gesetz argumentierte, dass es darum gehe, rechts- wie linksextreme Versammlungen zu unterbinden. „Besondere Probleme bereiten in der Praxis rechtsextremistische Versammlungen, … Linksextremistische Versammlungen sind dagegen zunehmend durch ein militantes, aggressives Auftreten von Versammlungsteilnehmern, insbesondere sog. „Schwarzer Blöcke“ geprägt. Die Veranstalter und Teilnehmer missbrauchen häufig die Versammlungsfreiheit …“. Mit unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln soll diesem „Extremismus“ begegnet werden.

Die Kläger nahmen in ihrer Verfassungsbeschwerde, die mit einem Antrag auf einstweilige Anordnung verbunden war, ausdrücklich die Vorschriften aus, „die spezifischen Gefahren rechtsextremistischer Versammlungen begegnen sollen“, wie das BVerfG in seiner Pressemitteilung zur Eilentscheidung vom 27. Februar 2009 ( 1 BvR 2492/08) feststellt. Diesbezüglich konnte das Gericht folglich nicht entscheiden.

Das BVerfG greift in seiner einstweiligen Anordnung der Entscheidung im Verfassungsbeschwerdeverfahren voraus. Es betont, dass es nur mit größter Zurückhaltung von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, die in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers eingreift. Und es macht damit deutlich, dass zumindest ein Teil der Regelungen das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit so stark gefährdet, dass ein solcher Vorgriff nötig sei. Es setzt die Vorschriften außer Kraft, mit denen Veranstalter bezüglich Bekanntgabe-, Anzeige- und Mitteilungspflichten, Leiter bezüglich der Mitwirkungspflicht und Teilnehmer über das Militanzverbot mit Bußgeldern bedroht waren. Es argumentiert, dass es auf diesem ‚Umweg‘ auch die den Bußgeldtatbeständen zugrunde liegenden Vorschriften in ihre Grenzen verweist, ohne sie explizit aufzuheben. Das bayerische Gesetz wolle die „einschüchternde Wirkung“, die von Demonstrationsteilnehmern ausgehen könne, verbieten. Es liefere diese aber einem „schwer kalkulierbaren Risiko einer persönlichen Sanktion“ aus, wie es das Gericht formuliert. So entstehe durch das Gesetz ein Einschüchterungseffekt, der Bürgerinnen und Bürger von der Inanspruchnahme des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit abschrecken könne.

Kein Video ohne Anlass

Auch der anlasslosen Aufzeichnung des gesamten Versammlungsgeschehens (Artikel 9 Absatz 2 Satz 2 BayVersG) trat das Gericht entgegen. Diese bedeute, dass jeder Demonstrierende allein aufgrund seiner Teilnahme damit rechnen müsse, abgelichtet und identifiziert zu werden. Solche Nachteile darf es nicht pauschal für die geben, die ein für die „demokratische Meinungsbildung elementares Grundrecht“ in Anspruch nehmen. Das höchste Gericht stellt einmal mehr fest: „Übersichtsaufzeichnungen sind nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von der Versammlung erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen …“. Gerade weil das Filmen aber in der Praxis längst ausufernd stattfindet, ist auch eine aktuelle Entscheidung des VG Münster so wichtig, das sich ebenfalls gegen eine anlasslose Videoüberwachung ausspricht (vgl. Wilhelm Achelpöhler in diesem Band, S. 39 ff.).
Die derzeitige bayerische Regierung, an der die FDP nun beteiligt ist, arbeitet an einem neuen Gesetzentwurf. Die neue sächsische Regierung aus CDU und FDP hat am 30. Oktober 2009 den Entwurf eines Versammlungsgesetzes vorgelegt. Dort war bisher betont worden, dass sich ein neues Versammlungsgesetz gegen die extreme Rechte wenden solle. Nun soll das Gesetz allgemein „Extremisten in Sachsen deutliche Grenzen setzen“. Vor allem die Verletzung der „Würde der Opfer“ soll weitgehende Auflagen und Verbote für Versammlungen ermöglichen. Als Opfer werden sowohl die der nationalsozialistischen als auch die der kommunistischen Gewaltherrschaft verstanden. Opfer im Sinne dieses Gesetzes ist auch die von der Bombardierung Dresdens betroffene Zivilbevölkerung. Ein ausufernd-unbestimmter Rechtsbegriff wie „die Würde der Opfer“ wird auch hier vor allem der Willkür Tür und Tor öffnen. Der Streit um die Versammlungsfreiheit, um ein von der Gesinnung unabhängiges Grundrecht, muss vor allem auf der Straße geführt werden. Manchmal wird das BVerfG diesem Kampf hilfreich zur Seite stehen.

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