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Grundrecht auf ungestörtes Sozial­dum­ping? - Die Fälle Viking, Laval und Rüffert vor dem Europä­i­schen Gerichtshof

Grundrechte-Report 2009, Seite 131

Ende 2007 hat der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) in zwei Entscheidungen erstmalig über das Verhältnis der wirtschaftlichen Grundfreiheiten von Unternehmen zum Streikrecht der Gewerkschaften entschieden. In den besagten Urteilen „Laval“ und „Viking“ ging es um die Frage, ob Streik- und Protestaktionen von Gewerkschaften zulässig sind, um das nationale Lohniveau zu verteidigen, wenn die bestreikten Unternehmen in der EU grenzüberschreitend tätig sind. Im April 2008 folgte eine Entscheidung über die europarechtliche Zulässigkeit von Tariftreueklauseln bei der öffentlichen Auftragsvergabe („Rüffert“). Die Urteile haben eine intensive Debatte über die soziale Verfasstheit der EU und deren notwendigen Korrekturen ausgelöst.

Viking: Streikrecht unter Vorbehalt

Der Viking-Entscheidung des EuGH vom 11.12.2007 lag der Fall zugrunde, dass die finnische Reederei Viking-Line ihr Fährschiff „Rosella“, das die Strecke Helsinki-Tallinn befuhr, von Finnland nach Estland ausflaggen wollte, um dort für die Besetzung niedrigere Tarifentgelte zu vereinbaren und dadurch die Kosten zu verringern. Um das zu verhindern, beschloss die finnische Seeleute-Gewerkschaft, Schiff und Reederei mit gewerkschaftlicher Unterstützung der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF) zu bestreiken. Die ITF forderte die estnische Seeleute-Gewerkschaft zusätzlich auf, keine Tarifverträge mit Viking für die „Rosella“ abzuschließen. Die Verhinderung von Dumping-Wettbewerb über niedrige Heuern ist wesentliche Satzungsaufgabe der ITF. Daraufhin verklagte Viking die ITF an deren Sitz in London auf Unterlassung dieser kollektiven Maßnahmen. Der Londoner Court of Appeal sah die Niederlassungsfreiheit betroffen und legte die Sache dem EuGH zur Entscheidung vor.

In seiner Entscheidung stellt der EuGH zunächst einmal fest, dass es sich bei dem Streikrecht um ein Grundrecht handelt, das fester Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts sei. Demnach dürfen Gewerkschaften Tarifverträge im Bereich der Arbeitnehmerentsendung generell auch arbeitskampfförmig gegen ausländische Unternehmen durchsetzen. Allerdings schränkt der EuGH die Ausübung dieses Koalitionsrechts erheblich ein, wenn und soweit sie ihrerseits in die Dienstleistungsfreiheit oder die Niederlassungsfreiheit des betroffenen Unternehmens eingreift. Kampfmaßnahmen gegen die Vereinbarung von Billig-Tarifen am neuen ausländischen Betriebssitz werden demnach als potentielle Eingriffe in die Niederlassungsfreiheit gewertet. Obwohl in der Regel Unternehmen nur vor staatlichen Beschränkungen europarechtlich geschützt werden, soll hier ein Eingriff auch von Gewerkschaften – durch Tarifverträge als quasi mittelbare staatliche Maßnahmen – ausgehen können.

Laut EuGH sind gewerkschaftlichen Maßnahmen nur dann zulässig, wenn sie „durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt“ und außerdem geeignet seien, dieses Gemeininteresse auch tatsächlich und angemessen durchzusetzen.

Das danach notwendige Beschäftigungs-Ziel der gewerkschaftlichen Aktion sei dann anzunehmen, wenn die Verhinderung des Ausflaggens dem „Schutz der Arbeitsplätze und der Arbeitsbedingungen“ der betroffenen Gewerkschaftsmitglieder dienten. An dieser Grundvoraussetzung fehle es freilich immer dann, „wenn erwiesen wäre, dass die fraglichen Arbeitsplätze oder Arbeitsbedingungen nicht gefährdet oder ernsthaft bedroht waren“. Anders formuliert: Nur im Falle einer Gefährdung oder ernsten Bedrohung bestehender Arbeitsplätze oder Arbeitsbedingungen von Gewerkschaftsmitgliedern legitimiert die gemeinschaftliche Koalitionsfreiheit hierfür geeignete und verhältnismäßige gewerkschaftliche Schutzmaßnahmen. Ob dies im Falle Viking gegeben war, muss gerichtlich vor Ort festgestellt werden.

Laval: Entsen­de­richt­linie schützt nicht vor Lohndumping

In der Entscheidung vom 18.12.2007 ging es um das lettische Bauunternehmen Laval, das überwiegend mit lettischen Arbeitnehmern in Schweden (Vaxholm) beim Bau einer Schule tätig werden sollte und seine Bauarbeiter dort nach dem einschlägigen lettischen Tarifvertrag entlohnte. Die höheren schwedischen Bau-Tarifverträge wurden nicht angewendet. Dagegen ging die schwedische Baugewerkschaft vor, indem sie die Firma Laval und die gesamte Schul-Baustelle bestreikte. Über die Zulässigkeit des Streiks hatte der EuGH zu entscheiden.

Anders als bei der Viking-Entscheidung ging es bei Laval um einen Fall der Entsendung von Arbeitnehmern. Im Zentrum des EuGH-Urteils lag deswegen die Auslegung der EU-Entsenderichtlinie. Nach dieser Richtlinie wird verbindlich vorgegeben, wann aus einem anderen EU-Mitgliedstaat entsandte Arbeitnehmer den inländischen Arbeitnehmern arbeitsrechtlich gleichzustellen sind. Eine zentrale Bedingung ist allerdings, dass die einschlägigen Tarifvereinbarungen staatlich für allgemeinverbindlich erklärt worden sind.

Der EuGH stellt nun fest, dass die Tarife zusätzlich dem „Arbeitnehmerschutz“ dienen müssten, denn nur dann seien sie gegenüber der Dienstleistungsfreiheit des betroffenen Unternehmens gerechtfertigt. Dies sei nur der Fall, wenn sich die Forderungen auf die wenigen Mindestschutzbestimmungen der Entsenderichtlinie beschränkten.

Darin liegt eine ganz wesentliche Einschränkung der grundgesetzlichen Koalitionsfreiheit – aber auch der kollektiven Rechte in den anderen Mitgliedstaaten – , weil der mit der staatlichen AVE verbundene Druck, den Mindestsockel tariflicher Entgelt-, Arbeitszeit- und Urlaubsregelungen behördlicher Billigung unterziehen zu müssen, zwangsläufig auf die nationalen „Hauptverhandlungen“ durchschlagen muss. Er beeinträchtigt damit die gewerkschaftliche Durchsetzungsfähigkeit und die Tarifautonomie für den Großteil ihrer Mitglieder auf den nationalen Arbeitsmärkten, die doch nach Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz gerade vor staatlichen Eingriffen geschützt werden sollen.

Ausschluss der Günstig­keits­klausel

Man fragt sich allerdings, wie diese grundrechtswidrige Auswirkung der Entsenderichtlinie bislang verborgen bleiben konnte und stößt dann auf die Günstigkeitsregel des Artikel 3 Absatz 7 Entsende-Richtlinie, wonach die Mindestschutzvorschriften „der Anwendung von für die Arbeitnehmer günstigeren Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen nicht entgegen“ stehen. Danach wären zusätzliche, über den zwingenden Mindeststandard hinausgehende Tarifverträge nach nationalem Recht prinzipiell ebenfalls auf die Entsendefälle anwendbar. Der EuGH lehnt dieses Verständnis des Artikel 3 Absatz 7 Entsenderichtlinie jedoch äußerst formelhaft ab, weil „eine derartige Auslegung darauf hinaus (liefe), der genannten Richtlinie ihre praktische Wirksamkeit zu nehmen“. Er versteht die Günstigkeitsregel daher so, dass der entsendende Unternehmer günstigere Tarife im Aufnahmestaat nur „aus freien Stücken“ auf die entsandten Arbeitnehmer anwenden dürfe. Tatsächlich wäre die „automatisch“ zwingende Anwendung aller günstigeren Tarifverträge unvereinbar mit der vorherigen Beschränkung auf Mindestsätze. Unter diesem Aspekt bliebe es dagegen unproblematisch, wenn ein ausländischer Unternehmer die günstigeren Bestimmungen z.B. in einzelnen Tarifverträgen vor Ort zusätzlich vereinbarte und wenn ein solcher Abschluss möglicherweise durch national zulässige Arbeitskämpfe gewerkschaftlich durchgesetzt werden müsste. Diesem Risiko sind seine nationalen Konkurrenzunternehmen ständig gleichermaßen ausgesetzt, weil es dem Tarif- und Arbeitskampfrecht in Deutschland entspricht. Genau diese „normale“ Tarifautonomie schließt der EuGH jedoch aus, obwohl sie keinen Widerspruch zur primären Geltung von allgemeinverbindlichen unteren Mindesttarifsätzen nach der Entsenderichtlinie enthält.

Rüffert: Tarift­reu­e­klau­seln ausgehebelt

In der Entscheidung der Rechtssache Rüffert vom 3.4.2008 wendet der Gerichtshof die oben dargestellten Grundsätze auch auf sog. Tariftreueklauseln an. Danach ist die Verpflichtung ausländischer Unternehmer auf Einhaltung ortsüblicher Tarifverträge bei der Erfüllung öffentlicher Aufträge auch nur noch im Rahmen der Entsenderichtlinie zulässig. Soweit ein ausländischer Unternehmer also in Deutschland öffentliche Aufträge übernimmt, ist er an ein deutsches Tariftreue-Gesetz nur gebunden, wenn der jeweilige deutsche Tarifvertrag wiederum zuvor für allgemeinverbindlich erklärt worden ist und lediglich Mindestschutz-Regelungen nach der Entsende-Richtlinie enthält. Entsprechende inländische Streikmaßnahmen bedürfen außerdem wieder der Rechtfertigung durch „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“. Viel spricht dafür, dass diese unbestimmte Generalformel auch auf andere Fälle koalitionsmäßiger Betätigung angewendet werden soll, falls dabei gemeinschaftliche Marktfreiheiten berührt sind.

Kritik und Gegen­maß­nahmen

Die EuGH-Urteile stellen nicht nur einen nach dem deutschen Verfassungsrecht unzulässigen Eingriff in die Tarifautonomie dar. Sie widersprechen auch dem Kompetenzgefüge der EU, wonach das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht und das Streikrecht den gemeinschaftsrechtlichen Regelungsbefugnissen entzogen sind (Artikel 137 Absatz 5 EU-Vertrag). Insoweit unterscheidet sich die Koalitionsfreiheit gerade von anderen europäischen Grundrechten

Sofern die entgegen gesetzte EuGH-Interpretation der Günstigkeitsklausel der Entsenderichtlinie dazu führt, dass z.B. die deutsche Zustimmung zu dieser Richtlinie möglicherweise wegen Verstoßes gegen Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz verfassungswidrig gewesen sein könnte, dann böte es sich an, den fraglichen Text vom Europäischen Parlament und den damaligen Mitgliedstaaten (1996) im Rat authentisch klären zu lassen. Entsprechende Äußerungen der betreffenden Organe wären freilich ihrerseits nur auf politischen Druck hin zu erwarten, welcher hiermit angeregt sei. Er ist eine Herausforderung an die Koordination und Kooperation der mitgliedstaatlichen Gewerkschaften, ohne die die europäische Koalitionsfreiheit keine Zukunftschancen hat.

Literatur

EuGH Urteil vom 11.12.2007, C 438/05 (Viking), AuR 2008, 55

EuGH, Urteil vom 18.12.2007, C 341/05, (Laval), AuR 2008, 59

EuGH Urteil vom 3.4.2008, C 346/06 (Luxemburg), NZA 2008, 537

EuGH Urteil vom 19.6.2008, C 319/06 (Rüffert), NZA 2008, 537

Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen

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