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Kirchliches Sonder­a­r­beits­recht bröckelt

Grundrechte-Report 2013, Seite 126

Nach Artikel 140 GG i. V. m. Artikel 137 Absatz 3 Weimarer Reichsverfassung „ordnet und verwaltet jede Religionsgesellschaft ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“ Hieraus haben Rechtsprechung und herrschende Meinung abgeleitet, die Kirche dürfe im Gegensatz zu anderen Arbeitgebern ihre eigenen Kündigungsgründe im Arbeitsrecht bestimmen wie etwa Kündigung bei Kirchenaustritt, bei Heirat eines geschiedenen Partners, bei gleichgeschlechtlicher Verpartnerung – und dies nicht etwa nur für verkündigungsnahe Personen, sondern auch für die Putzfrau oder die Küchenhilfe. Gewerkschaften hätten nach dieser Auffassung in kirchlichen Einrichtungen nichts zu suchen, dürften selbstverständlich folglich auch nicht streiken, denn im kirchlichen Arbeitsrecht gebe es keine Interessengegensätze zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern nur einen gemeinsamen Dienst. Diese Rechtsauffassung von einem Sonderarbeitsrecht im kirchlichen Bereich einschließlich Caritas und Diakonie – die Kirchen sind nach dem Staat mit circa 1,3 Mio. Beschäftigten der zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland – wurde hochgehalten, obwohl doch der weiter geltende Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung den Kirchen dieses Selbstverwaltungsrecht nur zubilligt „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“. Und das Kündigungsschutzgesetz oder Artikel 9 Absatz 3 GG (Streikrecht) sind doch sicherlich „für alle geltende Gesetze“.

Rückbe­sin­nung auf die Verfassung

Seit etwa eineinhalb Jahrzehnten regt sich Widerstand gegen diese kirchliche Dominanz im alltäglichen Arbeitsrechtsleben. Als die Nordelbische Kirche meinte, sie sei nicht an das Gleichbehandlungsgebot gemäß Artikel 3 GG gebunden und dürfe Gutverdiener mit einem niedrigeren Steuersatz belohnen, weil die ja ohnehin schon so viel Steuern zahlten, wurde ihr dies vom Bundesverfassungsgericht untersagt. Bei der Kündigung wegen Wiederverheiratung Geschiedener fanden deutsche Gerichte und auch der Europäische Menschenrechtsgerichtshof Wege, solche Kündigungen wenigstens im Einzelfall im Wege der Interessenabwägung für unwirksam zu erklären. Die Landesarbeitsgerichte Hamm und Hamburg wiesen Kirchenklagen gegen Streiks der Gewerkschaften zurück. Der Grundrechte-Report hat etwa 2003, 2011 und 2012 über solche Fälle berichtet. Allerdings wurde das grundsätzliche Dogma der Selbstverwaltung der Kirche im Arbeitsrecht dabei kaum angetastet.

Streik in der Kirche

Am 20. November 2012 wies nun das Bundesarbeitsgericht die Revisionen der Kirche gegen die Urteile des Landesarbeitsgerichte Hamm und Hamburg zurück, die der Gewerkschaft verdi auch in kirchlichen Institutionen das Streikrecht zuerkannt hatten. Ein Meilenstein? Dies wohl kaum, aber doch ein Fortschritt. Während vor dieser Entscheidung erwartet worden war, die Rechtsfrage der Zulässigkeit eines Streiks in kirchlichen Institutionen würde bis vor das Verfassungsgericht getragen, erklärten sich beide Seiten nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts zum Sieger, was auch jeweils zum Teil stimmt.

Das Bundesarbeitsgericht hat leider nicht gewagt, sich auf den klaren Wortlaut unserer Verfassung zu berufen, dass auch für die Kirchen die allgemeinen Gesetze gelten und folglich selbstverständlich das Streikrecht nach Artikel 9 Absatz 3 GG auch dort gilt. Auf ein solches klares Bekenntnis zur Verfassung durch das Bundesarbeitsgericht und das Bundesverfassungsgericht werden wir wohl noch eine Weile warten müssen. Grundsätzlich hat das Bundesarbeitsgericht leider den sogenannten zweiten oder dritten Weg im kirchlichen Arbeitsrecht, gestützt auf das angebliche Selbstverwaltungsrecht, bestätigt. Andererseits ist es den etwa im Kündigungsrecht bereits vorgezeichneten Weg weitergegangen, dieses angebliche Selbstverwaltungsrecht der Kirchen durch Abwägung im Einzelfall einzuschränken oder auch zu unterlaufen und so in den beiden entschiedenen Fällen das Streikrecht zu bestätigen. Nicht nur das Selbstverwaltungsrecht der Kirche sei im Grundgesetz verankert, sondern ebenso auch das Streikrecht der Gewerkschaften, so dass dieses im kirchlichen Bereich nicht generell ausgeschlossen werden kann, sondern nur dann, wenn die Gewerkschaften an der kirchlichen Arbeitsrechtssetzung und den tariflichen Arbeitsbedingungen mitwirken. Wird Ihnen dies wie in der Regel bisher verweigert, ist auch der Streik in kirchlichen Arbeitsverhältnissen zulässig.

Der Abbau des kirchlichen Sonder­a­r­beits­rechts muss weitergehen

So haben beide Seiten etwas bekommen. Die „feste Burg“ des kirchlichen Arbeitsrechts, wie es etwa noch vor zwei Jahrzehnten unerschütterlich im Raume stand, hat einen weiteren Rammstoß nicht unbeschadet überstanden. Aber: Das Bollwerk steht noch. Die grundgesetzliche Forderung, dass auch für die 1,3 Mio. Beschäftigten im kirchlichen Dienst die allgemeinen Gesetze zu gelten haben, harrt noch seiner Erfüllung.

Literatur

Bundesarbeitsgericht, Urteile vom 20.11.2012, Az. 1 AZR 179/11 und 1 AZR 611/11

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