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Vereins­ver­bots­ver­fahren – „präven­tiver Verfas­sungs­schutz“ auf Verdacht?

Grundrechte-Report 2012, Seite 104

Auch im Berichtszeitraum wurden wieder Verbotsverfahren gegen unliebsame Hilfsorganisationen und religiöse Vereinigungen geführt. Außenpolitische Loyalität und antimoslemische Vorurteile scheinen diese Versuche, die Arbeit von Organisationen in Deutschland unmöglich zu machen, zu leiten. Der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts entschied jedoch am 27. Juni 2011 (BVerwG 6 VR 4.10 (6 A 2.10)), dass die »Internationale Humanitäre Hilfsorganisation« (IHH) entgegen dem Antrag des Bundesministeriums des Inneren ihre Arbeit vorläufig fortführen könne.
Die Innenminister warnen ebenso immer wieder vor den „Salafisten“ und verdächtigen diese pauschal der Nähe zu Gewalt und Terrorismus. (vgl. Focus online 21.6.2011 und die Verfassungsschutzberichte) und führen medienwirksame Durchsuchungen und Beschlagnahmen durch. Auch hier haben Behörden und Gerichte jedoch die grundgesetzlich geschützte Religionsfreiheit zu achten.

Inter­na­ti­o­nale Humanitäre Hilfs­or­ga­ni­sa­tion

Bereits am 12. Juli 2010 hatte der Bundesinnenminister (BMI) den in Frankfurt/Main ansässigen Verein »Internationale Humanitäre Hilfsorganisation« (IHH) – der nichts mit dem gleichnamigen türkischen Verein zu tun hat – verboten, weil dieser die Hamas in Palästina durch Spendensammlungen in Deutschland unterstütze und sich dadurch gegen die Völkerverständigung im Sinne von Artikel 9 Absatz 2 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit § 3 Absatz 1 des Vereinsgesetzes (VereinsG) richte. Die Begründungen waren eher von politischer und diplomatischer Rücksichtnahme gegenüber Israel als von gerichtsfesten Beweisen und stringenten völkerrechtlichen Erwägungen geleitet. So hat auch das Bundesverwaltungsgericht nach eingereichter Klage durch die IHH den Parteien zunächst einen Vergleichsvorschlag gemacht. Die IHH sollte sich verpflichten, keiner in den palästinensischen Gebieten bestehenden Organisation Hilfsleistungen zu erbringen. Sie sollte eine jährliche Aufstellung ihrer Einnahmen und Ausgaben vorlegen. Unter diesen Bedingungen sollte die Verbotsverfügung zunächst außer Vollzug und 2014 endgültig außer Kraft gesetzt werden. Nachdem das BMI den Vorschlag ablehnte und weitere das Verbot rechtfertigende Tatsachen vorgetragen hatte, setzte das Gericht die sofortige Vollziehung der Verbotsverfügung aus, weil die Erfolgschancen offen seien.

Der Verein kann also zunächst weiterarbeiten. Über ihm schwebt das Damoklesschwert des Vereinsverbots mit all seinen auch aktuellen Folgen:  Stigmatisierung in der Öffentlichkeit, weitere Beobachtung durch den Verfassungsschutz und aus all dem folgende praktische Probleme bei Spendensammlungen.

So scheint sich heute noch die kritische Analyse von Helmut Ridder, zu bestätigen: die Regelung der Vereinigungsfreiheit im Artikel 9 GG sei »eine Erweiterung und keine Abschaffung des überkommenen sondergesetzlichen Polizeistatuts für Vereine« (Alternativ-Kommentar zum GG, Darmstadt 1989, Rdnr. 16 zu Artikel 9 Absatz 2). Die Regelung der Verbotstatbestände sei ein Beleg »für die ungeheure Tiefe und Breite einer alle rechtsnormativen Dämme unterspülenden ideologischen Systembildung von »präventivem Verfassungsschutz« (ebenda Rn. 33).

Kein Religi­ons­pri­vi­leg?

Islamische Organisationen stehen seit dem 11. September 2001 unter Generalverdacht.  Im Grundgesetz war das Grundrecht auf freie Religionsausübung in Artikel 4 GG zunächst ohne jede Einschränkung garantiert; auch als Konsequenz aus den Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus: zum Beispiel war eine islamische Organisation 1933 in Berlin mit der Begründung verboten worden, dass sie »internationalen Juden gleiche Rechte einräumte«. Die Veränderung der religiösen, später der rechtsstaatlichen Landschaft infolge der Anschläge vom 11. September 2001 führten bereits wenige Monate nach den Anschlägen zur Streichung des Religionsprivilegs in der Verfassung. In Artikel 9 Absatz 2 GG wurde eingefügt, dass Vereinigungen, deren Zwecke oder Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen, oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richten, verboten sind. Die Begründung des Gesetzentwurfes nennt als erste mögliche relevante Fallgruppe islamistische Vereinigungen, die zur Durchsetzung ihrer Überzeugungen Gewalt gegen Andersdenkende nicht ablehnten. Die Konsequenz war absehbar: mit den Mitteln des Vereinsverbotes als „präventiver Verfassungsschutz“ konnte die Axt an missliebige islamische Religionsgemeinschaft gelegt werden.  Seit Streichungen des Religionsprivilegs sind bundesweit acht »islamistische« Gruppierungen verboten worden, hinzu kommen einige Verbote auf Landesebene und weitere laufende Ermittlungsverfahren.

Verfas­sungs­recht­liche Hürden trotz alledem

Verbotsverfahren gegen Religionsgemeinschaften – wie die, die den Salafisten zugerechnet werden – müssen jedoch, wenn sie in erster Linie auf Veröffentlichungen gestützt werden, die verfassungsrechtlichen Hürden der Religionsfreiheit nach Artikel 4 GG beachten, die das Bundesverfassungsgericht aufgestellt hat. Das Oberlandesgericht Stuttgart hat diese Hürden in einem Strafverfahren beispielhaft ausgeführt (OLG Stuttgart vom 19.05.2011, 1 SS 175/11).

– So stellt es fest, dass die Religionsfreiheit, genauso wie die Meinungsfreiheit, auch extremistische oder fundamentalistische Haltungen und Bekenntnisse schützt. 

„… befasst sich die verfahrensgegenständliche Schrift mit den religiösen Pflichten von Muslimen … sowie mit den Sanktionen bei Pflichtverletzung. Derartige Schriften fallen in den Schutzbereich der religiösen Bekenntnisfreiheit nach Artikel 4 Absatz 1 GG (…). Dieser Schutz umfasst die gesamte Schrift, auch die Passagen, in denen nach Auffassung von Staatsanwaltschaft und Amtsgericht zur Tötung aufgerufen wird. Die Todesstrafe für Religionsverbrechen war und ist Religionen keineswegs fremd und war es auch nicht dem Juden- und Christentum (s. nur III. Mose 20, 13; hierauf beruhend Artikel 116 Constitutio Criminalis Carolina 1532). Ebenso wie die Meinungsfreiheit vorbehaltlich ihrer Schranken auch extremistische Meinungen schützt (…) schützt das Religionsrecht vorbehaltlich seiner Schranken auch fundamentalistische oder extremistische religiöse Bekenntnisse.“

– Um religiöse Schriften angemessen würdigen zu können, muss der Kontext erfasst und der daraus sich ergebende Sinn gedeutet werden. Es muss geprüft werden, ob ebenso andere Deutungsvarianten möglich sind.

„ (…) Bei der hiernach erforderlichen Deutung der verfahrensgegenständlichen Schrift verbietet sich eine isolierte Betrachtung einzelner Äußerungsteile, da sie den Anforderungen an eine zuverlässige Sinnermittlung regelmäßig nicht gerecht würde … Daher muss … der religiöse und islamisch-rechtliche Kontext, in dem die beanstandeten Passagen stehen, sachverständig beraten ermittelt und gewürdigt werden …“

– Schließlich ist eine fallbezogene Abwägung zwischen der Bedeutung der religiösen Bekenntnisfreiheit und dem im Einzelfall beeinträchtigten Rechtsgut notwendig. 

Wer nicht wenigstens diese verfassungsrechtlichen Schranken beachtet, öffnet einer uferlosen Kriminalisierung und Verfolgung missliebiger religiöser und politischer Vereinigungen aufgrund eines „präventiven Verfassungsschutzes“ Tür und Tor. Dafür würde sich dann in Anlehnung an das –  von der herrschenden Meinung noch verfemte „Feindstrafrecht“ – der Begriff eines „Feind-Verwaltungsrechts im Kampf der Kulturen“ anbieten, weil mit seiner Hilfe missliebige religiöse Vereinigungen, die dem Salafismus zugeordnet werden, außerhalb der sonst geltenden demokratischen Rechtsordnung gestellt würden.

Literatur

Zu Vereinsverboten und zum Salafismus vgl. die Beiträge auf der Hompage des Autors: www.menschenrechtsanwalt.de

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