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Ruin und Renaissance einer Freiheits­ord­nung

Hans Lisken

Grundrechte-Report 2003, S. 24-36

Verfalls­er­schei­nungen im Verfah­rens­recht

Für Karl V., den Schöpfer der Gerichtsordnung von 1532, war ein faires Verfahrensrecht der Weg, um zu einem möglichst gerechten Urteil zu kommen. Seitdem gilt insbesondere die Strafprozessordnung als «Seismograph des Rechtsstaates». Auch unsere Strafprozessordnung (StPO) von 1877 kannte weder den anonymen Zeugen, erst recht nicht den «gekauften» Mittäter als «Kronzeugen », geschweige denn eine geheime Ausforschung. Die Prinzipien der Fairness, der Öffentlichkeit und der luziden Beweiserhebung sind – aus langer Unrechtserfahrung – im Grundgesetz (GG) und in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankert worden. Am bekanntesten ist die Unschuldsvermutung, die auch vor grundlosen Nachforschungen schützen
soll.

Diese Verfahrensgarantien haben ebenso wie andere Grundrechtsverbürgungen im Laufe der letzten dreißig Jahre an Wirkkraft verloren. Spektakuläre Freiheitsbeschränkungen wie die Änderung von Art. 13 GG (Schutz der Wohnung) zur Einführung einer Lauschbefugnis für die Exekutive sind von einer inner- und außerparlamentarischen Mehrheit sogar gebilligt worden. Hingegen ist die verfassungswidrige Zuweisung der Überwachung des «Vorfeldes» der «organisierten Kriminalität» an den Verfassungsschutz in Bayern im Jahre 1994 nahezu unbemerkt geblieben. 1 Dem ist der Bundesgesetzgeber durch das «Terrorismusbekämpfungsgesetz » vom 9. Januar 2002 insoweit gefolgt, als dem Verfassungsschutz und dem Militärischen Abschirmdienst die Informationserhebung über Bestrebungen zugewiesen worden ist, die «gegen den Gedanken der Völkerverständigung» und «gegen das friedliche Zusammenleben der Völker» gerichtet sind. Was darunter zu verstehen ist, wird nicht gesagt. Die Klausel ist unbestimmt und eine Blankoermächtigung für die Exekutive.2 Jede Flüchtlingsorganisation, aber auch jede innerstaatliche oder überstaatliche Kriegs- oder Anti-Kriegsbewegung könnte Beobachtungsobjekt werden. Die «grenzüberschreitende organisierte Kriminalität» ist schon früher als «friedensstörend» und «staatsgefährdend » definiert worden. Solche Ausforschungen im Gefahrenvorfeld wären weniger problematisch, wenn die «Erkenntnisse » gemäß der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im so genannten Abhörurteil (BVerfGE 30, 1 – 22 –) niemals anderweitig zum Nachteil einer erfassten Person verwendet würden. Aber diese Verwertungsschwelle ist längst durch einen legalisierten Nachrichtenaustausch zwischen den «Diensten» und Strafverfolgungsbehörden überwunden ( § § 18ff. BVerfSchG).3 Das freiheitssichernde Verbot von Ermittlungen ohne Tatverdacht in § 152 II StPO ist damit umgangen.

Das Legalitätsprinzip, das weder verdachtlose Ermittlungen noch das Unterlassen von Ermittlungen bei Verdacht erlauben will, wird auf diese verschlungene Weise weitgehend durch das geheimdienstliche Opportunitätsprinzip verdrängt. Das Legalitätsprinzip ist ebenso berührt, wenn zum Beispiel geheim erhobene Beweise dem öffentlichen Verfahren mit seiner erschöpfenden Offenbarungs- und Anhörungspflicht gemäß Art. 103 I GG und Art. 6 EMRK ganz oder teilweise vorenthalten werden, sodass die Wahrheitsfindung leidet. Dazu gehört insbesondere die «Nichtenttarnung» von «Vertrauensleuten» der Geheimdienste oder der Polizei (Problem im NPD-Parteiverbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht im Jahre 2002) und von «ver deckten Ermittlern» (geheim und mit falschen Papieren arbeitenden Polizisten).

Nicht weniger bedenklich ist die in der Konsequenz dieser Methodenwahl liegende (Schein-)Befugnis der Exekutivbehörden, Geheimeingriffe gegebenenfalls ganz oder auf längere Zeit zu verschweigen, sodass der unbemerkt Betroffene – entgegen der unbedingten Rechtsschutzgarantie gemäß Art. 19 IV GG – gar keinen effektiven gerichtlichen Schutz erlangen kann. Nach § 101 StPO können zum Beispiel geheime DNA-Analysen, Postbeschlagnahmungen, Telefonüberwachungen, Observationen und Lauschangriffe nicht nur dann verschwiegen werden, wenn die Offenbarung zu einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben (die Freiheit ist nicht erwähnt!) führen würde, sondern auch wenn die «öffentliche Sicherheit» oder auch nur «die weitere Verwendung eines . . . nicht offen ermittelnden Beamten» gefährdet werden könnte. Die «öffentliche Sicherheit» ist weit interpretierbar. Sie ist herkömmlich bei jeder Rechtsgutstörung gefährdet. Diese Regelung ist insoweit in sich widersprüchlich, weil sie selber die Rechtsschutzgarantie verletzt, also «stört». Folglich lässt sich der Vorbehalt rechtslogisch und verfassungskonform nur dahin deuten, dass allein existenzielle Rechtsgutgefahren, die der Gefahr für Leib oder Leben gleichkommen, als Rechtfertigung für ein Schweigen dienen können. Die Norm kann daher insoweit nur Ausdruck einer ohnehin bestehenden grundrechtsimmanenten Garantiebegrenzung sein. Für den Vorbehalt zugunsten der Möglichkeit der weiteren Verwendung eines Geheimagenten der Polizei gibt es hingegen gar keinen grundrechtsbeschränkenden Rechtfertigungsgrund; denn die als Schutzgut vorgestellte Ermittlungsmethode hat keinen grundrechtsgleichen Wert. Sie ist Schutz- oder Verfahrensmethode, also Mittel zum Rechtsgüterschutz und nicht selber Schutzgut.

Überwindung von Struk­tur­vor­gaben

Diese Konflikte mit grundrechtsgleichen Verfahrensrechten sind nicht zuletzt auch Folgen von voraufgegangenen Grenzüberschreitungen im Kompetenzgefüge. So widerspricht zum Beispiel jede geheime Ausforschung dem für eine res publica konstitutiven Öffentlichkeitsprinzip. Demgemäß hat das Bundesverfassungsgericht in seinem maßgebenden Abhörurteil die in der Welt der Staatsgefährdungen unvermeidbare vorpolizeiliche Überwachungstätigkeit exakt nur für den Bereich der Erkennung potenzieller Staatsgefahren durch eigene, auf diese Aufgabe beschränkte Behörden zugelassen. Das alliierte «Trennungsgebot» als Bestandteil der Grundgesetzgenehmigung ist also nicht lediglich als fortgeltende Verfassungsvorgabe gewertet worden, sondern (auch) als Ausfluss des institutionellen Gewaltenteilungsprinzips, das darin liegt, dass alle Aufgabenzuweisungen nach Maßgabe der Kompetenzvorgaben des GG immer mit einer streng aufgabenbezogenen Befugnisregelung verbunden sein müssen. Der vieldeutig benutzte Begriff der «Einheit der Staatsgewalt» ist kein Zaubermittel zur Überwindung jener machtbegrenzenden Strukturvorgabe, sondern lediglich eine Chiffre zur Kennzeichnung des Gewaltmonopols, das sich aus der Rechtsfigur des «Staates» ergibt, der sich seinerseits aus dem Grundgesetz konstituiert. Die notwendige Herrschaftsgewalt liegt also immer nur zweckgebunden bei der jeweils mit einer Aufgabe betreuten Stelle. Nur so kann die konkrete Betroffenheit des Einzelnen für ihn überschaubar und (gerichtlich) kontrollierbar bleiben (BVerfGE 65,1).

Erst das unjuristische Wort aus Juristenmund, dass der «Staat sich nicht künstlich dumm stellen» müsse, konnte zu der Versuchung führen, die exklusiv gewonnenen Informationen der Ämter für Verfassungsschutz weiter gehend zu nutzen, um mögliche «Verfassungsfeinde» vom öffentlichen Dienst fern zu halten (ge mäß dem Extremistenbeschluss des Bundeskanzlers und der Ministerpräsidenten von 1972). Es gelang, diesen verfassungsrechtlich angreifbaren Beschluss zu praktizieren. Auch die Verwaltungsgerichte folgten, so als ob eine akute Staatsgefahr extra legem abzuwehren gewesen wäre. Die Arbeitsgerichtsbarkeit reagierte ohne erkennbare Gefährdung des öffentlichen Dienstes weithin anders. Aber das Bundesverfassungsgericht sanktionierte den Weg in einer widersprüchlichen Entscheidung (BVerfGE 39, 334), mit der einerseits innere Gedankenfreiheit zugesichert, zugleich aber – über ein loyales Verhalten hinaus – eine innere Übereinstimmung mit der «freiheitlich-demokratischen Grundrechtsordnung » gefordert wurde. Immanuel Kant, der geistige Ahnherr unseres Menschenwürdebegriffs in Art. 1 I GG, hätte sich also – wie bei Woellner – fragen lassen müssen, wie sich sein «Aufklärungs »-Anspruch verstehe, dass jeder «Offizier», «Finanzrat» und «Geistliche» zwar zunächst seinem Amt verpflichtet sei, aber der öffentliche Gebrauch der Vernunft außerhalb des Amtes die «unschädlichste unter allen Freiheiten» sei, sodass öffentliche Kritik erlaubt sein müsse.4

In der Konsequenz dieser dysfunktionalen Nutzung geheimdienstlicher Informationen lag die Schaffung eines Informationsverbundes mit anderen Präventions- und Repressionsbehörden. Das Trennungsgebot wurde, insbesondere in der Exekutive, nur noch als organisationsrechtliche Vorgabe aufgefasst. Auch der ausdrückliche Hinweis des Bundesverfassungsgerichts im Urteil über die Zulässigkeit der Nutzung eines «elektronischen Staubsaugers » durch den Bundesnachrichtendienst bei Auslandstelefonaten (BVerfGE 100, 313), dass die Polizeien für die Abwehr konkreter Gefahren und die Staatsanwaltschaften für die Wahrheitssuche bei konkretem Tatverdacht allein zuständig seien, hat keineswegs weitere verfassungsrechtlich bedenkliche Kompetenzverschiebungen verhindert. Symptomatisch dafür ist gerade jenes «Terrorismusbekämpfungsgesetz» vom 9. Januar 2002, das am 20. Dezember 2001 ohne tiefere Problembehandlung verabschiedet worden ist, als den Abgeordneten noch gar nicht die verfassungsrechtlichen Stellungnahmen der erst kurz zuvor angehörten Sachverständigen vorlagen.

Der verfassungsgerichtliche Hinweis scheint auch etwaige Gedankenspiele nicht zu verhindern, die darauf hinauslaufen könnten, mittels eines Datenverbundes unter der Regie eines «Sicherheitsberaters der Bundesregierung» eine faktische Verbindung der Aufgaben der verschiedenen «Sicherheitsbehörden» sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich zu schaffen. Nicht der Form, aber der Funktion nach könnte sich daraus eine «allwissende » Bundessicherheitsbehörde entwickeln, wie sie in den USA entsteht.5

Recht­se­thi­sche Defizite

Es gibt schließlich – neben der Neigung, sich über machtbegrenzende Verfassungsvorgaben hinwegzusetzen und Freiheitsgefahren durch den Staat, also durch sich selber, für irreal und unzeitgemäß zu halten – auch beachtliche rechtsethische «Sündenfälle ». So liegt in der Anwendung geheimdienstlicher Methoden eine gravierende Außerachtlassung des in Art. 2 I GG enthaltenen Gebots, bei allem privaten und staatlichen Tun, das andere berühren kann, den Maßstab der «guten Sitten» zu beachten. Niemand bezweifelt, dass der «verdeckte Ermittler», der mittels Täuschung Vertrauen gewinnen soll, um es, wenn die Ausforschung gelungen ist, zu brechen, wie ein Betrüger vorgeht. Sein Treiben würde im Privatrechtsbereich als arglistig und strafrechtlich als verwerflich gewertet werden. Die etwaige «Arglist» der Gegenseite ist kein Rechtfertigungsgrund, weil es keine «Waffen gleichheit» im Unrecht geben kann. Der Staat des Rechts kann nicht mit Methoden des Unrechts arbeiten, deren er sich schämen müsste 6, wenn er sich selber treu sein will. Mit anderen Worten: Die Polizei darf nicht zum «besseren Verbrecher» werden. Deswegen darf auch ein vernehmender Beamter sich gemäß § 136a StPO nicht «täuschend» verhalten. Der menschenrechtliche Schutzzweck des Täuschungsverbots geht aber ins Leere, wenn die Ermittlungsbehörde schon alles «verdeckt» erfahren hat.

Ebenso geht es den Menschen, die als Zeugen ein Aussageverweigerungsrecht hätten, z. B. Angehörige. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat zu dem ganz ähnlichen V-Mann-Problem ausweichend und ohne jede Gesetzesanalyse gemeint, dass der StPO kein Heimlichkeitsgebot zu entnehmen sei, dass aber gleichwohl ein Fairnessverstoß denkbar sei, der indes bei «Straftaten von erheblicher Bedeutung» im Wege der «Abwägung» mit dem Gebot «effektiver Strafverfolgung» hingenommen werden könne (GSSt 1/96, S + V 1996, 465 = NJW 1996, 2940). Die «Kriminalitätsbekämpfer » meinen zwar, zwischen erlaubter List und verbotener Täuschung unterscheiden zu können, finden aber selber keine Unterscheidungskriterien. Vielmehr bestimmt das außerrechtliche Maß des Abscheus vor der zu ahndenden Tat das eigene Maß der prozessualen Fürsorge zur Wahrung der Grundrechte des Beschuldigten. Dafür ist gerade die BGH-Entscheidung zur «Abwägung» zwischen Verfahrensverstoß und Überführungswunsch in ihrer Inadäquanz symptomatisch. Dabei würde eine Kennzeichnung der Polizisten – analog zur Kennzeichnungspflicht der Soldaten7 – das Problem lösen. Ohne solche kategorische Lösung bleibt die Bestimmung des sittlich Erlaubten im Bereich der Zweck-Mittel- Kalkulation, wie sie die Sittenlehre in unserem Kulturkreis spätestens seit Thomas von Aquin radikal ablehnt.8 Dem «verdeckten Ermittler», der den inneren Zwiespalt zwischen Auftrag und Anstand nicht ertragen kann, kurzerhand einen polizeilichen «Eig nungsmangel» zu attestieren, ist nichts anderes als ein weiteres Kennzeichen innerstaatlich fortschreitender Immoralität.9 Die Konsequenz zeigt sich wie zwangsläufig in der ausufernden Sucht nach Kontrolle des Nächsten, weil man ihm angesichts des Verlustes an moralischen Hemmungen alles zutraut. Am Ende fehlt der Glaube an die Freiheitsfähigkeit des anderen. Aus der Angst vor der Freiheit 10 folgt eine allgemeine Delinquenzvermutung. Eine angehende höhere Polizeibeamtin formulierte treffend: Wie soll ich die Unschuld eines Menschen erkennen, bevor ich ihn
kontrolliert habe?

Auf solchem rechtspolitischen Vorverständnis beruht – nach allen parlamentarischen Erklärungen – die Einführung von Jedermannkontrollen nach bayerischem Vorbild in anderen Bundesländern. Die Aufhebung dieser Befugnis im Polizeigesetz von Mecklenburg-Vorpommern durch das Landesverfassungsgericht (LKV 2000, 149) 11 hat Hessen nicht davon abgehalten, danach eine analoge Landesvorschrift zu erlassen. Die bestehenden Befugnisse werden auch andernorts weiterhin genutzt. Bayern erprobt sogar eine «automatische Kennzeichenerfassung» im Straßenverkehr ohne spezielle Rechtsgrundlage.12 Die «Erfolge» dieser Schleierfahndung, bei der jeder ohne eigenen Bezug zu einer Gefahrenlage kontrolliert werden kann, bestehen überwiegend im Aufgriff gesuchter Personen. So erweist sich diese verfassungswidrige Präventionsbefugnis faktisch als Fahndungsmethode ohne Verdacht, wie sie nach der StPO verboten ist. Auch insoweit liegt in der Methodenwahl eine Täuschung, die rechtsethisch bedenklich ist, aber als Problem gar nicht wahrgenommen wird. Das Gebot, die psychische Integrität jedes Mitmenschen zu achten, solange er sich ungefährlich verhält, wie es Art. 1 I GG und die Unschuldsvermutung gemäß Art. 6 II EMRK fordern, wird nicht als verletzt gesehen. Der Rechtswert des Menschen, wie ihn Marcic beschrieben hat 13, nimmt in der Rechtswirklichkeit ab.

Umkehr oder Neuanfang

Thomas Mann hat in seiner bekannten Rede von 1945 in der Library of Congress in Washington DC über Deutschland und die Deutschen deren Fixierung auf die wirtschaftliche Freiheit unter Verzicht auf die innere Freiheit beschrieben. Freiheit werde nur als Zeichen staatlicher Souveränität, aber eben nicht als innere Freiheit vom Staat und von sich selber verstanden. Die Freiheit als Rechtswert interessiert auch heute weniger, solange nur die Handlungsfreiheit zur Erfüllung eigener Wünsche erhalten bleibt. Es wird – wie de Tocqueville es beschrieben hat – verkannt, dass mit der Fixierung auf die Freiheit als Mittel der Vorteilsverschaffung die innere Versklavung und die Chance dessen anfängt, der die Macht über andere sucht, indem er zum Beispiel die Sicherung der Besitzstände verspricht, um gewählt zu werden. Unsere Wahlkämpfe bestätigen diese Beobachtung. Nicht der Wille zum Recht, sondern der Wille zur Macht bestimmt die – zum Teil bösartigen – Reden.14 Dies verdirbt die «guten Sitten» nicht weniger als die staatlich legalisierte Zuflucht zu arglistigen Verfahrensmethoden. Die Folge wird die signifikante innere Abwendung des Publikums von der Politik und die synchron verlaufende Demoralisierung des Geschäftslebens sein.

Mit der Erfahrung der Destruktivität der totalen Ökonomie in allen Bereichen und Ländern wird die Einsicht wachsen, dass der Verlust an Mitmenschlichkeit die Ursache des Chaos ist. Daran werden immer «schärfere» Gesetze und Eingriffe in die Autonomie des Einzelnen nichts ändern, sondern eher zur inneren Abkehr beitragen. Der laute und leise Widerspruch von Millionen Betroffenen bei der Volkszählung vor zwanzig Jahren und bei der letzten großen Rasterfahndung mit dem Aufbegehren der Gerichte sind erste Wendemarken. In der Floskel, man habe nichts zu verbergen, steckt nämlich nicht nur eine geschichtslose politi sche Naivität, sondern auch der Glaube, dass die Staatsmacht im eigenen privaten Bereich nichts zu suchen habe; denn jeder hat letztlich etwas, das er für sich behalten möchte. Selbst derjenige, der das Sammeln von Fingerrillen und Gesichtslinien oder Gen- Daten (noch) als «plausibel» ansieht, würde bei der Ausspähung seiner Wohnung und bei der «verdeckten» Registrierung seiner Lebensgewohnheiten aufbegehren, wenn er die Folgen erführe. Die bestehende Audio- und Videoüberwachung in den Hörsälen der Berliner Humboldt-Universität15 zeigt ebenso wie die geplante weltweite heimliche Überwachung aller Kommunikationsverbindungen durch die USA16 die Größe der Gefahr für das Recht auf Meinungs- und Lehrfreiheit, auf Privatheit und Vertraulichkeit. Das Publikum wird die wachsende Unmenschlichkeit und die drohende Implosion der staatlichen und wirtschaftlichen Systeme wahrnehmen und am Ende eine gerechtere Gesellschaftsordnung suchen, die weniger auf Überwachung und Überlistung gegründet ist, als auf antizipiertem Vertrauen und auf Mitmenschlichkeit, weil niemand in einer Welt ohne Liebe, also in einer «toten
Welt»17, leben will.

Nicht der Staat mit einer allmächtigen Exekutive wird als «stark» gelten, sondern jener, der nach sozialer Ausgeglichenheit und gerechter Lastenverteilung strebt. Es wird erkannt werden, dass das Verbot sittenwidrigen Handelns in Art. 2 I GG keine sinnlose Formel war und ist 18, sondern der Versuch einer rechtsethischen Verankerung unserer Freiheitsordnung, um Handlungsmaßstäbe im Meer der Freiheit mit ihrem Preis der Unwissenheit zu finden.

Die heute noch übliche Zulassung alles Nützlichen nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist kein Ausweg. Danach könnte die Folter (wieder) zum «Abwägungs»-Inhalt werden.19 Die Menschen werden – wie Höffe dargelegt hat 20 – nach dauerhafteren Grundlagen des Rechts suchen, nachdem sie die tödliche Gefahr des ungehemmten Vorteils- und Effektivitätsstrebens erfahren haben. Der Wert unverfügbarer Grundrechtsnormen wird letztlich in dem Maße erkannt werden, in dem sie als Ersatz für die verlorene Liebe erlebt werden. Die Suche nach dem «Recht des Nächsten»21 wird – zumindest zeitweilig – wieder als «verhältnismäßig » geringer Preis für die Bewahrung der menschenrechtlichen Freiheiten erscheinen.

Solche noch utopisch klingende Hoffnung findet nicht nur Nahrung in den Gesprächen mit nachdenklichen Zeitgenossen, sondern auch in dem gelungenen Bemühen um eine Europäische Grundrechtscharta. Die vom Publikum angerufenen Europäischen Gerichte, insbesondere der Gerichtshof für Menschenrechte, beziehen sie bereits in ihre Auslegung der EMRK ein. Die nationalen Gerichte folgen langsam. Es kommt darauf an, den Menschen wieder vorbehaltlos als Selbstzweck und nicht länger als Handlungsobjekt mit einem «Gefahrgut», das sich Freiheit nennt, anzusehen. Solches Menschenbild würde dazu beitragen, jeden Eingriff bei anderen auch als potenziellen Zugriff auf sich selber zu bewerten. Der Nächste in Rechtsnot würde unsere Hilfe erfahren, soweit wir können. Grundrechtswidrige Normen und Akte würden, soweit es an uns liegt, nicht vollzogen, sondern angegriffen. Arthur Kaufmann hat dies den Widerstand der «kleinen Münze» genannt, der ein Wesenselement des Rechts sei, damit «großer» Widerstand entbehrlich werde. Die «Grenzen zwischen Rechtsstaat und Unrechtsstaat» seien nämlich «fließend ».22 Das Risiko hat Popper so beschrieben: «Die Feinde der Freiheit haben ihre Verteidiger stets umstürzlerischer Absichten bezichtigt. Und fast immer glückte es ihnen, die Arglosen und Wohlmeinenden zu überreden».23 Es bleibt daher die Frage, wen Polizei oder Verfassungsschutz gegebenenfalls observieren. Aber auch dieses Risiko muss wie alle Risiken, die sich aus der Garantie der Freiheit ergeben, ertragen werden, wenn wir die Freiheits ordnung nicht verlieren wollen.24 Zur Last der Freiheit, zum Überleben im Recht, gehört also nicht zuletzt der Mut zum lebenslangen «Widerstand für das Recht».

Anmerkungen:

1 Art. 1 u. 3 BayVSG; kritisch dazu Frister, in: Festschrift für Bemman 1997, 542ff.
2 Denninger, StV 2002, 96; Baldus ZRP 2002, 400.
3 Im novellierten Polizeigesetz von Thüringen in der Fassung vom 22. 6. 2002 wird die Polizei selber sogar zu «Strukturermittlungen», also zu Ermittlungen im Vorfeld der Kriminalität ermächtigt. Vgl. dazu die Kritik von Kutscha in Bürgerrechte & Polizei /CILIP 72 Nr. 2/ 2002, 62ff.
4 Kant, Was ist Aufklärung, Werkausgabe Band XI, Hrsg. v. Weischedel 1977, S. 53ff.
5 Vgl. dazu das Gutachten von Werthebach (5. 7. 2002), www.bertelsmann-stiftung. de /documents/GutachtenWerthebach.pdf. Vgl. auch Süddeutsche Zeitung v. 27. 11. 02, S. 7 über eine Terrorismus-Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung mit ähnlichen Vorstellungen in der Exekutive.
6 Ad. Arndt, Ges. jur. Schriften, 1976, S. 169.
7 Art. 1 Haager Landkriegsordnung von 1907 (der Gegner soll wissen, wer man ist, was man also «im Schilde führt»).
8 Summe der Theologie, Untersuchung über den Krieg und über die Ungerechtigkeit vor Gericht. Vgl. auch Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 1997, S. 212ff.
9 vgl. Hösle, Moral und Politik, 1997.
10 vgl. de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika II 1835; Dostojewski, Brüder Karamasov, Kapitel über den Großinquisitor; Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, 1966; Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I, 3. Auflage 1973, S. 228, 237ff.
11 kritisch auch Benda, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, 1. Aufl. 1984, S. 121 und 2. Aufl. 1994, § 6 Rdn. 37; ders. in: Schriftenreihe der PFA 1/1995, S. 21ff.
12 Süddeutsche Zeitung v. 23. / 24. 11. 2002, S. 47; 20. Tätigkeitsbericht d. Bayer. Datenschutzbeauftragten 2002, S. 56.
13 in Festschrift für Voegelin 1962, 367ff.
14 vgl. Hörl, Süddeutsche Zeitung v. 19. 11. 2002, S. 11: «Die Sprache des Politischen hat zugunsten einer Kriminalsprache abgedankt.» Vgl. auch Schmitt, Der Begriff des Politischen, 1932, Nachdruck 1963, S. 26ff. und S. 68ff.
15 vgl. TAZ Berlin v. 14. 11. 2002, Spiegel-Online v. 15. 11. 2002 und Pressemitteilung der HU v. 17. 11. 2002.
16 Zu den Plänen der USA vgl. Lübecker Nachrichten v. 13. 11. 2002, S. 1; Süddeutsche Zeitung v. 14. 11. 2002, S. 1.
17 vgl. Camus, Die Pest, und Saramago, Die Stadt der Blinden.
18 so noch Jarass / Pieroth, GG, 6. Aufl. Art. 2 Rdn. 19; Murswiek, in: Sachs, GG, 2. Aufl. Art. 2 Rdn. 99. Anders aber Podlech, AK-GG 3. Aufl. Art. 2 I Rdn. 66. Vgl. auch die gleichartigen Verfassungsvorgaben in den alten und neuen Bundesländern Bayern (Art. 101); Berlin (Art. 7); Bremen (Art. 1 als Gebot an die Staatsgewalten); Rheinland-Pfalz (Art. 1); Sachsen (Art. 15); Sachsen-Anhalt (Art. 5).
19 so – trotz Art. 104 I 2 GG und Art. 3 EMRK – Brugger, JZ 2000, 165; Starck, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 1 I Rdn. 71; kategorisch ablehnend Eb. Schmidt, Einführung in die deutsche Strafrechtspflege 3. Aufl. 1965 § § 74ff.; ebenso Hassemer, in: FS f. Maihofer 1988, 183ff.; Friedr. v. Spee, Cautio criminalis, 1632.
20 Demokratie im Zeitalter der Globalisierung 1999; ders. Lesebuch zur Ethik, Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart, 2. Aufl. 1999. Weitere Belege über die Zeugnisse großer Rechtsdenker bei Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts 3. Aufl., 2001 Kap. C Rdn. 200ff.
21 Wolf, Rechtsphilosophische Studien, hrsg. v. Hollerbach 1972, S. 81 und S. 309.
22 in: Der Rechtsstaat und seine Feinde, hrsg. v. Rill / Scholz 1986; vgl. auch u. a. Stüttler, Radbruch, Peter Schneider, Fritz Bauer, in: Widerstandsrecht, hrsg. v. Kaufmann/Backmann 1972, speziell auch zum Problem des Widerstandes im Verfassungsstaat.
23 Der Zauber Platons I, 3. Aufl. 1973, S. 129.
24 vgl. dazu auch Jutta Limbach am 10. 5. 2002 auf dem Deutschen Anwaltstag in München.

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