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Wer als Frau verfolgt wird, muß Asyl genießen

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Grundrechte-Report 1998, S. 30-33

Der Art. 1 GG der Bundesrepublik enthält die zentrale verfassungsrechtliche Aussage, daß die Achtung menschlicher Würde zum obersten Prinzip jeder staatlichen Tätigkeit zu machen ist. Es handelt sich damit um die als Urgrundrecht jedes Menschen verstandene Wahrung seiner Persönlichkeitssphäre, die nicht erst durch das Grundgesetz geschaffen wurde, sondern von diesem als Bestandteil einer vorgegebenen überpositiven Rechtsordnung angesehen wird. Den Grundrechten kommt damit ein quasi naturrechtlicher Charakter zu, der in den vergangenen Jahrzehnten verfassungsgerichtlich bestätigt wurde.

Die zentrale Stellung des ersten Grundgesetzartikels in unserer Verfassung kann nur einigermaßen umfassend umschrieben werden, wenn man ihn mit Blick auf die Gesamtstruktur unserer Verfassung bewertet. Danach können die meisten Artikel zu den Grundrechten, den Gesetzgebungskompetenzen, den Verfassungsinstitutionen der Finanzverfassung und den Parteien mit Zwei-Drittel-Mehrheit geändert werden. Mit der Ewigkeitsgarantie in Art. 79 Abs. 3 GG, d. h. mit dem Verbot jeglicher Grundgesetzänderungen, die die in Art. 1 GG unter staatliches Achtungs- und Schutzgebot gestellte Würde des Menschen antastet, wird dieser Grundgesetzartikel jedoch in den Rang des höchsten von der Verfassung geschützten Rechtswerts erhoben. Der Staat ist damit rechtlich verpflichtet, die Menschenwürde zu wahren und nach Maßgabe seiner Möglichkeiten überall ihren Schutz zu übernehmen. Achtung und Schutz der Menschenwürde sind bindende Richtlinien für die gesamte Staatstätigkeit. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist damit der Parlamentssouveränität entzogen.

Die Ausstrahlungen des Art. 1 Abs. 1 GG erfassen nicht nur alle regelnden Normen, die das Verhältnis des einzelnen zum Staat bestimmen, sondern wirken tief in die Grundfragen des Verständnisses des freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaats hinein. Der Mensch darf nicht zum bloßen Objekt staatlichen oder gesellschaftlichen Handelns gemacht werden. Er darf nicht erniedrigt, verfolgt, gebrandmarkt und geächtet werden. Nur wenn über den wesentlichen Kern dieser Fundamentalnorm weitgehend Konsens in unserer Gesellschaft besteht, kann sie auf Dauer vor interpretativer Aushöhlung sicher sein. Andernfalls wird sie im Laufe der Zeit zu einer leeren juristischen Hülle.

Was ist nun die normative Aussage von Art. 1 Abs. 1 GG? Der Art. 1 geht vom Menschenbild einer freien und sittlich verantwortlichen Persönlichkeit aus, die sich und die Umwelt gestalten kann. Da jeder Mensch die Freiheit als solche hat, sind insoweit also alle Menschen gleich. Dieser allgemein menschliche Eigenwert der Würde ist auch vorhanden, wenn der konkrete Mensch, etwa der Verbrecher, die Möglichkeit der Freiheit zur Erniedrigung mißbraucht oder wenn der konkrete Mensch die Fähigkeit zur freien Selbst- und Lebensgestaltung von vornherein nicht hat (etwa der Geisteskranke). Es ist somit vollkommen unstreitig, daß mit Art. 1 GG die Menschenwürde eines jeden Menschen, unabhängig von seinem Geschlecht, seiner Rasse, seinem Glauben, seiner Religion, seiner Abstammung, seiner politischen Überzeugungen, seiner Herkunft, seiner sozialen Stellung und seiner Sprache für unantastbar erklärt. Dies schlägt sich im Gleichheitsgebot bzw. Benachteiligungsverbot des Art. 3 GG nieder, der die dazu wünschenswerte Konkretisierung enthält.

Wie sieht die Realität aus? Wird nicht die Menschenwürde von Frauen massiv verletzt, wenn sie in Bürgerkriegen oder bei staatlicher Verfolgung eingesperrt und vergewaltigt werden – als Mittel der Kriegsführung, der Unterdrückung und der Erniedrigung? Wird nicht die Menschenwürde von Frauen mit Füßen getreten, wenn man sie zum Zweck der Ausbeutung verschleppt, zur Prostitution in einer meistens hilflosen Lage in einem fremden Land, in dem sie ohne Papiere sind, zwingt und ihnen jede materielle Lebensgrundlage verweigert? Wird nicht ihre Menschenwürde verletzt, wenn man sie in Deutschland aufgreift und in der Regel sofort ausweist und abschiebt, damit häufig in die Hände ihrer Peiniger in Europa wie in anderen Kontinenten zurücktreibt und ihr Leben gefährdet? Die Lageberichte des Bundeskriminalamtes über den Frauenhandel sprechen eine klare Sprache.

Sollte es wegen der Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte nicht ein Asylrecht für so verfolgte, geknechtete und unterdrückte Frauen geben? Sollte ihnen wegen der Achtung ihrer Menschenwürde nicht ein zumindest befristetes Aufenthaltsrecht gewährt werden, wenn sie Opfer von Frauenhandel und Zwangsprostitution geworden sind? Auch wenn dies nicht direkt aus Art. 1 GG als Verpflichtung des Staates hergeleitet werden kann, sollte die Politik den obersten Wert des Schutzes der Persönlichkeit anerkennen und eindeutig zum Schutz so bedrohter Menschen – fast immer Frauen – entscheiden.

Fazit: Die Achtung der Menschenwürde begründet logischerweise einen sehr viel besseren Schutz vergewaltigter und verfolgter Frauen aus andern Ländern in Deutschland. Die systematische frauenbedingte Verfolgung ist deshalb als politische Verfolgung und Asylgrund anzuerkennen.

Und wie sieht es mit der Hilfe von Frauen in anderen Not- und Konfliktlagen aus? Immer noch ist die kontroverse Diskussion in Deutschland zum Abtreibungsrecht mit dem Ziel, das ungeborene Leben zusammen mit der schwangeren Frau zu schützen, nicht beendet. Gerade die von der katholischen Kirche erfolgte Aufkündigung der bisherigen Beratungsregelung hat verschärft zu Unsicherheit und Ängsten schwangerer Frauen, die dringend Hilfe durch Rat und Tat brauchen, geführt. Immer mehr Frauen leben in Deutschland zudem in Armut, sind obdachlos, und besonders im Alter geraten sie ohne eigene ausreichende Alterssicherung zunehmend ins gesellschaftliche Abseits.

Jede 5. Frau wird in der Ehe mißhandelt, vergewaltigt oder ist anderer Gewalt ausgesetzt. In strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und im Strafprozeß droht sie durch häufige Vernehmung erneut zum Opfer zu werden. Auch hier gebietet das Verständnis vom Schutz der Würde des Menschen nicht nur uneingeschränkte Aufklärung, sondern gegebenenfalls gesetzgeberisches Handeln und unbürokratische Hilfe für Frauen.

Der Artikel 1, der die Würde der Frauen und Männer gleichermaßen schützt, muß deshalb Grundlage für eine offensive Kampagne zur Beseitigung von Diskriminierung und Benachteiligung sein: eine Kampagne, um der Würde der Frau endgültig zur Beachtung in allen gesellschaftlichen Bereichen zu verhelfen. Es gibt noch viel zu tun.

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