Publikationen / Grundrechte-Report / Grundrechte-Report 2011

Artikel 2 Absatz 1 GG – ein ungeschrie­benes Grundrecht auf Dauer­auf­ent­halt

Grundrechte-Report 2011, Seiten 29 – 34

Am 28. November 2010 haben die Schweizerinnen und Schweizer in einer Volksabstimmung für die sogenannte Ausschaffungsinitiative
gestimmt, nach der »kriminelle Ausländer« automatisch aus der Schweiz ausgewiesen werden sollen. Die von der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) lancierte Verfassungsänderung wurde mit knapp 53 Prozent angenommen und muss jetzt von Parlament und Regierung umgesetzt werden. Kritiker aus dem In- und Ausland hatten schon im Vorfeld darauf hingewiesen, dass die Annahme der Initiative zu Konflikten mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz führen wird.

Bevor man sich aber aus deutscher Sicht in eine Pose moralischer
Überlegenheit wirft und die kollektive Integrationsverweigerung der Schweizer kritisiert, sollte man bedenken, dass in Deutschland bis vor kurzem eine ganz ähnliche Ausweisungsregelung in Kraft war. Erst unter dem Druck des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, hat das BVerfG dies korrigiert und die menschenrechtlich geforderte Einzelfallprüfung bei jeder Ausweisungsentscheidung angeordnet. Diese in der politischen Öffentlichkeit noch wenig beachtete Entwicklung für den Grundrechtsschutz in Deutschland soll im Folgenden nachgezeichnet werden.

In der Tradition des Polizei­rechts

Traditionell wird in Deutschland das Ausländerrecht nicht als das Migrationsrecht einer Einwanderungsgesellschaft verstanden, sondern als eine Abteilung des Polizeirechts, die sich mit der Überwachung des Ausländeraufenthalts befasst. Hierzu passt es, dass das schärfste Schwert der Ausländerpolizei, die Ausweisung aus dem Bundesgebiet, immer im Raum steht, sobald es zu einer Straftat gekommen ist, sich die latente Gefahr eines Ordnungsverstoßes also realisiert hat. Dieser Ansatz zeigt sich besonders deutlich in den Ausweisungsbestimmungen
des Ausländergesetzes von 1990, die im geltenden Aufenthaltsgesetz
im Kern unverändert fortgeschrieben werden. Eine ausländerbehördliche Ausweisung ist darin als die zwingende Folge des Begehens von Straftaten einer bestimmten Art oder Schwere festgelegt, insbesondere bei Drogendelikten oder einer Verurteilung zu mindestens drei Jahren Haft. Eine Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls sowie der Folgen für den Betroffenen und seine Familie sind nicht vorgesehen. Ein »besonderer Ausweisungsschutz« für integrierte Ausländer mit einem unbefristeten Aufenthaltstitel entschärft diesen Automatismus etwas. Auch bei diesen Ausländern mit verfestigtem
Aufenthaltsrecht soll aber nach dem Willen des Gesetzgebers die Ausweisung »im Regelfall« erfolgen, ohne dass eine Verhältnismäßigkeitsprüfung stattfindet: Die Abschreckung anderer
Ausländer, selbst einen Ordnungsverstoß zu begehen, hat Vorrang.

Kein Auswei­sungs­schutz nach dem Grund­ge­setz?

Die Rigidität, mit der Staat der Einwanderungsgesellschaft auf Normverstöße ihrer Mitglieder reagiert, die nicht den absoluten
Ausweisungsschutz der deutschen Staatsangehörigkeit besitzen, wirft verfassungsrechtliche Fragen auf. Werden hier nicht Grundrechte verletzt?

Nach der Rechtsprechung des BVerfG genießen Ausländer während ihres Aufenthalts im Bundesgebiet alle Grundrechte, soweit sie nicht nach dem Grundgesetz Deutschen vorbehalten sind. Allerdings ist das Recht auf Einreise und Aufenthalt, das zum Grundrecht auf Freizügigkeit nach Artikel 11 GG gehört, ein solches »Deutschengrundrecht«. Der Aufenthalt eines Ausländers im Bundesgebiet genießt nur den deutlich schwächeren Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Artikel 2 Absatz 1 GG. Dies führt aber immerhin dazu, dass Ausweisungsentscheidungen einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, nicht willkürlich sein dürfen und gerichtlich überprüfbar sind – ein Bruch mit der vorrechtsstaatlichen Tradition der Ausländerpolizei und international bis heute keine Selbstverständlichkeit.

Auf der anderen Seite hat das BVerfG die Idee der Generalprävention
durch Ausweisung, also die Absicht der Abschreckung anderer Ausländer, nicht in Frage gestellt, sondern das gestufte System von Ist-, Regel- und Ermessensausweisung als gesetzliche Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips akzeptiert. Für die Situation der »faktischen Inländer« der zweiten und dritten Ausländergeneration und ihr Interesse an Aufenthaltssicherheit hat das Gericht damit keine überzeugende Antwort formuliert.

Lösungs­an­sätze aus Straßburg

An dieser Stelle ist ein Seitenblick auf die Entwicklungen auf europäischer Ebene hilfreich. Das Ausweisungsrecht für EU-Bürger
unterscheidet sich schon seit den 1970er Jahren erheblich von den Regeln für »normale« Ausländer. Soweit bei EU-Bürgern der Aufenthalt überhaupt noch beendet werden kann, ist stets eine individuelle Abwägungsentscheidung verlangt; ein Ausweisungsautomatismus würde gegen das EU-Recht verstoßen. Für die übrigen Ausländer gingen entscheidende Impulse von den Rechtsprechungsorganen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) aus. Die Straßburger Richter respektieren zwar grundsätzlich die migrationspolitischen Gestaltungsspielräume der Gesetzgeber in den Vertragsstaaten, verlangen aber, dass diese Befugnisse menschenrechtskonform
ausgeübt werden. Als wichtigsten Maßstab wendet der EGMR dabei Artikel 8 EMRK an, der das Menschenrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens niederlegt. Eine Ausweisung bzw. die Verweigerung des Aufenthalts kann einen rechtswidrigen Eingriff in diese Rechte darstellen, wenn die Entscheidung nicht auf einem angemessenen Ausgleich der berührten privaten und öffentlichen Interessen beruht.

Ob die Balance im konkreten Fall gewahrt ist, wird vom EGMR seit den 1990er Jahren mit zunehmender Intensität kontrolliert. In einer Serie von Urteilen entfaltete der Gerichtshof die Kriterien, die in die Abwägung einzustellen sind. Zu berücksichtigen sind unter anderem die Dauer des Aufenthalts sowie die Festigkeit der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen am Aufenthaltsort. Während zunächst vor allem
das Zusammenleben mit den eigenen Angehörigen, also der Aspekt des »Familienlebens« im Vordergrund stand, kristallisierte sich nach und nach das »Privatleben« als eigenständiges Schutzgut heraus. Hierunter versteht der EGMR die Gesamtheit der sozialen Beziehungen, die sich bei einem Aufenthalt von gewisser Dauer naturgemäß entwickeln – unabhängig von der Staatsangehörigkeit einer Person oder ihrem aufenthaltsrechtlichen Status. Nach der EMRK genießt also das Interesse an der Fortsetzung eines »verwurzelten« Aufenthalts als solches menschenrechtlichen Schutz. Kurz: Artikel 8 EMRK beinhaltet
ein Recht auf Daueraufenthalt, in das nur auf verhältnismäßige Weise eingegriffen werden darf. Dies steht einem Ausweisungsautomatismus entgegen.

Schutz des Privat­le­bens als Grundrecht

Es verwundert nicht, dass die deutsche Ausweisungspraxis zunehmend
unter den Druck der Straßburger Judikatur geriet, klafften verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Maßstäbe doch weit auseinander. Im Jahr 2007 schließlich durchschlug das BVerfG den Gordischen Knoten: In zwei Kammerbeschlüssen erkannte es das Privatleben als verfassungsrechtliches Schutzgut unter dem Grundgesetz an und verlangte von den Behörden eine umfassende Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung nach den vom EGMR entwickelten Kriterien – ungeachtet des Wortlauts des Gesetzes, das eine solche Prüfung nicht vorsieht. Zur Begründung berief sich das Gericht auf das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das in Artikel 2 Absatz 1 GG niedergelegt ist und nunmehr als Anker dient, um die Schutzgehalte des Artikel 8 EMRK unmittelbar in das deutsche Verfassungsrecht zu inkorporieren. Dankbar nahm bereits wenige Wochen später das Bundesverwaltungsgericht die Steilvorlage des BVerfG an und erklärte das System von Ist- und Regelausweisung in Fällen »verwurzelten« Aufenthalts für obsolet.

Fazit

Das Grundgesetz kennt jetzt ein ungeschriebenes Grundrecht auf Fortsetzung eines »verwurzelten« Aufenthalts. Dieses knüpft rechtlich an der Schutzwürdigkeit der sozialen Beziehungen an, die am Ort des Aufenthalts entstehen und die zum »Privatleben« im Sinne des Artikels 8 EMRK gehören. In dieses Recht darf nur in Ansehung der Umstände des Einzelfalls und nach Abwägung der berührten privaten und öffentlichen Belange eingegriffen werden. Dieses neue Grundrecht beruht auf der Rezeption von Konzepten, die der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte entwickelt hat. Mit gewisser Verzögerung stellt damit das BVerfG die Konkordanz des Grundgesetzes mit menschenrechtlichen Schutzstandards wieder her. Dies verdeutlicht die Bedeutung, die überstaatliche Rechtsentwicklung
für die Entwicklung des Grundrechtsschutzes in Deutschland besitzt. Die Rechtsprechung des EGMR hat dazu beigetragen, ein rechtsstaatlich hochproblematisches Relikt des deutschen
Ausländerrechts über Bord zu werfen: die quasi-automatische
Ausweisung nach einer strafrechtlichen Verurteilung. Unseren
eidgenössischen Nachbarn ist zu wünschen, dass sie bald ihren eigenen Weg aus der menschenrechtlichen Sackgasse finden, in die sie die Annahme der Ausschaffungsinitiative geführt hat.

Literatur

BVerfG, Beschluss vom 10. 5. 2007, NVwZ 2007, S. 946, und Beschluss
vom 10. 8. 2007, NVwZ 2007, S. 1300

Thym, Daniel, Abschied von Ist- und Regel-Ausweisung bei Verwurzelung, DVBl. 2008, S. 1346

Achermann, Christin, Straffällige Ausländerinnen und Ausländer:
Kenntnisse zur aktuellen Praxis, in: Achermann, Alberto u. a.
(Hrsg.), Jahrbuch für Migrationsrecht /Annuaire du droit de la
migration 2009/2010, Bern 2010, S. 175

nach oben