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Suizid in Abschie­bungs­haft

Grundrechte-Report 2011, Seiten 61 – 65

Abschiebungshaft ist der Endpunkt einer missglückten Flucht. Menschen, die aufgebrochen sind, einer von ihnen als unerträglich
empfundenen Situation zu entfliehen, finden sich eingesperrt und vor die Aussicht gestellt, in genau die Situation zwangsweise zurückverfrachtet zu werden, der sie zu entkommen suchten.

Oftmals sind Jahre vergangen seit ihrer Flucht. Zu der Unsicherheit und Angst vor dem, was sie in ihrem Herkunftsland erwartet, gesellt sich das Gefühl, versagt zu haben. Alle Zukunftsentwürfe von einem besseren, freieren Leben werden durch die Abschiebung zunichte gemacht. Viele Abschiebungshäftlinge empfinden Schamgefühle nicht nur gegenüber ihrer eigenen, außerhalb der Gefängnismauern auf den Abschiebungstermin wartenden Familie, sondern auch gegenüber den
Angehörigen im Herkunftsland, die einst die Flucht durch finanzielle
Beiträge ermöglichten.

Drei bis vier Menschen pro Jahr

Dieses Konglomerat aus enttäuschten Hoffnungen, Angst und Scham setzt Abschiebungsgefangene unter einen immensen Psychostress, der nicht ohne Folgen bleibt: Die Palette der Reaktionen reicht von Aggressionen gegen das Gefängnispersonal und Selbstverletzungen über Hungerstreiks bis zu Depressionen und suizidalen Handlungen. In der Regel werden randalierende, hungerstreikende oder suizidale Gefangene daher in sogenannten Sicherheitszellen isoliert und videoüberwacht. Informationen darüber gelangen nur ausnahmsweise an die Öffentlichkeit, da die Gefängnisleitungen und Aufsichtsbehörden
Nachahmungseffekte fürchten und um jeden Preis vermeiden wollen, dass die einmal beschlossene Abschiebung scheitert.

Den gewissenhaften Dokumentationen der »Antirassistischen Initiative Berlin« lässt sich entnehmen, dass sich 62 Flüchtlinge in den Jahren 1993-2010 in deutscher Abschiebungshaft selbst töteten, im Durchschnitt sind es drei bis vier Menschen pro Jahr. Die Dunkelziffer an Selbstmordversuchen in Haft dürfte um ein Vielfaches höher sein. Die Toten des Jahres 2010:

  • Am 7. März erhängte sich der 25-jährige georgische Abschiebungshäftling David M. im Zentralkrankenhaus für Häftlinge in Hamburg. Anstaltspsychologen hatten mit dem Häftling, dem die Zurückschiebung nach Polen drohte, Gespräche geführt und eine Suizidgefahr nicht ausgeschlossen. Er erhängte sich in der videoüberwachten Krankenzelle.
  • Nach achtwöchiger Abschiebungshaft erhängte sich am 16. April die 34 Jahre alte indonesische Staatsbürgerin Yeni P., die mit Unterbrechungen seit 1994 in Deutschland lebte, in der Justizvollzugsanstalt Hahnöfersand in Hamburg.
  • Am 28. Juni wurde Slawik C. im Kreishaus in Winsen festgenommen und in Abschiebungshaft nach Hannover-Langenhagen gebracht. Dort erhängt sich der 58 Jahre alte Mann, der seit fast elf Jahren mit Ehefrau und Sohn in Jesteburg lebte, am 2. Juli.

Der Fall Slawik C.

Die Hintergründe und Umstände dieses letzten Todesfalls verdeutlichen
den alltäglichen Skandal der Abschiebungshaft in Deutschland besonders eindrücklich:

  1. Es lag kein Haftgrund vor: Die Inhaftierung erfolgte, als Slawik C. bei der Ausländerbehörde vorsprach, um seine Duldung zu verlängern.
  2. Für die Beantragung des Passersatzpapiers bei der armenischen
    Botschaft benutzten die Behörden offenkundig falsche Identitätspapiere.
  3. Die Abschiebung sollte unter Inkaufnahme einer Trennung von seiner Frau erfolgen, für die bis heute kein Passpapier vorliegt.
  4. Der Sohn Samuel besitzt eine Niederlassungserlaubnis und lebt mit Frau und Kind ebenfalls in Deutschland.
  5. Slawik C. erhielt lediglich Beruhigungsmittel. Es fehlte eine fachkundige medizinische Begleitung, welche die akute Suizidalität des Flüchtlings erkannt hätte.

Mit einem Satz: Der Tod von Slawik C. hätte verhindert werden können, wenn die Ausländerbehörde auf ihr Vorhaben verzichtet hätte, die Familie durch Abschiebung auseinanderzureißen und den Familienvater prophylaktisch einzusperren.

Abschiebungshäftlinge sind keine Straftäter. Ihr einziges ›Vergehen‹ besteht darin, dass man ihnen vorwirft, die Bundesrepublik nicht »freiwillig« verlassen zu wollen. Schon aus diesem Grund läge es nahe, über die grundsätzliche Reform eines Systems nachzudenken, das so erschreckend viele Tote produziert. Trotz aller Betroffenheitsbekundungen und Lippenbekenntnisse fehlt jedoch allerorten die Bereitschaft, politische Konsequenzen zu ziehen und Abschiebungshaft abzuschaffen oder wenigstens drastisch einzuschränken. Nach wie vor ist sie keineswegs, wie die Verwaltungsvorschriften zu § 62 Aufenthaltsgesetz vorsehen, die »ultima ratio« zur Durchsetzung einer bestehenden Ausreisepflicht. Abschiebungshaft wird noch immer zu schnell beantragt und oft nach oberflächlicher richterlicher Prüfung verhängt, ohne dass Alternativen überhaupt geprüft werden. Festnahmen erfolgen ohne richterlichen
Haftbeschluss oder die vorgeschriebene Anhörung, und das
verfassungsmäßig gebotene Beschleunigungsgebot wird nicht beachtet mit der Folge, dass die Haft zu lange dauert.

Durch­set­zung der Abschiebung um jeden Preis

Es kann nicht akzeptiert werden, dass die in Artikel 2 GG geschützte
Freiheit der Person von vielen Ausländerbehörden (nicht nur) in Niedersachsen weiterhin mit Füßen getreten wird. Verantwortlich für diese skandalöse Praxis sind vor allem die Innenminister mancher Bundesländer, die ihrer Verantwortung oftmals nicht gerecht werden, im Rahmen der Fachaufsicht die Ausländerbehörden zu einer verhältnismäßigen und rechtsstaatlichen Praxis anzuhalten. Der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann beispielsweise ließ einen aus dem Jahr 1995 stammenden Erlass zur Vermeidung von Abschiebungshaft und zur grundsätzlichen Ankündigung von Abschiebungsterminen im Jahr 2003 ersatzlos streichen und verband dies mit der Aufforderung an die Ausländerbehörden, Abschiebungen auch bei vorliegenden Krankheiten »konsequent« durchzusetzen. Die
Einhaltung der seit 2009 geltenden bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften zu § 62 Aufenthaltsgesetz wird von den
Fachaufsichtsbehörden nur äußerst nachlässig oder überhaupt nicht überprüft.

So sind es in der Regel nicht die Fachaufsichtsbehörden, sondern höhere Gerichtsinstanzen, die die Anordnungen der jeweiligen
Ausländerbehörden oder auch einzelner Haftrichter in Zweifel ziehen: Rund ein Drittel aller Haftanträge wird bei Einlegung von Rechtsmitteln durch die Obergerichte wieder aufgehoben, wie Recherchen des Rechtsanwalts Peter Fahlbusch aus Hannover ergeben haben. Da bemängelt das Landgericht Hildesheim die Inhaftierung eines 16-jährigen Minderjährigen aus dem Landkreis Peine als rechtswidrig, weil »unverhältnismäßig «, da rügt das Landgericht Lüneburg, dass schwer kranke und damit reiseunfähige Menschen in Abschiebungshaft genommen worden waren. Bereits neunmal hat das Bundesverfassungsgericht die niedersächsische Verwaltungspraxis wegen rechtswidriger Inhaftierung von Flüchtlingen gerügt, ohne dass das zuständige Innenministerium sich veranlasst gesehen hätte, diesen staatlich organisierten Verfassungsbruch endlich zu beenden.

Haft trotz schwerer Trauma­ti­sie­rungen

Welche absurden Zuspitzungen im Namen der Staatsräson in Kauf genommen werden, um eine einmal beschlossene Abschiebung um jeden Preis durchzusetzen, zeigt das Schicksal des syrischen Flüchtlings Ali D.: Obwohl zwei Amtsärzte der Justizvollzugsanstalt Hannover dem seit 20 Tagen hungerstreikenden Kurden eine schwere Traumatisierung bescheinigten und akute Suizidalität attestierten, verweigerte der zuständige Landkreis Emsland die Haftentlassung und schaltete stattdessen den für seine Gefälligkeitsgutachten im Auftrag der Behörden berüchtigten Arzt Dr. V. als externen Gegengutachter ein. Dieser vermochte nach kurzer Visite keine schwerwiegende Erkrankung zu erkennen und empfahl, man möge den Mann in ein Justizvollzugskrankenhaus verlegen, dort etwas »aufpäppeln « lassen – was in bis zu sechs Wochen möglich sei – und dann nach Syrien schicken. Das niedersächsische Innenministerium sprach von einem »ganz normalen« Vorgang und weigerte sich, im Rahmen der Fachaufsicht einzuschreiten und die Abschiebungshaft zu beenden. Erst nach einer Haftbeschwerde des Anwalts ordnete das Landgericht die Entlassung aus der Haft an. »Es wird festgestellt, dass die Inhaftierung des Betroffenen in Abschiebungshaft seit dem 28. Juli 2009 rechtswidrig war«, stellte das Landgericht fest. Im Folgeverfahren wurde Ali D. als Flüchtling anerkannt. Der in Syrien gefolterte Flüchtling
leidet bis heute unter diesen Erfahrungen. Für den Arzt und die beteiligten Beamten blieb die Angelegenheit folgenlos.

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