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Gefangene im perspek­tiv­losen Teufels­kreis - Die Entlassung eines Gefangenen wird sabotiert

Grundrechte-Report 2009, Seite 78

In der Justizvollzugsanstalt (JVA) Schwalmstadt (Hessen) befindet sich Herr K., ein 55-jähriger Häftling, in seinem 32. Haftjahr. 18 Jahre dauerte die über das Mindestmaß hinaus festgesetzte Verbüßungsdauer für eine Verurteilung wegen Mordes im Jahr 1976. Im Jahr 1994 beging der auf Bewährung Entlassene mehrere Banküberfälle und erhielt wegen räuberischer Erpressung eine weitere Freiheitsstrafe von 12 Jahren. In die Strafzumessung war die Belastung durch die erste Tat mit eingeflossen. 2004 erhielt der Gefangene ein Gutachten mit positiver Prognose bezüglich seines künftigen rechtskonformen Verhaltens (Legalprognose), ein weiteres positives Gutachten folgte 2006, ein drittes im Juli 2008. Die Gutachten befürworten den zügigen Beginn von Lockerungen im Vollzug, um Entlassungsperspektiven zu eröffnen. Bislang wurden über 20 Ausführungen beanstandungsfrei durchgeführt. Ein Einstieg in Lockerungen wie Ausgänge bzw. offener Vollzug, die die Strafvollstreckungskammer zur Voraussetzung für eine Entlassung gemacht hat, wird aber verweigert.

2007 war nach 30 Jahren Haft auch die zweite Strafe vollständig verbüßt. Doch nun, Anfang 2008, setzte die weitere Verbüßung der vor 32 Jahren verhängten lebenslangen Freiheitsstrafe ein. Diese fortgesetzte Vollstreckung der Freiheitsstrafe erscheint sinnlos. Denn laut Gutachten hat sich der Gefangene schon seit langem umfassend resozialisiert. Herr K. hat die Taten aufgearbeitet. Er hat eine feste Beziehung zu einer Partnerin, eine Tochter und zwei Enkel. Seine abgeschlossene Berufsausbildung als Metallbaumeister ist vom Gefängnis in einer Vertrauensstellung als Hausschlosser genutzt worden. Das Gutachten von Juli 2008 stellt „nochmals“ fest, dass keinerlei Hinweise auf eine fortbestehende Gefährlichkeit vorlägen und „zügig zu vollziehende Lockerungen gewährt“ werden sollten.

Keine Meinungs­frei­heit für Gefangene?

Zusammen mit drei anderen Gefangenen hat sich Herr K. im Juli 2007 mit einem öffentlichen Appell an Presse, Juristen und Politiker gewandt, um die Haftbedingungen im hessischen Strafvollzug in drastischen Worten zu kritisieren. Das Schreiben wurde von der JVA-Leitung angehalten und mit dem Zusatz versehen, dass es „grob unrichtige bzw. erheblich entstellende Darstellungen von Anstaltsverhältnissen“ enthalte. Der Appell, der eine Bewertung von Anstaltsverhältnissen und die Beurteilung der Haftbedingungen seitens der betroffenen Gefangenen beinhaltet, fällt jedoch unter das Grundrecht auf Meinungsfreiheit. Dieses Grundrecht darf nicht für Gefangene durch Vollzugsanstalten außer Kraft gesetzt werden.

Seit diesem Vorfall verweigert die Anstalt dem Gefangenen erst recht sämtliche Lockerungen, die Voraussetzung für eine Entlassung wären. Dem Gefangenen wird, wie bereits früher, von der Anstalt „verbal-aggressives Verhalten“ vorgeworfen. Seit wann gilt Unterwürfigkeit als Entlassungsvoraussetzung, möchte man fragen. So befindet sich Herr K. nun in einem Teufelskreis ohne Ausweg. Die Anstalt kann in solcher Selbstherrlichkeit und Absolutsetzung gegenüber Strafvollstreckungskammer und Gutachten nur handeln, wenn sie vom Justizministerium des Landes politische Rückendeckung hat. Anders ist das Vorgehen nicht zu erklären. Das hessische Justizministerium selbst hatte Herrn K. gegenüber Lockerungen mehrmals versagt.

Die Strafvollstreckungskammer beim Landgericht Marburg, die offensichtlich zur Strafaussetzung auf Bewährung bereit wäre, schrieb am 31. Oktober 2007 an Herrn K.: „Für eine Aussetzung ist es erforderlich, dass Sie sich in Lockerungen bis hin zum offenen Vollzug bewährt haben. Nach dem letzten Gutachten bestanden keine Hindernisse, mit diesen Lockerungen zu beginnen. Seit dem hat sich lediglich geändert, dass die Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt aufgrund jenes angehaltenen Schreibens die Lage neu und zu Ihren Ungunsten beurteilt.“ Die Widersprüche von Herrn K. gegen die Lockerungsverweigerungen blieben bislang erfolglos.

Grenzenlose Inter­pre­ta­ti­ons­frei­heit für die JVA?

Die Anstaltsleitung schreibt im Vollzugsplan vom 22. August 2007: „Im Gegensatz zu den voran beschriebenen Ansätzen war festzustellen, dass Herr K. in der jüngeren Vollzugszeit wieder zunehmend Tendenzen zur Durchsetzung eigener Interessen im Rahmen von Schriftsätzen und Beschwerden gezeigt hatte, die über das sozial adäquate Maß hinausgingen. War er zunächst noch in der Lage, ein sozial adäquates Anspruchsniveau zu halten und sich bei der Durchsetzung seiner Interessen in legalen Grenzen zu halten, so wiesen seine Formulierungen zunehmend eine Grenzwertigkeit auf, die eine äußerst misstrauische Einstellung gegenüber den Justizorganen erkennen ließen. Letztlich wurde ein Schreiben des Herrn K. vom 17.07.07 gem. § 31 Absatz 1 Ziff. 1, 2, 4 StVollzG [Strafvollzugsgesetz] angehalten, da hierin beleidigende und grob falsche und entstellende Behauptungen enthalten waren.“ Die Anstalt schließt aus dem der Justiz gegenüber geäußerten Misstrauen des Häftlings, dass sich dieser im Falle von Lockerungen an Weisungen nicht (mehr) halten würde und auch im Falle seiner Entlassung gegen Normen und Regeln verstoßen würde.

Nachdem Herr K. bei der Strafvollstreckungskammer Antrag auf gerichtliche Entscheidung in Sachen Lockerungsverweigerung gestellt hatte, unterstrich die Anstalt dem Landgericht gegenüber ihre Bewertung. Während bei Ausführungen die Aussicht auf baldige Entlassung bislang „ausreichend fluchthemmend“ gewirkt hätte, habe sich die Lage nun in ihr Gegenteil verdreht: „Somit wäre die vom Antragsteller für den 12.09.07 beantragte Ausführung auf absehbare Zeit das letzte Mal, dass der Antragsteller die Mauern der JVA Schwalmstadt verlassen wird. Dies aber bedeutet, dass diese Ausführung nun die ‚letzte’ Chance des Antragstellers wäre, sich dem von ihm als ‚unberechtigte Mehrverbüßung’ bezeichneten Vollzug der ausgeurteilten lebenslangen Freiheitsstrafe nicht unterwerfen zu müssen, wenn er sich nämlich dabei dem weiteren Vollzug entziehen würde.“ Die Fluchtgefahr sei also „derart gestiegen, dass dieser Gefahr derzeit nicht angemessen begegnet werden könnte. Denn eine Ausführung des Antragstellers in Hand- und Fußfesseln in Begleitung dreier bewaffneter Bediensteter erscheint nicht vertretbar.“ So schließt sich der Teufelskreis, den eine Anstaltsleitung bei unliebsamem Verhalten über einen Gefangenen verhängen kann.

Am 30. September 2008 hat Herr K. erneut ein Schreiben aus seiner nicht enden wollenden Haft an das Komitee für Grundrechte und Demokratie gerichtet und um Unterstützung gebeten: „… so habe ich im Juli das dritte positive Gutachten von Prof. K. erstellt bekommen, hatte am letzten Mittwoch meine 24. Ausführung, und die JVA weigert sich auch weiterhin eine Fortentwicklung wie Ausgang/Urlaub zu erteilen. Somit stecke ich auch weiterhin in dem von mir bezeichneten ‚juristischen Hamsterrad’, was für mich bedeutet: Keine Lockerungen = keine Entlassung.“ Und keine Entlassungsperspektive = keine Lockerung, ergänzen wir. Die Anstalt hat inzwischen auf das dritte – wiederum Lockerungen befürwortende – Gutachten reagiert: Sie fordert ein weiteres Gutachten und teilt der Strafvollstreckungskammer am 18. September 2008 mit „Wann das Gutachten schlussendlich vorliegt, kann noch nicht abgesehen werden.“ – Die neu bestellten Gutachter sind für Negativprognosen bekannt.

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