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Haft statt Kindeswohl - Inhaf­tie­rung von unbeglei­teten Flücht­lings­kin­dern am Frankfurter Flughafen

Grundrechte-Report 2009, Seite 82

Die minderjährigen Brüder, der 12-jährige Daschikan und der 13-jährige Darschan, sollten gezwungen werden, für die tamilische Befreiungsbewegung zu kämpfen. In dem seit vielen Jahren andauernden Bürgerkrieg zwischen tamilischen Separatisten und dem srilankischen Militär wird beiden Seiten von internationaler Seite vorgeworfen, Kindersoldaten zu rekrutieren. Der UN-Sicherheitsrat hat wiederholt den Missbrauch von Kindern als Soldaten verurteilt. Immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass Kindersoldaten als Flüchtlinge geschützt werden müssen. Allerdings gelingt nur den wenigsten Minderjährigen in einer solchen Situation die Flucht.

Daschikan und Darschan haben es geschafft, in die Europäische Union zu fliehen. Sie wollten zu ihrem Vater nach Großbritannien, der dort als geduldeter Flüchtling lebt. Daraus wurde zunächst nichts. Am 8. September 2008 wurden sie bei einem Zwischenstopp am Frankfurter Flughafen von der Bundespolizei angehalten und in die Flüchtlingsunterkunft im Transitbereich gebracht. Festgesetzt am Frankfurter Flughafen, blieb ihnen nichts anderes übrig, als einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu stellen.

Über Wochen wurden die beiden Minderjährigen im Flughafentransit festhalten – bis man ihnen erlaubte, auf Ihre Übersiedlung nach Großbritannien in einem Frankfurter Kinderheim zu warten. Ohne dass ihnen grundlegende Rechte als minderjährige Asylsuchende gewährt wurden, wurde den beiden Tamilen die Einreise nach Deutschland verweigert und ihre Unterbringung im Transit-Gewahrsam angeordnet. Der beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main beantragte einstweilige Rechtsschutz gegen die Verweigerung der Einreise und gegen die Aufenthaltsanordnung blieb erfolglos.

Sie wurden im Gewahrsam des Flughafentransit zusammen mit Erwachsenen inhaftiert. Dabei sind nach den üblichen Standards im Umgang mit minderjährigen Flüchtlingskindern diese in eine Jugendhilfeeinrichtung weiterzuleiten, die als Clearingstelle die besonderen Bedürfnisse der Minderjährigen zu klären hat. Dies ist nicht geschehen.

Eine richterliche Haftanordnung erfolgte durch das Frankfurter Amtsgericht. Dass Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres in Deutschland schlicht haftunfähig sind und keine freiheitsentziehenden Maßnahmen wegen dieser gesetzlichen Haftunfähigkeit durchgeführt werden dürfen, interessierte die beteiligten Behörden ebenso wenig wie den Amtsrichter. Unbeachtet blieb auch die ständige Rechtsprechung des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt, wonach eine Unterbringung für unbegleitete Flüchtlingskinder im Transit regelmäßig unzumutbar ist. Denn der Anordnung von Abschiebungshaft kommt nach der obergerichtlichen Rechtsprechung bei minderjährigen Ausländern wegen der Schwere des Eingriffs eine ganz besondere Bedeutung zu. Die Voraussetzungen für Haft sind nicht gegeben, wenn die Ausländerbehörde nicht darlegt, warum mildere Mittel als Haft zur Sicherung der zwangsweisen Ausreise nicht in Frage kommen (OLG Frankfurt, Beschluss v. 30.8.2004, Az. 20 W 124/06).

Haft wegen Zustän­dig­keits­que­relen

Dass es überhaupt zu einer Inhaftierung der beiden tamilischen Minderjährigen kam, hängt auch mit der europäischen Zuständigkeitsverordnung für Asylverfahren zusammen (Dublin II-Verordnung). Nach dieser EU-Verordnung haben Asylsuchende das Recht auf nur ein Asylverfahren in der gesamten EU. Welcher EU-Mitgliedstaat für das Verfahren zuständig ist, bestimmt sich nach unterschiedlichen Maßstäben, wobei das Kriterium „Ort der Einreise“ am häufigsten zur Anwendung kommt. Kommt die Zuständigkeit eines anderen Staates in Betracht prüfen die deutschen Behörden gar nicht mehr die Asylgründe, sondern klären insbesondere den Reiseweg des Flüchtlings ab. Am Flughafen führt die Überprüfung von Zuständigkeiten bei den Asylsuchenden ausnahmslos für die Dauer der Prüfung zur Inhaftierung, wie der Fall der beiden Kinder erschreckend deutlich macht.

Die Asylgründe oder die speziellen Bedürfnisse – etwa von Traumatisierten – treten dabei immer mehr in den Hintergrund. Auch außerhalb des Flughafens, in „normalen“ Abschiebegefängnissen, füllen sich die Zellen mit Asylbewerbern, die auf ihre inner-europäische Abschiebung warten. Das europäische Zuständigkeitsverfahren hat dazu geführt, dass die EU ein Verschiebebahnhof für Flüchtlinge geworden ist, in dem die verantwortlichen Stellen nicht mehr davor zurückschrecken, jeden, der einen Asylantrag stellt zu inhaftieren, wenn auch nur ein geringer Anhaltspunkt für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates besteht.

Asylbewerber müssen heutzutage mit wochen- oder monatelanger Inhaftierung rechnen, und leben in einer kaum nachvollziehbaren und nicht zu rechtfertigenden Belastungssituation, ehe man sich Ihres Schutzersuchens annimmt.

Verstoß gegen EU-Recht

Besorgnis erregend ist, dass nunmehr auch Minderjährige und haftunfähige Kinder von der Inhaftierungspraxis am Frankfurter Flughafen betroffen sind. Obwohl Kirchen und Flüchtlingsorganisationen seit Jahren darauf hinweisen, dass die Unterbringung am Frankfurter Flughafen nicht geeignet ist, sind die Zahlen der untergebrachten Minderjährigen konstant hoch geblieben, im Verhältnis zur Gesamtzahl sogar tendenziell angestiegen. In den letzten Jahren waren hier über 400 Minderjährige untergebracht. In mehr als 50 %der Fälle waren sie jünger als 16 Jahre. Seit rund zwei Jahren werden sogar auch unter 14-jährige im Flughafentransit über längere Zeiträume festgehalten. Dies ist ein Rückfall zu einer schlechten Praxis, die 1999 – nach längeren Protesten – eingestellt worden war.

Diese Vorgehensweise verletzt nicht nur das Kindeswohl, sondern ist auch mit den Vorgaben der Europäischen Asylrichtlinien nicht vereinbar. Die EU-Richtlinie zu den Aufnahmebedingungen sieht vor, dass Jugendliche und Kinder, die jünger als 16 Jahre sind, nicht in einer Einrichtung für Erwachsene untergebracht werden dürfen. Sie sollen vorrangig bei Verwandten, Pflegefamilien oder speziellen Einrichtungen für Minderjährige untergebracht werden. Außerdem haben Kinder nach der Richtlinie einen Anspruch auf Zugang zum Bildungssystem. Der Schulbesuch darf nicht länger als drei Monate nach Asylantragsstellung verweigert werden.

Diese bindenden EU-Normen werden am Frankfurter Flughafen systematisch missachtet. Die derzeitige Behördenpraxis und auch die Rechtsprechung der Fachgerichte ist daher gemeinschaftswidrig und verletzt die Betroffen in ihren Grundrechten.

Literatur

Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist

Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union

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