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Zwei Bomben zuviel

Grundrechte-Report 2010, Seite 52

Tarnen und Täuschen gehören ebenso zur militärischen Taktik wie Geheimhaltung und überraschender Angriff. Das gilt im Blick auf Gegner im Krieg. Die Bundeswehr hat diese Taktik aber scheinbar so verinnerlicht, dass sie sie auch gegenüber dem eigenen Minister, dem Kanzleramt und dem Bundestag anwendet. Dabei ist die Bundeswehr ein Parlamentsheer unter zivilem Kommando, über dessen Einsatz das Parlament entscheidet. Zur Kontrolle der Armee gibt es einerseits den Wehrbeauftragten des Bundestages, der das Recht hat, sich bei allen Einheiten unangemeldet umzusehen und umzuhören. Und es gibt den Verteidigungsausschuss des Bundestages, der sich jederzeit in einen Untersuchungsausschuss verwandeln kann.

Alle Sicherungen haben versagt, als in der Nacht zum 4. September 2009 in der Nähe von Kundus zwei von Aufständischen gekaperte Tanklastwagen bombardiert und dabei viele Zivilisten getötet oder verletzt wurden, auch Kinder. Was seither berichtet wird, ist widersprüchlich und beinhaltet offensichtlich auch Fehlinformationen. Die Tatsachen werden nur scheibchenweise durch Recherchen der Medien bekannt. Dabei hatte das Massaker am Kundusfluss bereits jetzt beachtliche Folgen. Ein Bundesminister trat zurück, ein Staatssekretär und der Generalinspekteur wurden entlassen, der Verteidigungsausschuss verwandelt sich in einen Untersuchungsausschuss, der neue Verteidigungsminister muss sich korrigieren und gerät zunehmend unter Druck. Selbst die erste Erklärung der Bundeskanzlerin, die Aufklärung versprach und sich forsch Kritik verbat, wird öffentlich angegriffen.

Die Fakten und ihre Darstellung

Was ist passiert? Am 3. September 2009 kaperten Aufständische in der Nähe von Kundus zwei Tanklastwagen. Die blieben in einer Sandbank stecken. Menschen aus der Umgebung kamen, um sich mit Benzin zu versorgen. Der örtliche deutsche Kommandeur forderte US-Kampfflieger an, um die Tanklastwagen zu bombardieren. Bei dem Luftangriff wurden viele Menschen getötet oder verletzt.

Die Vorgänge wurden anfangs so dargestellt, dass nur aufständische Taliban an Ort und Stelle gewesen seien. Das sei von einem Gewährsmann mitgeteilt worden. Der Kommandeur vor Ort sei wegen eines möglichen Angriffs mit den Tanklastwagen als rollenden Bomben besorgt gewesen und habe deshalb Kampfflugzeuge zur Hilfe angefordert. Weitere Einzelheiten kamen erst nach und nach heraus. Unbestritten ist demnach, dass die neuen Einsatzregeln von ISAF zur Rücksichtnahme auf Zivilisten nicht beachtet und unrichtige Auskünfte über eine angebliche Feindberührung der Truppe gegeben wurden. Außerdem erfolgte die vorgeschriebene Rückfrage an höherer Stelle nicht.

Wenig später gab es weitere Neuigkeiten. Trotz mehrfacher Rückfragen der Piloten wurde auf Tiefflüge zur Warnung der vielen Menschen verzichtet, so dass zwar die Tanklaster mit zwei Bomben zerstört, aber gleichzeitig zahlreiche Zivilisten, auch Kinder und Jugendliche, getötet oder verletzt wurden. Das Bombardement wurde von Verteidigungsminister Jung zunächst gerechtfertigt mit der drohenden Gefahr, die von den auf der Sandbank festsitzenden Tanklastwagen hätte ausgehen können. Es seien nur Taliban und keine Zivilisten umgekommen, behauptete er noch, als die Bilder verletzter Kinder im Krankenhaus schon um die Welt gingen. Außerdem erklärte er, der Luftangriff sei militärisch angemessen gewesen, obwohl ihm schon der Bericht der ISAF und eine Feldjägerermittlung vorlagen, die beide zivile Opfer erwähnten. Er musste als Minister zurücktreten.

Die Fehlin­for­ma­tion geht weiter

Auch sein Nachfolger Karl Theodor zu Guttenberg ging schneidig an die Geschichte heran und erklärte ebenfalls zunächst, der Luftangriff sei „militärisch angemessen“, ja zwingend notwendig gewesen. Erst als mehr Einzelheiten aus dem ersten kritischen Untersuchungsbericht der ISAF öffentlich bekannt wurden, korrigierte er sich mit der Entschuldigung, er sei nicht vollständig informiert worden, obwohl der Bericht ihm schon bekannt war. Weil ihm Berichte vorenthalten worden seien, entließ er den Generalinspekteur und einen Staatssekretär. Nun erklärte er das Vorgehen bei Kundus als „militärisch nicht angemessen“, fügte aber entschuldigend hinzu, der Kommandeur habe nach bestem Wissen und Gewissen zum Schutz der ihm anvertrauten Soldaten gehandelt. Ob das mit den vorenthaltenen Berichten stimmt, soll der Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss ebenso klären wie den Hergang überhaupt, der von ISAF als fehlerhaft und vom Roten Kreuz als völkerrechtswidrig bezeichnet wurde. Die entlassenen Spitzenleute bestreiten die Darstellung des Ministers.

Inzwischen gibt es neue Hinweise, dass bei den Tankfahrzeugen mehrere Anführer der aufständischen Taliban gewesen seien. Der verantwortliche Oberst habe dem Generalinspektor sofort mitgeteilt, der Luftangriff sei ohne die von den Piloten angebotene Warnung angeordnet worden, weil diese Führer nicht hätten gewarnt sondern vernichtet werden sollen. Außerdem soll an deren Verfolgung eine zum Teil aus Soldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSK) bestehende Spezialeinheit beteiligt gewesen sein, die für den Schutz des Lagers in Kundus sorgen sollte. Diese habe den Luftangriff veranlasst. Das Parlament war dagegen informiert worden, die geheimen Operationen des KSK in Afghanistan seien beendet.

Was ist militärisch angemessen?

Die Diskussion über den fatalen Einsatz am Kundusfluss entzündete sich zunächst am Begriff „militärisch angemessen“. Die Richtlinien für den ISAF-Einsatz wurden erst vor kurzem so geändert, dass sie polizeiähnlicher wurden. Zivilisten sollen nach Möglichkeit geschont, Luftangriffe nur im Notfall geflogen werden, weil getötete Zivilisten, sogar getötete Taliban den Aufständischen in die Hände arbeiten. Nun tobt der Streit. Ist das Töten von Gegnern militärisch angemessen? Intern hat die Bundeswehr ihren Soldaten seit April 2009 frei gegeben, Aufständische gezielt zu bekämpfen. Die Taschenkarte, die die Richtlinien zusammenfasst, wurde im Sommer  entsprechend verändert. Welche Rechtsgrundlage hat das Vernichten von Aufständischen? Gilt Artikel 2 Absatz 2 „jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ in Afghanistan nicht? Kann man die „kriegsähnlichen Zustände“ als Begründung dafür nehmen, dass Soldaten nicht mehr nur zur Verteidigung berechtigt sind, sondern Gegner ohne eigene Gefahr töten dürfen? Welches Gesetz interpretiert den Gesetzesvorbehalt, in welchen Fällen das Recht auf Leben nicht gilt? Oder ist das einfach die archaische Ansicht „im Krieg wird eben getötet?“ Rechtfertigt das das Massaker und muss der Einsatz nach Völkerstrafrecht beurteilt werden? Die Staatsanwaltschaft Dresden hält das für möglich und hat den Fall an die Bundesanwaltschaft abgegeben.

Parla­ments­heer ohne Parla­ments­in­for­ma­tion?

Über den Luftangriff am Kundusfluss wurde nicht einmal der Verteidigungsausschuss des Bundestages umfassend informiert, geschweige denn das ganze Parlament. Die Regierung
hat nur die Obleute des Verteidigungsausschusses geheim und nur teilweise informiert. Sie hat im Übrigen nichts getan, die Sache aufzuklären. Fakten wurden verheimlicht, obwohl die Bundeskanzlerin, der frühere Außenminister und der neue Verteidigungsminister betonen, wie wichtig ihnen Aufklärung sei. Diese leistete nur die Presse. Die eigentliche Frage nach dem Recht, Aufständische zu vernichten, wird von der Regierung überhaupt nicht beantwortet.

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