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Asylbe­wer­ber­leis­tungs­ge­setz - Die Zeit heilt nicht alle Wunden

Grundrechte-Report 2009, Seite 156

Seit Ende 1993 erhalten Asylbewerber und andere Flüchtlinge ohne gesichertes Aufenthaltsrecht erheblich geringere Sozialleistungen zur Sicherung des Existenzminimums als Sozialhilfeempfänger. Dieses Sonderrecht – geregelt im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) – war seit seinem Inkrafttreten stets Ziel verfassungsrechtlicher Kritik (vgl. Kauffmann, Grundrechte-Report 1997, S. 27). Der politische Druck gegen das Gesetz nimmt in jüngster Zeit wieder zu: Im November 2007 kritisierte die EG-Kommission Deutschland wegen der Nichtumsetzung von europaweiten Standards bei Gesundheitsleistungen für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge (Bericht vom 26.11.2007, KOM (2007) 745 endg.). Das Komitee für Grundrechte und Demokratie startete im Juni 2008 eine Massenpetition an den Deutschen Bundestag zur Abschaffung der Sonderregelung. Im November 2008 legte die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/DIE GRÜNEN einen Gesetzentwurf zur Abschaffung des AsylbLG vor.

Die Rechtsprechung hat den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit des AsylbLG wegen einer Unterschreitung des soziokulturellen Existenzminimums und einer gleichheitswidrigen Benachteiligung gegenüber anderen Bedürftigen bislang nicht aufgegriffen. Zur Rechtfertigung dient seit den neunziger Jahren der fehlende „soziale Integrationsbedarf“ von Personen ohne verfestigtes Aufenthaltsrecht (Bundesverwaltungsgericht, Neue Zeitschrift für das Verwaltungsrecht 1999, 669), das soziokulturelle Existenzminimum könne daher niedriger ausfallen.

Selbst wenn man sich auf diese Konstruktion einmal einlässt, so erscheint im Jahr 2009 zweifelhaft, ob der fehlende „soziale Integrationsbedarf“ das Gesetz gerade heute noch verfassungsrechtlich zu tragen vermag. Gesetze können nämlich auch verfassungswidrig „werden“. Insbesondere, wenn mit einer Regelung auf besondere, zeitbedingte Probleme reagiert und „gegengesteuert“ werden soll, so bleiben die Organe der Gesetzgebung verpflichtet zu kontrollieren, ob sich durch die Änderung der tatsächlichen Verhältnisse auch die Mittel-Zweck-Relation verändert hat und die Regelung am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu korrigieren ist. Dass die Schlechterstellung von Flüchtlingen gegenüber Sozialhilfeempfängern durch Regelungen des AsylbLG am Maßstab des Artikel 3 Absatz 1 GG einer strengen Rechtfertigung am Verhältnismäßigkeitsprinzip unterliegt („Neue Formel“), stellte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2006 klar, der Fall bot aber keinen Anlass, die Leistungshöhe zu problematisieren (Beschluss vom 11.7.2006 – 1 BvR 293/05).

Die Flüchtlingssituation und die Auswirkungen der Regelungen haben sich seit dem Gesetzgebungsverfahren vor mehr als fünfzehn Jahren gewaltig verändert: Fehlender Inflationsausgleich und fehlende Angleichung an die Sozialhilfe haben die Leistungen entwertet, seit „Hartz IV“ werden zudem rechtliche Systembrüche deutlich, auch hat sich der Adressatenkreis des AsylbLG weder qualitativ noch quantitativ in der Weise entwickelt, wie es seinerzeit im Gesetzgebungsverfahren prognostiziert wurde.

Leitungen real gesunken

Die Leistungen nach dem AsylbLG verloren sowohl im Vergleich zur Sozialhilfe als auch zur Entwicklung der Lebenshaltungskosten in den letzten eineinhalb Jahrzehnten massiv an Wert: Im Jahr 1993 standen monatliche Grundleistungen von maximal 440 DM einem Sozialhilferegelsatz von 515 DM (unterschiedlich je nach Bundesland; hier: Hessen und Baden-Württemberg) gegenüber, jeweils für den sog. „Haushaltsvorstand“ ohne Kosten der Unterkunft. Die Grundleistungen lagen zu Beginn also bei ca. 86 Prozent der Sozialhilfe. Zehn Jahre später hatte sich das Verhältnis bereits erheblich verschlechtert, nämlich 224,97 Euro zu 297 Euro, prozentual nur noch 76 Prozent; anders ausgedrückt: Der Sozialhilferegelsatz stieg um 12,9 Prozent, die Leistungen u.a. für Asylbewerber und Geduldete blieben gleich. Gleichzeitig veränderten sich die Lebenshaltungskosten zu Lasten beider Vergleichsgruppen aber um 16,3 Prozent (Verbraucherpreisindex des Statistischen Bundesamtes).

Der folgende Systemwechsel zu „Hartz IV“ im Jahr 2005 wurde im AsylbLG nicht vollzogen. Während bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende und in der Sozialhilfe einmalige Leistungen pauschaliert und durch eine knapp geratene Regelsatzerhöhung dort integriert wurden (Schreiber, Grundrechte-Report 2005, S. 165 ff.), blieben die ohnehin nur sehr eingeschränkt vorgesehenen Einmalleistungen in § 6 AsylbLG unverändert. Zudem beruhte die Regelsatzerhöhung zum Teil auf Bedürfen, die ohne jeden Integrationsbezug sind, was eine entsprechende, teilweise Erhöhung auch im AsylbLG nahe gelegt hätte, die aber nicht erfolgt ist. Wegen dieser Systembrüche fällt es schwer, die Schere zwischen den Leistungen heute zu quantifizieren. Schreibt man „fiktiv“ die alten Sozialhilfebeiträge fort, so stünden den bereits bekannten 224,97 Euro nunmehr 303 Euro (297 Euro + 6 Euro Erhöhung) gegenüber, das prozentuale Verhältnis hätte sich auf 74 Prozent verschlechtert. Rechnet man mit dem aktuellen Arbeitslosengeld II bzw. Sozialhilfe-Regelsatz von 351 Euro, so wären es gar nur noch 64 Prozent; gegenzurechnen wären im letztgenannten Fall aber lebensunterhaltsbezogene Einmalleistungen. Der Verbraucherpreisindex stieg von 1993 bis 2007 um 24,7 Prozent. Am Maßstab der Kaufkraft waren hiernach 2007 also von 440 DM noch 352,69 DM übrig – aktuell noch weniger.

Durch 15 Jahre fehlenden Inflationsausgleich und die fehlende Angleichung an das frühere Referenzsystem der Sozialhilfe ist der Abstand zwischen AsylbLG und Arbeitslosengeld II bzw. Sozialhilfe derart deutlich gewachsen, dass der fehlende Integrationsbedarf die Differenz auch dann nicht mehr rechtfertigen kann, wenn man einen gewissen gesetzgeberischen Pauschalierungs- oder Rundungsspielraum anerkennt.

Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat sind sich der Problematik spätestens seit der Euro-Einführung bewusst. Mit Rücksicht auf den seinerzeit unionsdominierten Bundesrat strebte die rot-grüne Bundesregierung 2001 wegen der Erhöhung der Verbraucherpreise eine Erhöhung der Leistungen um lediglich 1,4 Prozent an, die gleichwohl im Bundesrat scheiterte (Bundesrats-Drucksache 956/01). In der aktuellen Legislaturperiode leugnete das Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf eine kleine Anfrage der bündnisgrünen Bundestagsfraktion gleichwohl, einen Anlass zu einer Anhebung der Grundleistungen zu sehen (Bundestagsdrucksache 16/7365, 16/9018).

Verschär­fung der Benach­tei­li­gungen

Die letzte Novelle des AsylbLG brachte daher im August 2007 keine Lösung, stattdessen eine weitere Verschärfung. Der Bundestag leistete sich die Peinlichkeit, im Gesetz die DM-Beträge unverändert zu lassen. Verlängert wurde dafür die Frist, nach der das Sozialhilferecht (SGB XII) entsprechende Anwendung findet und ein erhöhter Bedarf anerkannt wird. Früher waren es 36 Monate Leistungsbezug, nunmehr werden die Ansprüche erst nach 48 Monaten erweitert. Einen sachlichen Grund hierfür findet man weder in der Entwurfsbegründung noch ist er sonst erkennbar. Im Gegenteil: Die durchschnittliche Dauer des Asylverfahrens bis zum rechtskräftigen Abschluss (also: Verwaltungs- und Gerichtsverfahren) reduzierte sich allein von 2004 bis 2007 von 21,3 auf 17,9 Monate. Asylbewerber machen einen geringer werdenden Anteil der Leistungsempfänger aus. Auch die Dauer des nur geduldeten Aufenthalts – auch ein Anwendungsfall des AsylbLG – sollte künftig kürzer werden. Nach dem Aufenthaltsgesetz (AufenthG) müssen Ausländerbehörden statt so genannter „Kettenduldungen“ früher als zuvor Aufenthaltserlaubnisse wegen eines Abschiebungshindernisses erteilen, wobei nach wie vor rund 100.000 Personen in Deutschland leben, deren Aufenthalt seit sechs Jahren oder mehr geduldet ist. Der relative Anteil langjähriger Leistungsbezieher steigt trotz Verfahrensbeschleunigung. Der vom Gesetzgeber intendierte Abschreckungseffekt greift nicht, weil andere Gründe für den Verbleib in Deutschland ausschlaggebend sind als die Durchführung des Asylverfahrens oder der Sozialleistungsbezug: Eine größer werdende Gruppe der vom AsylbLG Betroffenen sind jene Inhaber von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Absatz 5 AufenthG sein, die wegen Abschiebungshindernissen ein Aufenthaltsrecht erhalten haben, z.B. Iraker und Afghanen. Die Abschiebungshindernisse sind naturgemäß von einer gewissen Dauerhaftigkeit, weshalb es zynisch erscheint, den Flüchtlingen den inzwischen bestehenden Integrationsbedarf weiter vorzuenthalten.

Die Benachteiligungen im Vergleich zum Sozialhilferecht sind aus heutiger Sicht schließlich auch unangemessen, weil das AsylbLG niemals die große finanzpolitische Bedeutung erlangt hat, die ihm im Gesetzgebungsverfahren beigemessen wurde (vgl. Bundestagsdrucksache 12/4451, S. 6). Niemals bezogen die prognostizierten 600.000 Flüchtlinge Leistungen, Ende 1996 waren es 497.000, die Zahlen sanken aber rasch, aktuell auf 153.500. Auch die seinerzeit prognostizierte Einsparung von jährlich 2 Milliarden DM gegenüber dem Niveau der Sozialhilfeleistungen erscheint aus heutiger Sicht utopisch. In dieser Region bewegen sich heute die Gesamtausgaben (circa 1,1 Milliarden Euro).

Literatur

Die Daten wurden dem Internetangebot des statistischen Bundesamtes, der Broschüre BAMF (Hrsg.), „Asyl in Zahlen 2007“, sowie der Begründung zu einem Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN zur Aufhebung des AsylbLG (Bundestagsdrucksache 16/10837) entnommen.

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