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Drei von 50: Kaum Konse­quenzen nach brutalem Neona­zi­an­griff

Grundrechte-Report 2009, Seite 200

Als Beamte der Bundespolizei am frühen Nachmittag des 30. Juni 2007 am Bahnhof der mecklenburgischen Kleinstadt Pölchow eintrafen, fanden sie überall Spuren von Gewalt. In der S-Bahn Nr. 9016 waren Scheiben und Zwischentüren eingeschlagen worden, auf dem Boden mischten sich ausgerissene Haarbüschel und getrocknetes Blut. Auf dem Bahnsteig: Rund 100 Neonazis und kleinere Grüppchen sichtlich unter Schock stehender, teilweise verletzter alternativer Jugendlicher und junger Erwachsener sowie verängstigte „neutrale“ Reisende.

Das große Wort führte an diesem Tag auf dem Bahnhof von Pölchow vor allem Udo Pastörs, Vorsitzender der NPD-Fraktion im Schweriner Landtag. Man sei von „Linkschaoten“ angegriffen worden, behauptete Pastörs gegenüber den Beamten. Zum Beweis für diesen Vorwurf gäbe es auch Videoaufnahmen. Dann drängte der Fraktionsvorsitzende zur Weiterfahrt: Denn in Rostock wollte die NPD an diesem Tag „gegen linke Gewalt“ demonstrieren und „die Kameraden“ warteten schon. Tatsächlich konnten Pastörs & Co. schon nach einer kurzen Personalienfeststellung mit der S-Bahn Nr. 9016 nach Rostock weiterreisen.

Schon kurz danach existierten zu den Ereignissen in der S-Bahn Nr. 9016 sehr unterschiedliche Darstellungen: NPD und Neonazis präsentierten sich öffentlich wahlweise als Opfer oder als „Sieger“ einer Auseinandersetzung mit „Linksfaschisten“ – so wie beispielsweise die neonazistische „Kameradschaft Malchin“, die sich auf ihrer Website brüstet: „Ob im RE-Zug in Pölchow oder dem linken Studentenviertel, die Nationale Opposition hat (…) auf allen Ebenen einen klaren Sieg davon getragen.“

Auch Bundespolizei und Landespolizei verfolgten – je nach Einsatzort – zwei entgegen gesetzte Versionen des Geschehens. Eine Gruppe von Beamten ging sehr bald von einem Angriff einer zahlen- und kräftemäßig überlegenen Gruppe von Neonazischlägern aus dem gesamten Bundesgebiet auf unbewaffnete alternative Jugendliche und junge Erwachsene aus. Andere Beamte übernahmen dagegen sofort die Version des NPD-Fraktionsvorsitzenden.

Ein Dutzend Verdächtige von Links

Unstrittig ist, dass die Staatsanwaltschaft Rostock fast unmittelbar nach dem Angriff Ermittlungsverfahren wegen schweren Landfriedensbruchs gegen zwölf Männer und Frauen einleitete, die Polizeibeamte aufgrund ihres Äußeren der linken Szene zugeordnet hatten – und diese Ermittlungsrichtung mit entsprechendem Nachdruck auch in der Öffentlichkeit vertrat. Die zwölf waren gemeinsam mit rund 30 anderen, zum Teil erheblich verletzten alternativen Jugendlichen und unbeteiligten Reisenden von Polizisten in der Nähe einer Kleingartensiedlung bei Pölchow festgestellt worden. Die Kleingärtner hatten einigen Blutenden erste Hilfe geleistet, dann nahmen die Beamten die Personalien aller auf und filmten sie. Bei den Neonazis hingegen verzichteten die Polizisten an diesem Tag weitgehend auf Video- und Bildaufnahmen und auf Hausdurchsuchungen, um die von Udo Pastörs erwähnten Filmaufnahmen zu finden.

Mehr als ein Jahr lang ermittelte die Staatsanwaltschaft Rostock dann gegen die zwölf Linken: ergebnislos. Im Sommer 2008 wurden elf der zwölf Ermittlungsverfahren mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt. Als einziger nicht-rechter Beschuldigter übrig geblieben ist ein zum Zeitpunkt des Angriffs 17-jähriger alternativer Jugendlicher aus Sachsen-Anhalt. Ihm wird versuchte gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Nach Ansicht von Beobachtern handelt es sich bei dem Vorwurf vermutlich um eine Retourkutsche der nach dem Jugendstrafrecht zuständigen Justiz aus seinem Heimatort, die für ihre Verfolgungswut gegenüber der zahlenmäßig sehr kleinen alternativen Jugendszene berüchtigt ist.

„Das ist hier wie im Krieg“

Fragt man Augenzeugen nach ihrer Erinnerung an die Fahrt mit der S-Bahn Nr. 9016, erfährt man folgendes: Eine Reihe von jugendlichen Besuchern das alternativen Musik-Festival „Fusion“ an der Müritz hatten sich spontan entschlossen, zu einer Kundgebung gegen den NPD-Aufmarsch nach Rostock zu fahren. Die rund 60 Festivalbesucher stiegen in Schwaan in ein fast leeres S-Bahnabteil des Zugs Nr. 9016 ein. Irgendjemand entdeckte dabei ein halbes Dutzend Rechte, die dann laut Augenzeugenberichten in Pölchow aus dem Zug gedrängt wurden – ohne Gewaltanwendung, wie auch die Staatsanwaltschaft feststellte. Plötzlich begannen dann mehrere Dutzend überwiegend in Thor-Steinar-Shirts und in Schwarz gekleidete Neonazis, die teilweise mit Sonnenbrillen und Tüchern vermummt waren, Gleisbettsteine in den S-Bahnzug zu werfen und drängten in die Abteile.

Dabei fielen Sprüche wie „Jetzt gibt’s richtig aufs Maul“, “Jetzt seid ihr dran” und „Das ist hier wie im Krieg“. Viele erinnern sich an den unvermummten Anführer der Rechten, der durch seine gegelten, halblangen Haare, sein Alter und seine autoritären Kommandos auffiel und den einige noch vor Ort als Michael Grewe (40), Mitarbeiter der NPD-Landtagsfraktion in Schwerin, identifizierten. Augenzeugen berichteten von Zaunlatten und mit Quarzsand gefüllten Handschuhen, von Fußtritten und Glasflaschen, mit denen sich Gruppen von Rechten in- und außerhalb des Zugs über einzelne Opfer hermachten – während Neonazis mit Handys und Digitalkameras filmten. Übereinstimmend schildern mehrere Augenzeugen, wie zwei Neonazis immer weiter auf Gesicht, Bauch und Kopf eines schon am Boden liegenden jungen Mannes eintraten und ihn schwer verletzten – ohne dass sich jemand traute, einzuschreiten.

Drei von 50

Geht es nach den Strafverfolgern, werden sich lediglich drei von den rund 50 Neonazis, die nach Ansicht der Strafverfolger an dem Angriff beteiligt waren, vor Gericht dafür verantworten müssen. Bis zum Spätherbst 2008 ließ man sich bei der Staatsanwaltschaft Rostock Zeit für eine Anklage wegen “schweren Landfriedensbruchs in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung” gegen die “Rädelsführer” Michael Grewe aus Boizenburg und Dennis F. aus Wismar. Bei dem dritten Angeklagten handelt es sich um einen Heranwachsenden aus der mecklenburg-vorpommerschen Neonaziszene. Wann es zu einer Hauptverhandlung am Jugendschöffengericht Rostock kommen wird, ist völlig unklar. Fragt man Oberstaatsanwalt Peter Lückemann, Sprecher der Staatsanwaltschaft Rostock, nach dem langen Ermittlungszeitraum und dem einseitigen Fokus auf vermeintliche linke Straftäter, erhält man nur ausweichende Antworten von einem “mühseligen Puzzle” und “widersprüchlichen Aussagen”. Dabei lagen den Behörden schon wenige Tage nach dem Angriff namentlich belastende Aussagen gegen Grewe vor, der in den 1990er-Jahren bundesweit als gewaltbereiter Neonazi bekannt wurde, weil Beamte bei einer Hausdurchsuchung bei ihm eine Maschinenpistole und rund 1300 Schuss Munition fanden. Trotzdem fahndete der polizeiliche Staatsschutz im Frühjahr 2008 im Internet mit einem Foto einer “unbekannten, männlichen Person” nach Grewe – während der weiter unbehelligt als Mitarbeiter der NPD-Fraktion im Schweriner Landtag aus- und einging.

„Einen vergleichbaren Fall hat es in Mecklenburg-Vorpommern noch nicht gegeben,“ sagt Oberstaatsanwalt Peter Lückemann inzwischen über den Angriff der Neonazis – eine Aussage, die sich mühelos auch auf die Ermittlungen ausdehnen lässt.

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