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Kinderarmut oder sozialer Rechts­s­taat?

Grundrechte-Report 2009, Seite 152

In Deutschland entscheidet zunehmend die soziale Lage der Eltern darüber, ob ihr Kind gesund aufwachsen kann, die Chance auf eine gute Bildung und Ausbildung bekommt, ob es am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann oder ausgeschlossen bleibt.

Kinderarmut hat im reichen Deutschland einen historischen Höchststand erreicht. Während im Jahr 1965 nur jedes 75. Kind arm war, ist inzwischen im bundesweiten Durchschnitt etwa jedes sechste auf staatliche Hilfe angewiesen. In den neuen Bundesländern lebt jedes vierte, in Berlin sogar jedes dritte Kind unterhalb der Armutsschwelle – während gleichzeitig politische Entscheidungen Konzerngewinne und Vermögen mächtig anschwellen ließen.

Natürlich bekommen die betroffenen Eltern finanzielle Unterstützung. Aber die staatlichen Regelsätze entsprechen in keiner Weise dem tatsächlichen Bedarf. Die Beträge für Essen und Trinken für Kinder unter 14 Jahren ermöglichen nach allen wissenschaftlichen Berechnungen keine gesunde Ernährung. Für Bekleidung, Hygiene, Freizeit oder Schulmaterial sind die Mittel so knapp bemessen, dass die Kinder mit der Erfahrung aufwachsen, benachteiligt zu sein und zu den Verlierern zu gehören.

„Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit…“, heißt es im Artikel 2 des Grundgesetzes. Auf die Lebenswirklichkeit der Kinder in Familien, die Hartz IV- Leistungen beziehen, hat dieses Grundrecht keine praktische Auswirkung.

Benach­tei­li­gung stellt schon früh die Weichen

Die systematische Benachteiligung durch politisch verursachte Armut kann das Leben der Kinder und Jugendlichen entscheidend beeinflussen. Es gibt eine Fülle von Daten über den schlechten körperlichen und seelischen Gesundheitszustand von armen Kindern. Im 12. Kinder- und Jugendbericht werden Belege für die große Gefährdung genannt, denen Kinder in benachteiligten Verhältnissen im Vergleich zu Kindern wohlhabender Eltern ausgesetzt sind. Danach ist bereits die Säuglingssterblichkeit in belastenden Lebensverhältnissen 2,7 mal häufiger; emotionale und soziale Störungen kommen bei Kindern armer Eltern fünf mal so oft vor, psychomotorische Störungen finden sich mehr als sechs mal so oft wie in Familien in finanzieller und sozialer Sicherheit. Die ungleiche Verteilung der Chancen, gesund aufzuwachsen, zeigt sich schließlich besonders deutlich in der Feststellung, dass die Lebenserwartung eines armen Menschen etwa um zehn Jahre geringer ist als die eines wohlhabenden. „Gesundheitliche Ungleichheit ist eine Frage, die über Leben oder Tod entscheidet“, stellt die Weltgesundheitsorganisation in ihrem Abschlussbericht über gesundheitliche Chancengleichheit 2008 fest.

„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Leider steht dieses Grundrecht für Kinder in armen Familien nur auf dem Papier.

Ähnlich ungerecht geht es in der Bildung zu. In Deutschland stellt die soziale Herkunft das wichtigste Kriterium dar, das über den Bildungsweg eines Kindes entscheidet. Bei gleicher Begabung ist die Chance eines 15-jährigen Jungen oder Mädchens aus reichem Haus viermal so hoch, das Gymnasium besuchen zu können wie die eines Facharbeiterkindes. Die Chancen von Kindern von allein erziehenden Elternteilen oder Migranten sind noch wesentlich geringer. Bietet diesen chancenlosen Kindern und Jugendlichen in ihrem gefährdeten Leben das Grundrecht nach Artikel 3 Grundgesetz, wonach sie nicht wegen ihrer Herkunft benachteiligt werden dürfen, irgendeine konkrete Hilfe?

Die ständige Benachteiligung und die Perspektivlosigkeit führen zu Dauerstress und sozialem Ausschluss. Ausschlaggebende Gründe für Jugendgewalt sind entgegen populistischen Wahlkampfbehauptungen nicht Nationalität oder Religion. Entscheidend sind vielmehr benachteiligende Bedingungen des Aufwachsens, also niedriges Bildungsniveau, Armut, soziale Ausgrenzung und schlechte Intergrationsperspektiven. Diese Ursachen werden aber nicht behoben; vielmehr werden Folgeprobleme der Armut Wohlfahrtsverbänden, der Jugendhilfe oder Gerichten zur „Reparatur“ zugewiesen.

Kinderarmut ist Kindes­wohl­ge­fähr­dung

Zwar wird bundesweit viel über Kindeswohlgefährdung und Prävention diskutiert – allerdings in einer tendenziösen Einseitigkeit. Wenn man nämlich mit dem Bundesgerichtshof Kindeswohlgefährdung als eine Gefahr für die Kindesentwicklung definiert, die „bei Fortdauer eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“, dann ist Kinderarmut die schwerwiegendste und am meisten verbreitete Form der Kindeswohlgefährdung.

In der Diskussion über notwendigen Kinderschutz wird aber nur die Verantwortung der Eltern für misslingende Erziehung hervorgehoben, nicht aber die Pflicht der staatlichen Gemeinschaft zur Schaffung der unerlässlicher Bedingungen, damit Eltern ihr Recht und ihre Pflicht zur Erziehung und Förderung ihres Kindes nach dem Artikel 6 des Grundgesetzes erfüllen können. Nach den Feststellungen der Sachverständigen des 11. Kinder- und Jugendberichtes hat der Staat aber eine „Gewährleistungsverantwortung dafür, dass Kinder und Jugendliche und ihre Eltern objektive Lebensbedingungen vorfinden, die für ein gesundes, glückliches und chancengleiches Aufwachsen Voraussetzung sind“ (S. 252). Diese Grundbedingung für die Umsetzung des Artikel 6 des Grundgesetzes wird vom Staat nicht erfüllt und damit eine Grundbedingung für das Funktionieren des Sozialstaates verletzt.

Nach der Verfassung ist Deutschland ein sozialer Rechtsstaat. Für seine Verwirklichung muss der Gesetzgeber die erforderlichen sozialen Voraussetzungen schaffen, insbesondere in Bezug auf die Herstellung sozialer Gerechtigkeit und den Abbau sozialer Ungleichheit. Allerdings ist nur noch etwa 15 % der Bevölkerung der Überzeugung, dass es in unserem Land gerecht zugeht.

Die im Grundgesetz verankerte Sozialstaatsklausel, ist eine Verpflichtung zum Ausgleich sozialer Gegensätze und für eine gerechte Sozialordnung – aber auch dafür, die tatsächlichen Bedingungen zur Wahrnehmung von Grundrechten zu schaffen. Der Staatsrechtler Alfred Katz sieht das Sozialstaatsprinzip als eine „unmittelbar geltende fundamentale normative Verfassungsaussage“ an: „Dem Staat kommt also die verantwortliche Aufgabe zu, die gesellschaftliche und ökonomische Wirklichkeit im Sinne einer sozialen Gerechtigkeit so zu gestalten bzw. zu korrigieren, dass unangemessene Wohlstandsdifferenzen ausgeglichen und verhindert, Abhängigkeitsverhältnisse abgebaut oder gemildert werden sowie eine gerechte Teilhabe aller an den Gütern der Gemeinschaft und ein menschenwürdiges Dasein für alle, im besonderen für die schwächeren Schichten, gesichert ist (…) Die Sozialstaatsklausel dient (…) der Schaffung materieller Grundrechtsvoraussetzungen. Grundrechte wären ohne die tatsächliche Möglichkeit, sie in Anspruch nehmen zu können, wertlos.“ (Katz, Staatsrecht, S. 93)

Kinderarmut in einem reichen Land und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich gefährden nicht nur das Wohl und die Entwicklung von Kindern (und von deren Kindern, denn Armut wird sozial „vererbt“). Sie sind auch mit grundlegenden Prinzipien des sozialen Rechtsstaates nicht zu vereinbaren.

Literatur

Katz, Alfred: Staatsrecht. Heidelberg 1987 (8., überarbeitete und ergänzte Auflage)

Elfter Kinder- und Jugendbericht. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. 2002

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