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Abgespei­chert - sicher­heits­halber - Die Vorrats­da­ten­spei­che­rung erklärt jedermann zum poten­ti­ellen Rechts­bre­cher

Grundrechte-Report 2008, Seite 29

Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits 1983 ausdrücklich klargestellt: Die Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken ist mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nicht zu vereinbaren und daher verfassungswidrig. So klar und eindeutig steht es im Volkszählungsurteil – und doch hat der Bundestag am 9. November 2007 das umstrittene „Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG“ verabschiedet.

An der Unvereinbarkeit dieses Gesetzes mit deutschem Verfassungsrecht dürften kaum ernsthafte Zweifel bestehen. Sehenden Auges wird durch die anlassunabhängige Speicherung von personenbezogenen Daten ein auf die Ausübung von Grundrechten, also etwa einer freien Kommunikation via Datennetzen, bezogenes Vermeidungsverhalten der Bürger riskiert.

Die europa­recht­liche Verpflich­tung …

Die im Titel des Gesetzes genannte EU-Richtlinie ordnet gegenüber den nationalen Gesetzgeber Europas an, die Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungen zu verpflichten, die bei jeder Telekommunikation (TK) anfallenden – und von den verschiedenen Sicherheitsbehörden auch bereits genutzten – Verkehrsdaten über einen Zeitraum von sechs Monaten zu speichern. Aus diesen Daten geht hervor, wer mit wem wann und von wo aus kommunizierte und welche Art der Informationsübermittlung (Telefongespräch, SMS etc.) dabei genutzt wurde. Diese Speicherverpflichtung trifft dabei sowohl den Anbieter des Anrufers bzw. Absenders wie auch denjenigen des Angerufenen bzw. Nachrichtenempfängers. Eine Speicherung von Kommunikationsinhalten (was wurde gesprochen oder anderweitig übermittelt) verlangt das Gesetz hingegen nicht. Für den deutschen Gesetzgeber bestand eine Pflicht zur Umsetzung der EU-Richtlinie, weshalb es im Fall einer Weigerung des Bundestages zu einem EU-Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland gekommen wäre.

… und das „über­schie­ßende“ deutsche Recht

Das Gesetz aus dem Hause von Bundesjustizministerin Zypries beschränkt sich indessen nicht auf eine Umsetzung der europarechtlichen Notwendigkeiten, sondern geht beim Zugriff auf die gespeicherten Verkehrsdaten über das Unabdingbare hinaus: So dürfen die Strafverfolgungsbehörden den bei den TK-Anbietern ruhenden Datenvorrat beispielsweise nutzen, um Straftaten, die mittels Telekommunikation begangen worden sein sollen, aufzuklären (vgl. § 100g Absatz 1 Nummer 2 Strafprozessordnung). Selbst Bagatelldelikte wie Beleidigungen können den Zugriff auf die gespeicherten Verbindungsdaten also rechtfertigen, wenn sie – etwa – per Telefon verübt wurden. Mit dem ursprünglichen, in der EU-Richtlinie genannten Anlass für die Speicherung des Kommunikationsverhaltens der gesamten europäischen Bevölkerung, nämlich der Aufklärung und Verfolgung schwerer Straftaten, ist dies gewiss nicht zu verwechseln.

Ablen­kungs­ma­növer aus dem Hause Zypries

Bundesjustizministerin Zypries verteidigte ihr Gesetz unter anderem mit dem Argument, die TK-Anbieter würden lediglich zur Speicherung solcher Daten verpflichtet, die diese zu Abrechnungszwecken ohnehin erhöben und verarbeiteten. Dieser Ausspruch darf indessen getrost als rhetorische Nebelkerze betrachtet werden. Denn mitnichten haben „Telekom & Co.“ aus Abrechnungsgründen ein Interesse an der Information, in welcher Funkzelle sich das Mobiltelefon eines Kunden zum Zeitpunkt eines zu berechnenden Gesprächs befunden hat. Für die Telefonrechnung ist lediglich der Zeitpunkt und die Länge einer Kommunikation interessant – und das auch nur so lange, bis die Rechnung beglichen ist. Jede weitere Speicherung, die durch keinen bestimmten, konkreten Zweck veranlasst ist, war bislang sogar verboten. Erst recht nicht hat der TK-Dienstleister des Empfängers einer elektronischen Nachricht oder eines Angerufenen ein Interesse an der Kommunikation seines Kunden. Für ihn ist dieser Umstand wirtschaftlich völlig irrelevant, sofern nicht ausnahmsweise auch bei seinem Kunden Gebühren anfallen (etwa bei Auslands-Handytelefonaten). Die Speicherung des bei der Kommunikation anfallenden „Datenpakets“ erfolgt also – über den Abrechnungszeitraum hinaus – ausschließlich im staatlichen Interesse und ausschließlich auf staatliche Veranlassung.

Ein ähnliches Urteil wird man über den Zypries’schen Ausspruch fällen müssen, wonach es einen Zugriff auf die „Vorratsdaten“ nur dann geben könne, wenn man den Verdacht auf eine erhebliche Straftat habe und ein richterlicher Beschluss vorliege. Warum wurde dann zugelassen, dass auch alle Straftaten, die mittels Telekommunikation begangen wurden, mit Hilfe dieses Datenvorrats aufgeklärt werden dürfen, ohne dass es auf die Erheblichkeit der Rechtsverletzung ankommt?

Schließlich ist der zukünftige Zugriff der Geheimdienste auf das überaus aufschlussreiche Datenreservoir der Vorratsdaten in den Blick zu nehmen. Denn schon bald wird sich zeigen, ob beispielsweise die Landesparlamente ihren Verfassungsschutzbehörden vorenthalten wollen, sich einen Überblick über das vergangene Kommunikationsverhalten von vermuteten oder tatsächlichen Verfassungsfeinden verschaffen zu können. Ein einmal angelegter Datenbestand, aus dem reiche Erkenntnisse zu schöpfen sind, wird schon bald Begehrlichkeiten wecken, denen sich kein Sicherheitspolitiker dauerhaft zu entziehen vermag.

Jeder Bundes­bürger als poten­zi­eller Rechts­bre­cher?

Ein Gesetz, das anlassunabhängig eine Datenspeicherung über jedermann anordnet, hat denknotwendig im Sinn, für den „Fall des Falles“ vorbereitet zu sein. Immerhin könnte der heute noch unauffällig telefonierende Bundesbürger ja morgen (oder in fünf Monaten und 29 Tagen) am Telefon eine Bedrohung (§ 241 Strafgesetzbuch) aussprechen. Und dann zeigte sich die Polizei selbstverständlich schlecht vorbereitet, wenn sie nicht zurückwirkend feststellen könnte, ob der behauptete Anruf überhaupt stattgefunden hat und wo sich der Verdächtige zu diesem Zeitpunkt aufgehalten hat. Aber wäre es in einem freiheitlichen Rechtsstaat nicht leichter zu ertragen, wenn solche Feststellungen nicht möglich wären und um diesen Preis darauf verzichtet würde, die Kommunikationskontakte der gesamten Bevölkerung über einen Zeitraum von sechs Monaten lückenlos zu speichern? Immerhin offenbaren diese Daten ja unter anderem auch Informationen über Bewegungen von Individuen, ihre Vorlieben, Gewohnheiten und Beziehungsgeflechte und stellen sich damit insgesamt als ebenso sensible wie unfreiwillige Auskunftsquelle dar.

Eine Vorlage der Republik Irland an den Europäischen Gerichtshof geht davon aus, dass die Richtlinie selber mit Europarecht unvereinbar und daher nichtig ist. Das Gericht wird über diese Frage in nicht allzu ferner Zukunft entscheiden. Dass sich der Bundestag dann aber dazu entschließen würde, die Vorratsdatenspeicherung wieder abzuschaffen, darf wohl getrost als bürgerrechtliche Träumerei abgetan werden.

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