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"Schlei­er­fahn­dung" - Polizei­liche Kontrollen ohne Gefahr oder Verdacht?

Erhard Denninger

Grundrechte-Report 1998, S. 216-221

Freiheit oder Effek­ti­vität

Unscheinbare Veränderungen des Gesetzwortlauts können nicht nur – nach dem Dictum Julius Hermann von Kirchmanns 1847 – „ganze Bibliotheken … zu Makulatur“ werden lassen, sondern auch dem Kundigen oder Lernwilligen einen tiefgreifenden Wandel im Rechts- und Verfassungsverständnis signalisieren.

Die Einführung der sogenannten „verdachts- und ereignisunabhängigen Personenkontrolle“ zunächst 1994 (G. v. 23. 12. 1994, GVBl. S. 1050) in Bayern, sodann 1996 in Baden-Württemberg und jetzt – würde der Entwurf der CDU-Fraktion vom 6. Mai 1997 Gesetz – auch in Hessen stellt ein solches Signal dar. Und der jüngste, von der Sächsischen Staatsregierung im Landtag eingebrachte Entwurf für ein Zweites Gesetz zur Änderung des Polizeigesetzes des Freistaates Sachsen (vom 15. 1. 1998) folgt dem gleichen Muster zur „vorbeugenden Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität“.

Zu den grundlegenden normativen Leitvorstellungen rechtsstaatlicher Polizeitätigkeit, sei es im präventiven, sei es im repressiven Bereich, gehörte bisher der Gedanke, daß eine Freiheitsbeschränkung, gleich welcher Art, nicht ohne konkreten Grund und Anlaß in der Situation oder im Verhalten des Betroffenen zulässig sei. Im präventiven Bereich ging es um Gefahrenabwehr, in subjektiver Hinsicht entsprach dem das Prinzip, daß, von der Ausnahme des polizeilichen Notstandes abgesehen, nur ein „Störer“ polizeilich verantwortlich gemacht werden konnte. Im repressiven Bereich der Straftat- oder Ordnungswidrigkeitenverfolgung war die Grundvoraussetzung polizeilichen Einschreitens ein Tatverdacht, dem subjektiv ein „Verdächtiger“, ein „Beschuldigter“ entsprach, § § 160 Abs. 1, 161 und 163 Abs. 1 StPO).

Schon vor dreißig Jahren hatte das Bundesverwaltungsgericht die diesen Eckpfeilern rechtsstaatlichen Polizeirechts zugrundeliegende ratio legis auf die einfache Formel gebracht, „daß nach dem Menschenbild des Grundgesetzes die Polizeibehörde nicht jedermann als potentiellen Rechtsbrecher betrachten und auch nicht jeden, der sich irgendwie verdächtigt gemacht hat („aufgefallen ist“) oder bei der Polizei angezeigt worden ist, ohne weiteres ‹erkennungsdienstlich behandeln› darf“ (Urteil vom 9. 2. 1967). Man muß diesen und ähnliche alte Texte sorgfältig lesen, um die Distanz zu ermessen, die zwischen dem sie fundierenden Rechtsstaatsverständnis und der Mentalität eines Gesetzgebers liegt, der die Befugnis der Polizei „zu mobilen und abstrakten Fahndungsmaßnahmen“ „in öffentlichen Einrichtungen des internationalen Verkehrs und auf Durchgangsstraßen, insbesondere Bundesautobahnen und Europastraßen“ fordert, damit in den Bereichen der Organisierten Kriminalität „eine effektive Kriminalitätsbekämpfung wieder möglich wird“. War damals um der „Freiheit“, das heißt „um der freien und selbstverantwortlichen Entfaltung seiner Persönlichkeit willen“, dem einzelnen ein mehr oder weniger eng gezogener Bereich garantiert, in welchem er von jeglicher staatlichen Intervention verschont bleiben sollte, so wird jetzt die Effektivität bei der „Hebung der öffentlichen Sicherheit“ zum ausschlaggebenden, wenn nicht einzigen Kriterium der Eingriffsbefugnis.

Mit keinem einzigen Wort geht die Begründung des Gesetzentwurfs der hessischen CDU-Fraktion auf den Umstand ein, daß die vorgeschlagene „verdachts- und ereignisunabhängige Personenkontrolle“ nicht mehr und nicht weniger als den (endgültigen) Abschied von den rechtsstaatlichen Grundbegriffen der „Gefahr“ („Ereignis“), der „Störung“, des „polizeilich Verantwortlichen“, des „Tat-“ oder „Anfangsverdachtes“ und des „Beschuldigten“ bedeutet. Diese Begriffe hatten und haben aber nicht nur eine „befugende“, d. h. handlungsermöglichende und -rechtfertigende, sondern auch eine freiheitssichernde Funktion. Diese wird überhaupt nicht (mehr) in Betracht gezogen.

Vorsicht Bahnhof!

Zum richtigen systematischen Verständnis der Identitätsfeststellungen im Rahmen einer sogenannten „Schleierfahndung“ – einschließlich der nach den entsprechenden Paragraphen der Polizeigesetze zulässigen Begleit- und Folgemaßnahmen wie Durchsuchung, Mitnahme zur Dienststelle, erkennungsdienstliche Behandlung, Freiheitsentziehung bis zu zwölf Stunden usw. – muß man sich die schrittweise erfolgte Erweiterung der polizeilichen Befugnisse vor Augen führen, wie sie sich in Hessen beispielhaft vollzogen hat. Veranlaßt durch die vom Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsgesetz-Urteil vom 15. Dezember 1983 festgestellte Notwendigkeit einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung für Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, haben die Geber der Polizeigesetze in Bund (vgl. § 23f. BGSG vom 19. 10. 1994) und Ländern im Prinzip übereinstimmend eine Reihe von typischen Tatbeständen zur Identitätsfeststellung normiert, denen gemeinsam ist, daß auch „völlig harmlose Unbeteiligte“ von ihnen betroffen sein können. Das gilt für die Kontrollen („Razzien“) an „gefährlichen Orten“ ebenso wie für Kontrollen zur „Objektsicherung“ oder „Personensicherung“ oder für die Einrichtung von Kontrollstellen zur Verhütung von Straftaten.

Die strafprozessuale Entsprechung zu dieser Stufe der Gefahrenabwehr bzw. Straftatverfolgung wurde in den § § 111 (Straßenkontrollen) und 163 d StPO (Schleppnetzfahndung) geregelt. Charakteristisches Merkmal dieser Art von Tatbeständen ist, daß der einzelne Betroffene zwar weder „Störer“ noch „Beschuldigter“ sein muß, daß er sich jedoch in einer gesteigerten Nähebeziehung zu einer bestimmten Gefahr oder zu einer begangenen oder als bevorstehend vermuteten Straftat befindet. Eben dieses Moment entfällt bei dem jetzt geplanten Schritt zur „verdachts- und ereignisunabhängigen“ Kontrolle. Der Aufenthalt in einer öffentlichen Einrichtung des internationalen Verkehrs, also beispielsweise auf einem Bahnhof, in einem Flughafengebäude oder auf einer Durchgangsstraße, begründet, wenn keinerlei sonstige Gefahrenmomente vorliegen, keine „gesteigerte Nähebeziehung“ zur „grenzüberschreitenden Kriminalität“, zumal nicht im Binnenland Hessen ohne Grenzen zum Ausland. Am Rhein-Main-Flughafen finden die Paß- und Identitätskontrollen ohnehin nach anderen Vorschriften statt. Auch Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht weisen keinen spezifischen Bezug zu „Durchgangsstraßen“ auf.

Die Benutzung der von der geplanten Novelle betroffenen Einrichtungen und Straßen ist grundsätzlich für jede Person erlaubt, häufig auch notwendig, und außerdem gemäß Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 sowie Art. 11 GG grundrechtlich geschützt. Niemand mußte bisher damit rechnen, an solchen Orten anlaß- und grundlos kontrolliert zu werden. Das ist mindestens graduell eine andere Situation als die des neugierigen Touristen, der sich im „Rotlicht-Viertel“ einer Großstadt bewegt und in eine „Razzia“ gerät, oder die des demonstrationswilligen Studenten, der mit einer entsprechenden „Ausrüstung“ an Bord zu einer Antikernkraftwerks-Großdemonstration fährt.

Fahndungstage

Die „effektive Bekämpfung der Organisierten Kriminalität (Begründung B. zu Art. 1 des hessischen Entwurfs) hat schon seit langem dazu geführt, daß die scheinbar scharfe Grenze zwischen Prävention und Repression verschwimmt. Da diese Grenze für die Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern, für die Weisungszuständigkeiten innerhalb der Exekutiven und der Justiz und für die Frage des einzuschlagenden Rechtsweges, also für alle drei Gewalten, von Bedeutung ist, wird man sie nicht leichter Hand aufgeben können. Andererseits ist die „organisierte Kriminalität“ per definitionem ein Kontinuum auf der Zeitachse: Schon begangene und erst geplante künftige Straftaten lassen sich zwar begrifflich klar unterscheiden, oft aber nicht polizeipraktisch oder kriminalstrategisch.

Dennoch muß der Gesetzgeber, im Bund wie in den Ländern, der föderalen Kompetenzaufteilung Rechnung tragen. Ein Landespolizeigesetz wie das HSOG kann die Einrichtung von Personenkontrollen an Kontrollstellen zum Zwecke der „Fahndung“, also der repressiven Straftatverfolgung, überhaupt nicht regeln. Dies ist Sache des Bundesgesetzgebers, der mit der Normierung des § 111 StPO die Voraussetzungen für die Einrichtung solcher Straßenkontrollen abschließend umschrieben hat. Der Landesgesetzgeber kann diese Regelung nur von der präventivpolizeilichen Seite her ergänzen: Identitätskontrollen zur „vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten“ ( § 1 Abs. 4 HSOG), also zu deren „Verhütung“ oder vorbeugender Abwehr.

Man kann nicht behaupten, daß die geplante HSOG-Novelle ein klares Bewußtsein von dieser Kompetenzlage bezeugt. Im Problemaufriß (Teil A., S. 1 der LT-Drucks. 14/2847) wird eine „verstärkte Fahndungstätigkeit auf den Routen und in den Einrichtungen des internationalen Reiseverkehrs im Binnenland“ „als Ausgleichsmaßnahme“ für den Wegfall der Grenzkontrollen gemäß dem Schengener Übereinkommen verlangt. Und in Teil B. der Begründung (zu Art. 1) wird die Befugnis der Polizei zu „mobilen und abstrakten Fahndungsmaßnahmen“ zum Zwecke einer „effektiven Kriminalitätsbekämpfung“ gefordert.

Der Begriff der „Fahndung“ meint aber Maßnahmen zur Ermittlung und Ergreifung eines „Täters“, also ein Handeln im repressiven Bereich. Dementsprechend wurde es bisher allgemein für unzulässig angesehen, die „präventiv“ orientierte Kontrollstelle des § 18 Abs. 2 Nr. 5 HSOG als Rechtsgrundlage für eine „ereignisunabhängige allgemeine Fahndung“, einen sogenannten „Fahndungstag“, um gesuchte Straftäter zu fassen, heranzuziehen.

Die geplante Regelung des hessischen CDU-Entwurfs macht den „Fahndungstag“ zur Dauereinrichtung.

Literatur:

Erhard Denninger, Menschenrechte und Grundgesetz, Weinheim 1994.

Hans Lisken, Erhard Denninger, Hg., Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl., München 1996.

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