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Das Schengener Infor­ma­ti­ons­sys­tem: Instrument der Abschiebung

Heiner Busch

Grundrechte-Report 1997, S. 25-29

Terroristen, Mafiosi, Drogenhändler würden – so ließen die Sicherheitspolitiker seit Mitte der 80er Jahre verlauten – über Europa hereinbrechen, wenn die Kontrollen an den Binnengrenzen der EG aufgehoben würden. Das im Juni 1990 unterzeichnete Schengener Durchführungsübereinkommen, das diesen Abbau der Kontrollen versprach, enthält sogenannte Ausgleichsmaßnahmen für den angeblichen Sicherheitsverlust, im Kern den Aufbau eines gemeinsamen Fahndungssystems, des Schengener Informationssystems (SIS). Gefahndet wird allerdings kaum nach Kriminellen. Im ständig wachsenden Datenbestand sind vor allem Ausländer aus Drittstaaten erfaßt, die abgeschoben oder zurückgewiesen werden sollen. Der Zustand des SIS und die mit ihm verbundene Kontrollstrategie sind die Ergebnisse eines politischen Betrugs. Sie gefährden das informationelle Selbstbestimmungsrecht und die Freizügigkeit in den EU-Staaten.

Am 26.März 1995 wurde das Schengener Informationssystem für sieben der damals zehn Schengen-Staaten in Betrieb genommen. Die Beneluxstaaten, Frankreich, Spanien, Portugal und die Bundesrepublik Deutschland verfügen damit über ein gemeinsames, im Online-Verfahren betriebenes Fahndungssystem. Die elektronische Fahndung, die mit dem Aufbau des INPOL-Systems seit 1972 im Innern der BRD eingeführt wurde, ist nunmehr im Kerngebiet der EU Wirklichkeit geworden.

Nationale Zentralstellen können unmittelbar Daten ins SIS eingeben. Der Abruf erfolgt von lokalen SIS-Terminals, die bei Dienststellen der Polizei, der Grenzpolizei, des Zolls und der Ausländerbehörden stationiert sind, darunter allein 9000 in Deutschland. Die für die Vergabe von Visa zuständigen Konsulate können beim Ausländerzentralregister auf die SIS-Daten zurückgreifen.

Das SIS weist die typischen Kennzeichen eines Fahndungssystems auf: Die Daten sind durch die Vielzahl der zugriffsberechtigten Terminals innerhalb der polizeilichen und quasipolizeilichen Behörden breit gestreut. Die jeweiligen Datensätze sind dagegen sehr klein. Der längste Datensatz umfaßt gerade 126 Zeichen und hätte damit auf zwei Schreibmaschinenzeilen Platz. Gefahndet wird auch nach Sachen: Bei Personalpapieren, registrierten Banknoten aus Lösegeldern oder Überfällen, Kraftfahrzeugen und Waffen werden alphanumerische Identifikationen gespeichert. Zur Fahndung nach Personen werden die Personalien und gegebenenfalls die Aliaspersonalien erfaßt. Die Probleme ergeben sich beim SIS wie bei den nationalen Fahndungsdateien weniger aus der Qualität der einzelnen Datensätze, sondern aus der Quantität der Speicherungen und den damit verfolgten Zielen.

Datenflut

Mit der Ladung der Fahndungsdaten wurde bereits in der Probephase begonnen. Im Oktober 1993 informierte die SIS-Steuerungsgruppe den Schengener Exekutivausschuß, daß das System nunmehr 1,8 Millionen Datensätze enthalte, darunter 338431 zu Personen. Am 22.Dezember 1994 setzte der Exekutivausschuß den Starttermin für die Anwendung des Abkommens auf den 26.März 1995 fest. Die „bestehenden nationalen Daten, die … als wesentlich erachtet werden“, seien eingegeben. Dies waren etwa 2,5 Millionen Datensätze.

Knapp ein Jahr später, am 7.März 1996, bilanzierte der Exekutivausschuß in seinem ersten Jahresbericht einen Bestand von rund 3,9 Millionen Daten, drei Viertel davon (2,93 Millionen) Sachfahndungsdaten. Das restliche Viertel – 940000 Datensätze – bezog sich auf etwa 570000 Personen, von denen viele sowohl unter ihrem richtigen als auch unter sogenannten Aliasnamen geführt werden. Rund 95 Prozent aller Daten wurden von Deutschland und Frankreich eingespeist.

Abschiebung statt Strafverfolgung

Während das SIS gegenüber der Öffentlichkeit als ein Instrument zur Bekämpfung der schweren und organisierten Kriminalität gerechtfertigt wurde, sprechen die vorliegenden Statistiken eine ganz andere Sprache.

Von den insgesamt 569737 am 7.März 1996 im SIS gespeicherten Personen waren nur 0,69 Prozent, 3903 Menschen, deshalb ausgeschrieben, weil nach ihnen mit einem Haftbefehl gefahndet wird und sie an den ausschreibenden Schengen-Staat ausgeliefert werden sollen. Ein Auslieferungsersuchen setzt voraus, daß die Straftat mit mindestens einem Jahr Gefängnis bestraft wird.

Bei Personen, die einer minderschweren Straftat beschuldigt werden oder als Zeugen vor Gericht erscheinen sollen, darf nur der Aufenthalt ermittelt werden. Dies betraf im März 36668, also 6,4 Prozent aller ausgeschriebenen Personen. 35034 dieser Fahndungsnotierungen gingen dabei auf das französische Konto. Weitere 8254 Personen (1,45 Prozent) wurden zur polizeilichen Beobachtung im SIS gespeichert. Bei ihnen handelt es sich ausdrücklich nicht um Beschuldigte im Sinne der Strafprozeßordnung, sondern um Personen, von denen die Polizei annimmt, daß sie aufgrund ihres Vorlebens Straftaten begehen könnten. Einen konkreten Verdacht gegen sie gibt es nicht, sonst wären sie zur Festnahme/Auslieferung oder zumindest zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben.

Bei gerade 8,6 Prozent aller im SIS gespeicherten Personen geht es also um Kriminalität im weitesten Sinne – Zeugen und potentiell Verdächtige eingeschlossen -, wobei die leichteren Straftaten eindeutig überwiegen.

Dagegen verzeichnet die Jahresbilanz, daß 507859 Menschen, 89 Prozent aller zu diesem Zeitpunkt im SIS registrierten Personen, sogenannte Drittausländer waren – Menschen aus Nicht-EU-Staaten, denen eine Abschiebung, die Zurückweisung an der Grenze oder die Verweigerung des Visums droht. Das SIS ist damit eindeutig ein ausländer- und asylpolitisches Instrument. 74000 dieser Personen wurden von Frankreich, 416000 von Deutschland ausgeschrieben. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums (BMI) werden von Deutschland alle untergetauchten und abgeschobenen Asylsuchenden ins SIS eingegeben.

„Treffer“

Eine vollständige Bilanz der mit dem SIS erreichten Fahndungserfolge liegt bisher nur bis zum 31.Dezember 1995 vor, also für drei Quartale. Von den insgesamt 31585 verzeichneten „Treffern“ bezogen sich 8966 auf Sachen und 22618 auf Personen. Diese Informationen ermöglichen erste, wenn auch vorerst nur ungenaue Schlüsse hinsichtlich der Effizienz des SIS. Sie zeigen, daß die Erfolgsquote bei Personen erheblich höher ist als bei Sachen, wo es bereits seit langem außerhalb des SIS einen Fahndungsverbund gibt.

Mit einer „Trefferquote“ von 0,3 Prozent (aufs Jahr gerechnet vielleicht 0,4 Prozent) bei Sachen und 3,4 Prozent (ca. 4,5 Prozent) bei Personen läßt sich der mit dem SIS betriebene Aufwand weder finanziell noch politisch rechtfertigen.

Um so weniger, als sich auch hier die überwiegende Mehrheit aller Personenaufgriffe (18640, über 86 Prozent) auf Nicht-EU-Bürger bezieht, die keiner Straftat verdächtigt werden. Diese Zahl würde sich weiter erhöhen, wenn Deutschland und Spanien die Aufgriffe ihrer Grenzpolizeien und damit die unmittelbaren Zurückweisungen und Zurückschiebungen an den „heißen“ Außengrenzen der EU in die Erfolgsstatistik eingeben würden. Wirksam ist das SIS also vor allem da, wo sich aufgrund der Hautfarbe oder des „fremdländischen“ Aussehens Kontrollerfolge am einfachsten erzielen lassen. Nicht umsonst erfolgte nahezu die Hälfte der registrierten „Treffer“ gegen Drittausländer in Frankreich, das nach den Anschlägen im vergangenen Jahr die Kontrollen gegen Ausländer im Inland massiv verstärkt hatte. Auch in den deutschen Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg wurden unter Bezug auf den Abbau der Binnengrenzen die Befugnisse der Polizei zu Inlandskontrollen ohne jeglichen Verdacht erweitert.

Unnütz, diskriminierend, gefährlich

Bereits nach kurzer Laufzeit läßt sich daher festhalten: Das SIS ist ein unnützes, aber gefährliches Instrument.

Es beruht auf einer diskriminierenden Kontrollstrategie, bei der die Grenze ins Inland verlagert wird und damit eine der wesentlichen Errungenschaften bürgerlicher Verfassungsstaaten – die Freizügigkeit im Innern des staatlichen Territoriums – beseitigt wird.

Sowohl bei den gespeicherten Personen als auch bei den „Erfolgen“ geht es nur am Rande um die Strafverfolgung, um Fahndung im eigentlichen Sinne, im Kern dagegen um Ausländer- und Asylpolitik mit polizeilichen Mitteln.

Die an der schnellen Zunahme der Datensätze erkennbare exzessive Speicherungspraxis vor allem der BRD stellt eine Gefahr für das informationelle Selbstbestimmungsrecht dar.

Ein Ende der Erfassungsspirale ist nicht abzusehen. Nach Auskunft des Bundesinnenministeriums auf Anfrage des Bundestagsabgeordneten Manfred Such ist die Zahl der von deutscher Seite im SIS gespeicherten Personen von 420000 im März auf rund 760000 im Juni 1996 angestiegen. Ein „zufriedenstellender Stand“ der Datenerfassung – so das BMI – sei bisher nur in Frankreich und Deutschland erreicht, die anderen Schengener Partner sollten „dringend nachziehen“.

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