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Die Menschen­würde - 40 Jahre Humanis­ti­sche Union

Mitteilungen17612/2001Seite 97

(Gekürzte Fassung der Festrede zum Festakt anlässlich des 40jährigen Bestehens der Humanistischen Union am 14. September 2001). Aus: Mitteilungen Nr. 176, S. 97

Die Schrecken des 2. Weltkrieges haben dazu geführt, Kataloge der Menschenrechte mit einem Bekenntnis zur Menschenwürde zu eröffnen. Den Auftakt gab im Dezember des Jahres 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Laut deren Präambel bilden die Anerkennung der allen Menschen innewohnende Würde und deren unveräußerliche Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt. Die aus den Anfängen des Naturrechtsdenkens überkommene Formel von den frei und gleich geborenen Menschen wird ergänzt. In Art. 1 Abs. 1der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es nunmehr: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“.
Was hier wie eine Gegebenheit beschrieben wird, ist als Herausforderung gemeint. Die deskriptive Fassung dieses normativ/vorschreibend gedachten Satzes soll dessen Unbedingtheit deutlich machen, die keine Ausnahmen zulässt. Vor dem Hintergrund des Zivilisationsbruchs in den Jahren 1933 bis 1945 wird die Würde des Menschen als oberster Wert in einer zivilen Gesellschaft begriffen. So ist das auch unser Grundgesetz eröffnende Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde das Leitprinzip einer Verfassung, die sich als Gegenentwurf zum totalitären Staat versteht.

In Auseinandersetzung mit der kommunistischen Ideologie hat das Bundesverfassungsgericht das Verhältnis von Bürger und Staat thematisiert und festgestellt, dass in einer freiheitlichen Demokratie die Würde des Menschen der oberste Wert sei. Das Denken und Verhalten der Menschen werde nicht durch ihre Klassenlage eindeutig determiniert. Vielmehr sei der Mensch als fähig anzusehen, seine Interessen und Ideen mit denen anderer auszugleichen. Dem Bundesverfassungsgericht dient die Würde des Menschen als zentrales Begründungselement der Prinzipien der Freiheit und der Gleichheit. „Um seiner Würde willen“, so das Bundesverfassungsgericht, muss jedem „eine möglichst weitgehende Entwicklung seiner Persönlichkeit zugesichert werden“. Es genüge daher nicht, wenn „eine Obrigkeit sich bemüht, noch so gut für das Wohl von ‚Untertanen‘ zu sorgen; der Einzelne soll vielmehr in möglichst weitem Umfange verantwortlich auch an den Entscheidungen der Gesamtheit mitwirken.“

Daher sei die vom Staat zu gewährleistende Geistesfreiheit für das Funktionieren einer freiheitlichen Demokratie entscheidend wichtig. Nicht nur bewahre sie diese vor Erstarrung. Sie – die Meinungsfreiheit – zeige vor allem „die Fülle der Lösungsmöglichkeiten für Sachprobleme“ auf.

Ähnlich leitet das Bundesverfassungsgericht die Gleichheit aus dem Prinzip der Menschenwürde ab. Da diese – wie die Freiheit – jedem Menschen zukomme, diese insoweit gleich seien, sei „das Prinzip der Gleichbehandlung aller für die freiheitliche Demokratie ein selbstverständliches Postulat“. Diese Einsicht lässt das Gericht den Staat als ein Instrument der „ausgleichenden sozialen Gestaltung“ begreifen; und nicht etwa als ein Instrument der Unterdrückung. 

Der auf den Gerichts­schutz verengte Blick

Unser heutiges Verständnis von Menschenwürde und Menschenrechten ist stark auf ihre gerichtliche Durchsetzbarkeit fixiert. Niemand von uns muss davon überzeugt werden, dass der gerichtliche Grundrechtsschutz ein wichtiges, ja notwendiges Element einer wirksamen Menschenrechtspolitik ist. Doch was nützen die besten Rechtsbehelfe, wenn Menschen das Wissen, die Mittel, der sachverständige Beistand oder einfach die Kraft fehlen, um sich dieser – der Rechtsbehelfe – zu bedienen? 

Wer sich wie die HUMANISTISCHE UNION die Aufmerksamkeit für die Nöte der schwachen Mitglieder unserer Gesellschaft bewahrt hat, weiß nur zu gut, dass der Verweis auf den Rechtsweg nur ein bedingt taugliches Lösungsmuster für deren Probleme ist. Man denke an die Alten, die Armen, die Obdachlosen und nicht zuletzt an die Menschen anderer Rasse und Herkunft. Darum müssen sowohl der Staat als auch seine Bürger und Bürgerinnen dem Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde weiterreichende Strategien und Verhaltensweisen ablesen, um ein menschenwürdiges Zusammenleben aller in einem freiheitlichen demokratischen Staatswesen sicherzustellen.

Die Menschen­würde als Verhal­ten­s­prinzip

Wenden wir die Aufmerksamkeit zunächst den Bürgern und Bürgerinnen zu. Ihrem Widerspruchsgeist ist es zu verdanken, dass das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Menschen- und Bürgerrechte tätig werden kann. Doch drängt sich zuweilen der Eindruck auf, als betrachteten die Deutschen das Grundgesetz vorzugsweise unter dem Gesichtspunkt ihrer einklagbaren Rechte. Als sei der Staat der alleinige Adressat des Bekenntnisses zur Unantastbarkeit der Menschenwürde. Der Gedanke, dass das Ethos der Grundrechte auch von den Bürgern aktiv gelebt werden will, erscheint zuweilen als unterentwickelt.

Zu dieser verengten Sicht mag auch der Umstand beitragen, dass die Grundrechte an den Staat als Garanten adressiert sind. So folgt dem Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde in Art. 1 GG der Satz: „Sie zu achten und zu schützen, ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Diese Inpflichtnahme findet ihren historischen Grund darin, dass „die entsetzlichsten und zahlreichsten Gewaltverbrechen in der deutschen Geschichte vom Staat und seinen Organen begangen worden sind“. 

Und in der Tat war das Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde und der freien Entfaltung der Persönlichkeit zu allererst eine Antwort auf das menschenverachtende Regime des Nationalsozialismus.

Aber wer sich mit dem Ethos der Menschenwürde beschäftigt, kann die Tatsache, dass Bürger unseres Staates Obdachlose erschlagen, Ausländer zu Tode hetzen oder jüdische Friedhöfe schänden, nicht schlicht dem Strafrecht überantworten. Der beste Schutz der menschlichen Würde und körperlichen Integrität ist nicht die strafrechtliche Ahndung rassistischer Ausschreitungen. Obgleich diese im Rechtsstaat eine selbstverständliche Pflicht der Justiz ist. Vielmehr muss der Kampf gegen die Ursachen dieses Extremismus im Vordergrund stehen. Gewiss gehören dazu auch eine erfolgversprechende Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Doch sollten wir bedenken, dass Fremdenhass ein Zeichen misslungener Bildung und Erziehung ist. Das Bemühen muss daher darauf gerichtet sein, die Bereitschaft und die Fähigkeit zu entwickeln, den Fremden zu achten und zu verstehen. 

Zwar ist es unbestritten Sache des Staates, die Menschenrechte zu garantieren. Doch darf über diese Pflicht des Staates nicht vergessen werden, dass die praktische Geltung der Menschenrechte von soziokulturellen Bedingungen abhängig ist. Erforderlich ist ein Mindestmaß an menschenrechtlichem Ethos bei den Bürgern und Bürgerinnen. Für den Erhalt einer menschenwürdigen Gesellschaft kommt es nicht nur auf ihren Gesetzesgehorsam, sondern auch auf ihre Loyalität und Einsatzbereitschaft für die Grundwerte unserer Verfassung an. Auch wenn das Grundgesetz mit Ausnahme der Wehrpflicht keine Grundpflichten kennt, ist der Respekt vor der Menschenwürde ein den Bürger verpflichtendes Verhaltensgebot. Zwar kein rechtlich, doch aber ein sittlich verpflichtendes.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte appelliert denn auch an jeden Einzelnen und alle Organe der Gesellschaft. Sie sollen sich das gemeinsame Ideal von Menschenwürde und Menschenrechten stets gegenwärtig halten und sich bemühen, durch Unterricht und Erziehung die Achtung dieser Rechte zu fördern (Präambel). Denn die Gesellschaft muss das Klima schaffen, in dem der Respekt und die Achtung des anderen selbstverständliche Bürgertugenden sind.

Bleierne Zeit, jetzt global?

Nicht erst die barbarischen Anschläge des 11. Septembers haben uns gelehrt, dass lokale Ereignisse globale Wirkungen zeitigen. Heribert Prantl hat auf die Folgen des Terrors für die Liberalität der westlichen Welt aufmerksam gemacht.  Es ist das Ziel des Terrors, Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen. Er will uns zur Preisgabe von Bürgertugenden bewegen, die die Grundfesten unserer Demokratie sind, nämlich zum Verzicht auf unsere staatsbürgerlichen Freiheitsrechte und das Gebot der Toleranz.
Die Chance, dass wir den Terrorismus besiegen, wenn wir diese Anschläge mit Gleichem vergelten, ist gering. Blindwütige Rache und Hass wirken nur selbst zerstörerisch. Wenn die zivilisierte Welt in ihrer Gegenwehr obsiegen will, darf sie sich in dem Respekt ihrer Grundwerte nicht irre machen lassen. Gerade das Bekenntnis zur Würde und Freiheit der Menschen zeichnet die Demokratie gegenüber totalitären Ideologien aus. Die Aufnahme dieser Grundrechte in unsere Verfassung war eine Konsequenz aus dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. Menschenwürde und Menschenrechte kennen keine Waffen, sondern nur staatliche Instanzen sowie Bürger und Bürgerinnen, die sich ihre Achtung zur Pflicht machen.

Die HUMANISTISCHE UNION wird auf ihrem Posten bleiben müssen, auf dass der Terror unsere liberale Gesellschaft nicht untergräbt. In Zeiten gesellschaftlicher und politischer Krisen werden die Stimmen, die sich „aus Grundgesetz-Gründen“ gegen den Abbau rechtsstaatlicher Garantien verwahren, stets „sehr leise sein“.  Dann wird es – wie in den zurückliegenden 40 Jahren – Sache der HUMANISTISCHEN UNION sein, lauthals das Hohe Lied der staatsbürgerlichen Freiheiten zu singen. In diesem Sinne, darf ich der HUMANISTISCHEN UNION nicht nur Dank sagen für die im Dienste der Menschenwürde geleistete Arbeit, sondern Ihnen zugleich wünschen, dass es Ihnen gelingen möge, auch künftig erfolgreich darauf hinzuwirken, dass die fundamentalen Werte unserer Rechtskultur bewahrt werden.

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