Beitragsbild Das neue Weißbuch und die Militarisierung der deutschen Innen- und Außenpolitik
Themen / Frieden

Das neue Weißbuch und die Milita­ri­sie­rung der deutschen Innen- und Außen­po­litik

14. Dezember 2006

Mitteilungen Nr. 195, S. 8-11

Das neue Weißbuch und die Militarisierung der deutschen Innen- und Außenpolitik

Am 25. Oktober hat das Bundeskabinett ein neues „Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr“ verabschiedet. Innerhalb der neuen Sicherheitsarchitektur der großen Koalition begründet das Weißbuch den erweiterten Einsatz der Bundeswehr im In- und Ausland. Dabei werden die vom Grundgesetz für den Einsatz der Bundeswehr gezogenen Grenzen aufgehoben.

Der erweiterte Sicher­heits­be­griff und die neuen Aufgaben der Bundeswehr

Der erste Teil des Weißbuchs beschreibt die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen Deutschlands, wobei Fragen derGlobalisierung, des Terrorismus, der Sicherheit von Handels- und Kommunikationswegen, aber auch der Energieversorgung und der Migration behandelt werden. Damit soll gezeigt werden, dass Deutschlands Sicherheit nicht an seinen Außengrenzen endet: „Deutsche Sicherheitspolitik muss auch Entwicklungen in geografischweit entfernten Regionenberücksichtigen, soweit sieunsere Interessen berühren. (…) Interessen können im Zeitalter der Globalisierung nicht allein geografisch definiert werden.“ (Weißbuch S. 19) Dies führt zu einem erweiterten Sicherheitsanspruch: Alles, was deutsche Interessen in der Welt berührt, ist zugleich ein deutsches Sicherheitsproblem. Der Zugang zu Rohstoffen, der ungehinderte Zugang zu Absatzmärktenund die Sicherheit in der Energieversorgung liegen unbestritten im Interesse der deutschen Wirtschaftspolitik – aber lassen sich daraus Friedenssicherungs- und Verteidigungsaufgaben für die Bundeswehr ableiten? Folgt man dem Weißbuch, ergeben sich aus dem erweiterten Sicherheitsverständnis neue Aufgaben der Bundeswehr. Danach soll die Bundeswehr:

• „die außenpolitische Handlungsfähigkeit sichern

• einen Beitrag zur Stabilität im europäischen und globalen Rahmen leisten

• für die nationale Sicherheit und Verteidigung sorgen

• zur Verteidigung der Verbündeten beitragen

• die multinationale Zusammenarbeit und Integration fördern.“ (Weißbuch S. 55) Angesichts einer so weit gefassten Aufgabenstellung der Bundeswehr mehren sich grundsätzliche Zweifel: Kann die Bundeswehr überhaupt zur Lösung dieser Aufgaben beitragen? Geht die Einbeziehung der Bundeswehr in diese politischen Handlungsfelder mit ihrem grundgesetzlichen Auftrag konform?

Was kann die Bundeswehr?

Seit dem letzten Weißbuch von 1994 hat sich die Rolle der Bundeswehr dramatisch verändert: Sie ist gegenwärtig an elf Auslandseinsätzen in sechs verschiedenen Regionen der Welt mit ca. 9.000 Soldaten beteiligt. Insgesamt waren bereits mehr als 200.000 Armeeangehörige im Auslandseinsatz. Angesichts dieser Situation ist eine umfassende und verbindliche sicherheitspolitische Grundorientierung für die Bundeswehr nötig, auch um die beteiligten Soldaten nicht nach wechselnden Gesichtspunkten in militärische Abenteuer zu schicken. Im Weißbuch fehlt jedoch eine kritische Bilanz der zahlreichen Auslandseinsätze der Bundeswehr in den letzten 15 Jahren. Das Weißbuch betont zwar ständig die neuen Risiken durch den internationalen Terrorismus und die zerfallenden Staaten. Aus den bisherigen Erfahrungen militärischer Bekämpfungsversuche des Terrorismus werden jedoch keine Schlussfolgerungen gezogen oder gar notwendige Veränderungen diskutiert. [1] Zwar schlägt das Weißbuch eine umfassende, präventive und multilaterale Sicherheitspolitik vor: Sie soll militärische, diplomatische und entwicklungspolitische Aspekte vereinen. Sie soll mögliche Konflikte vorausschauend vermeiden und innerhalb der international anerkannten Bündnisse zur Friedenssicherung verortet sein. Nach diesem Aufriss einer „umfassenden Sicherheitsstrategie“ und der damit verbundenen Ausweitung der Bundeswehraufgaben sind die Erwartungen, welchen Beitrag die Bundeswehr zur Erreichung dieser Sicherheitsbedürfnisse leisten soll, entsprechend hoch. An Umsetzungsmechanismen für eine solche Politik finden sich im Weißbuch aber lediglich Aufzählungen der bekannten Krisenreaktionseinrichtungen des Auswärtigen Amtes, des BND-Lagezentrums zur Steuerung von Auslandseinsätzen und dergleichen mehr. Eine durchdachte Strategie für das Monitoring und die Früherkennung entstehender Konfliktherde sucht man vergebens. Das Weißbuch verweist pauschal auf die bestehenden Konzepte für „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ und für „Zivil-Militärische Zusammenarbeit“. Diese beiden Konzepte finden seit einigen Jahren Anwendung, u.a. auch in Afghanistan. In der Kooperation von zivilen und militärischen Kräften haben sich dabei erhebliche Probleme gezeigt, wie beispielsweise Ute Finckh-Krämer vom Bund für soziale Verteidigung bei einer Anhörung des Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung des Bundestages am 25. Oktober erläuterte. Bei der zivil-militärischen Kooperation in Afghanistan etwa hätten sich zahlreiche Zielkonflikte zwischen entwicklungspolitischen und militärischen Akteuren gezeigt, die Abhängigkeit der NGOs von militärischen Entscheidungen gefährde deren Projekte und nicht zuletzt seien die NGO-Akteure durch ihre Kooperation mit den Militärs stärker von Übergriffen bedroht. [2] Dass das Weißbuch auf solche Fragen keine Antworten geben kann, nährt den Verdacht, der „erweiterte und umfassende Sicherheitsbegriff“ diene allein zur Erweiterung des militärischen Aufgabenbereiches. Wer sachliche Antworten auf die gestellten Fragen erwartet, wird mit dem Weißbuch enttäuscht. Mit einer Fixierung auf militärische Optionen kann das komplizierte Zusammenspiel diplomatischer, entwicklungspolitischer und militärischer Kompetenzen zur Lösung internationaler Konflikte nicht gelöst werden. Dazu würde erstens eine klare Zielbestimmung solcher Einsätze gehören, bei der die verschiedenen Sicherheitsansprüche militärischer und ziviler Akteure abgewogen werden. Daraus würde sich eine Aufgabenverteilung zwischen militärischen Einsatzkräften und zivilen/technischen Hilfsorganisationen ergeben. Und schließlich bliebe die Frage, nach welchen Kriterien die Wirksamkeit sowohl ziviler, aber eben auch militärischer Einsätze im Ausland bemessen wird. Das die sozialen, ethnischen und politischen Wurzeln vieler Konflikte nicht mit militärischen Mitteln zu beheben sind und auch der Kampf gegen den Terrorismus militärisch nicht zu gewinnen ist, zeigt sich derzeit im Irak und in zunehmendem Maße in Afghanistan. Wie der umfassende Sicherheitsanspruch, den das Weißbuch zu Beginn aufbaut, schließlich eingelöst werden soll, lässt der Text offen. Am Ende bleibt die Frage, warum die sicherheitspolitische Analyse so weit geöffnet wird, wenn die sich daraus ergebenden Probleme nicht einmal ansatzweise verfolgt werden.

Die Umdeutung des verfas­sungs­recht­li­chen Vertei­di­gungs­be­griffes

Die verfassungsmäßigen Grundlagen für Einsätze der Bundeswehr sind im Grundgesetz klar beschrieben: Vor dem Hintergrund der deutschen Vergangenheit schreibt unsere Verfassung das Gebot der Friedensstaatlichkeit, die Achtung völkerrechtlicher Regeln wie dem Gewaltverbot (Artikel 26 Grundgesetz) und die Begrenzung der Bundeswehr auf Verteidigungsaufgaben (Artikel 87a Grundgesetz) vor. Darüber hinaus sind für die Bundeswehr nur solche Einsätze zulässig, die das Grundgesetz ausdrücklich regelt – hierzu zählen etwa Einsätze im Rahmen von Bündnissen kollektiver Sicherheit (Artikel 24 Absatz 2 Grundgesetz) oder die Unterstützung bei Unglücks- und Katastrophenfällen (Artikel 35 Grundgesetz). Der Verteidigungsauftrag der Bundeswehr wird zwar auch im Weißbuch unterstrichen: „Die Verteidigung Deutschlands gegen äußere Bedrohung bleibt die politische und verfassungsrechtliche Grundlage und Kernfunktion der Bundeswehr.“ (Weißbuch S. 5) Aber auch das Verteidigungsministerium kann auf absehbare Zeit keine konkrete Gefahr einer äußeren Bedrohung Deutschlands erkennen: „Die herkömmliche Landesverteidigung gegen einen konventionellen Angriff als strukturbestimmende Aufgabe der Bundeswehr entspricht nicht länger den aktuellen sicherheitspolitischen Erfordernissen.“ (Weißbuch S. 73) Diese Feststellung wird kaum jemand bestreiten. Es stellt sich die Frage, ob die Bundeswehr konsequenterweise nicht weiter reduziert werden müsste, wenn ihre Kernaufgaben entfallen. Das Weißbuch verfolgt die entgegengesetzte Strategie, die Öffnung der Bundeswehr für neue Aufgaben. Neben den Bündnisverpflichtungen Deutschlands dient ihm der vorgestellte „erweiterte Sicherheitsbegriff“ als Vorwand, den Verteidigungsauftrag erheblich auszuweiten. Die Beschreibung im Weißbuch stellt die Bundeswehr als ein universelles Instrument deutscher Außenpolitik vor. Spätestens hier entlarven sich die im Weißbuch enthaltenen Verweise auf den Verteidigungsauftrag der Bundeswehr und die Achtung des Völkerrechts als Lippenbekenntnisse: Eine Politik, die sich zur Durchsetzung ihrer außenpolitischen Ziele (Handlungsfähigkeit, Stabilität) militärischer Optionen bedienen will, verlässt den in Artikel 87a des Grundgesetzes beschriebenen Verteidigungsauftrag. Der Verteidigungsbegriff mag in seiner Reichweite umstritten sein – einen Einsatz der Bundeswehr zur Verfolgung, Durchsetzung und Sicherung ökonomischer oder politischer Interessen schließt er jedoch grundsätzlich aus.

Bundes­wehr­e­in­sätze bald im Inland – Verfas­sungs­än­de­rung des Artikel 35 Grundgesetz

Im Vorfeld der Veröffentlichung des Weißbuches hatte derVerteidigungsminister angekündigt, eine Verfassungsänderungfür den Einsatz der Bundeswehr werde noch im Herbstin den Bundestag eingebracht. Nach eiligen Dementis durch die verteidigungs- und innenpolitischen Sprecher der SPD, darüber bestünde noch keine Einigung, schien eine Änderung des Grundgesetzes zumindest verschoben, wenn nicht gar aufgehoben. Das Weißbuch – vom Bundeskabinett einstimmig verabschiedet – kündigt nun eine Änderung von Artikel 35 Grundgesetz an. Dabei soll der Einsatz militärischer Mittel durch die Bundeswehr im Inland erlaubt werden. Mit Bezug auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz und der dort aufgezeigten Grenzen von Bundeswehreinsätzen im Inneren stellt das Weißbuch fest: „Terroristische Anschläge können danach schwere Unglücksfälle im Sinne von Art. 35 GG darstellen. Die Streitkräfte können zu ihrer Verhinderung bereits dann eingesetzt werden,wenn ein Schadenseintritt durch einen Terroranschlagmit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unmittelbar bevorsteht. Da Art. 35 GG jedoch nur eine Grundlage für die Unterstützung der zuständigen Stellen darstellt, dürfen spezifisch militärische Kampfmittel dabei bislang nicht eingesetzt werden. Die Streitkräfte sind auf die Waffen beschränkt, die das jeweils einschlägige Recht für die Polizeikräfte vorsieht. Deshalb sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit einer Erweiterung des verfassungsrechtlichen Rahmens für den Einsatz der Streitkräfte.“ (Weißbuch S. 60) Und an anderer Stelle: „Besondere Leistungen erbringt die Bundeswehr bei der Überwachung des deutschen Luftund Seeraums sowie zur Unterstützung anderer Ressorts bei deren Wahrnehmung von luft- und seehoheitlichen Aufgaben.“ (Weißbuch S. 57) In der parlamentarischen Debatte zum Weißbuch am 26. Oktober stellte der Abgeordnete Kolbow die Zustimmung seiner Partei (SPD) zu diesem Vorhaben fest: „Einer Klarstellung im Grundgesetz stimmen wir zu, wenn sie über Art. 35 erfolgt. Hier sehen wir, wie die Bundesregierung, die Notwendigkeit einer Erweiterung des verfassungsrechtlichen Rahmens.“ (vorläufiges Protokoll der 60. Plenarsitzung vom 26.10.2006) Es ist also mit einer baldigen Änderung des Artikel 35 Grundgesetz (GG) zu rechnen, die den Weg für ein neues Luftsicherheits- und Seesicherheitsgesetz bereitet. Was haben wir bei der bevorstehenden Verfassungsänderung zu erwarten? Artikel 35 Absatz 1 GG regelt, dass alle Behörden des Bundes und der Länder sich gegenseitig Rechts- und Amtshilfe leisten. In den Absätzen 2 und 3 wird der Einsatz der Streitkräfte für regionale und überregionale Katastrophennotstände geregelt. Im Fall eines regionalen Katastrophennotstands (Artikel 35 Absatz 2 GG) kann das betroffene Bundesland bei einer Naturkatastrophe oder einem besonders schweren Unglücksfall unter anderem Hilfeleistungen der Streitkräfte anfordern. Liegt ein überregionaler, das Gebiet mehr als eines Bundeslandes gefährdenderKatastrophenfall vor, kann nach Artikel 35 Absatz 3 GG auchdie Bundesregierung von sich aus die Unterstützung der Länderpolizeien durch Bundeswehreinheiten anordnen, soweit es zur wirksamen Hilfe erforderlich ist. Unter einem besonders schweren Unglücksfall im Sinne des Artikel 35 GG wird allgemein ein Schadensereignis von großem Ausmaß verstanden, das Auswirkungen auf lebenswichtige Bereiche der Daseinsvorsorge hat oder wegen seiner Bedeutung in besonderer Weise die Öffentlichkeit berührt. Größere Flugzeug- oder Eisenbahnunfälle, Unfälle in Kernkraftwerken oder auch ein Stromausfall würden zu einem solchen Unglücksfall im Sinne des Artikel 35 gehören. Der Unglücksfall ist nicht auf Situationen beschränkt, die durch menschliches oder technisches Versagen entstanden. Er beinhaltet auch in der geltenden Fassung jene Ereignisse, die gezielt herbeigeführt wurden – wie etwa terroristische Angriffe. Unter den Katastrophennotstand fallen schließlich auch Situationen, in denen der Eintritt einer Katastrophe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Auch für solche, mit höchster Wahrscheinlichkeit eintretenden Unglücksfälle könnte bereits heute die Hilfe der Bundeswehr in Anspruch genommen werden. Sinn und Zweck der bisherigen Regelung des Grundgesetzes ist es, einen wirksamen Katastrophenschutz notfalls durch den Einsatz der Streitkräfte zu gewährleisten. Die bisherige Fassung von Artikel 35 Absatz 2 und 3 GG erlaubt es aber nicht, die Streitkräfte mit spezifisch militärischen Waffen einzusetzen. Diese Beschränkung hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz ausdrücklich bestätigt. Der rationale Hintergrund dieser Beschränkung wird bei einem Blick auf die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift deutlich: In der Diskussion um die Notstandsverfassung hatte die damalige Bundesregierung ursprünglich vor, den regionalen und überregionalen Katastrophennotstand zusammen mit dem so genannten inneren Notstand in Artikel 91 GG zu regeln. Die Bundeswehr sollte nach dem ursprünglichen Entwurf lediglich „Polizeikräfte“ zur Verfügung stellen können. Auf diese Weise wollte man sicherstellen, dass die Streitkräfte allein für polizeiliche Aufgaben und nur mit den polizeirechtlich vorgesehenen Befugnissen gegenüber dem Staatsbürger eingesetzt werden können (vgl. BT-Drucksache V/1879, S. 23 zu Artikel 91 Absatz 2 GG). Vor der Verabschiedung eines neuen Luft- und Seesicherheitsgesetzes (mit einer wie auch immer ausgestalteten Abschussbefugnis) müsste deshalb die Verfassung geändert werden, um den Einsatz militärischer Mittel im Inneren zu erlauben. In der Diskussion um das Weißbuch wurde deutlich, dass sich die Koalition darauf geeinigt hat, das der Einsatz militärischer Kampfmittel im Inland auch einem militärischen Kommando unterstehen soll. Bisher unterstand ein Einsatz der Streitkräfte auf Länderebene der Polizei, beim überregionalen Katastrophenschutz unterlagen eingesetzte Bundeswehreinheiten den Weisungen der Regierung. Die von der Koalition angekündigte Änderung des Artikel 35 GGgeht damit über die Regelungen der Notstandsverfassung hinaus, indem sie im Katastrophenfall den Einsatz der Bundeswehrals militärische Streitkräfte vorsieht und die Bundeswehrnicht mehr den zivilen bzw. polizeilichen Entscheidungsstrukturenunterordnet. Damit nicht genug, ist auch noch offen, ob es eine noch weitergehende Regelung für Einsätze der Bundeswehr im Inneren geben wird. Immer wieder wurde kolportiert, Innenminister Schäuble wolle die Bundeswehr auch bei „sonstigen Angriffen auf die Grundlagen des Gemeinwesens“ in Deutschland einsetzen. Mit einer expliziten Aufnahme der Bundeswehr in den Kreis der allgemeinen Amtshilfe (Artikel 35 Absatz 1 GG) wäre diese Möglichkeit eröffnet: eine solche Regelung würde nicht nur die in Artikel 87 GG verankerte Beschränkung der Bundeswehreinsätze aushebeln, sie würde auch eine zunehmende Militarisierung der Innenpolitik vorzeichnen.

Bundeswehr als Sicher­heits­ri­siko

Wird mit den Ankündigungen des Weißbuches der Verteidigungsauftrag der Bundeswehr unterlaufen und steht uns der Einsatz militärischer Kampfmittel zur Gefahrenabwehr ins Haus, gerät die Bundeswehr selbst zum Sicherheitsrisiko. In der Koalition besteht offenbar Einigkeit darüber, der Bundeswehr eine „eingeschränkte Abschussbefugnis“ im Falle eines terroristischen Angriffes zu erteilen: die Bundeswehr dürfe unbemannte Schiffe oder Flugzeuge bzw. solche, die nur mit mutmaßlichen Terroristen besetzt sind, abschießen. [3] Diese Konstellation hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz offen gelassen. Dabei handelt es sich jedoch um eine äußerst unwahrscheinliche Situation, die darüber hinaus im Einsatzfall kaum zu erkennen sein wird. Bei der Planung terroristischer Anschläge würde die Schutzwirkung menschlicher Geiseln natürlich eine wichtige Rolle spielen und wie die Sicherheitsbehörden zu der Einschätzung gelangen, dass sich an Bord eines entführten Flugzeugs oder Schiffes keine unbeteiligten Dritten befinden, bleibt ihr Geheimnis. Im Ernstfall wäre deshalb – zumindest nach der geltenden Verfassungsordnung – wenig gegen solche Attacken auszurichten. Auch vor dem Hintergrund der zu erwartenden Folgen ist der Abschuss von Schiffen oder Flugzeugen aberwitzig: Aus gutem Grund sind die Streitkräfte in Unglücks- und Katastrophenfällen bislang darauf beschränkt, nur die für Polizeikräfte zulässigen Waffen anzuwenden. Die im Februar vom Bundesverfassungsgericht außer Kraft gesetzte Abschussbefugnis des Luftsicherheitsgesetzes ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass in militärischen Entscheidungsstrukturen keine hinreichende Prüfung der Verhältnismäßigkeit stattfindet. Die Koalition muss sich fragen lassen, wie sie bei solchen Einsätzen das Leben unbeteiligter Dritter ausreichend schützen will. Eine Regelung, die das Leben unbeteiligter Dritter zur Disposition stellt, bleibt ein durch nichts zu rechtfertigender Verstoß gegen die Menschenwürde und damit verfassungswidrig. Die angestrebte Neuregelung ist deshalb entweder sinnlose symbolische Gesetzgebung oder auf den bewussten Verfassungsbruch angelegt – frei nach dem Jungschen Motto ‚Im Ernstfall lasse ich auch ohne gesetzliche Grundlage abschießen‘. [4]

Sven Lüders/Rosemarie Will

Anmerkungen:

[1] vgl. hierzu die Stellungnahme von Renate Künast in der Bundestagsdebatte um das Weißbuch

[2] Dr. Ute Finckh-Krämer: Mündliche Stellungnahme für die öffentliche Anhörung von Sachverständigen am 25.10.2006 durch den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung des Deutschen Bundestages (Manuskript)

[3] So die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries in einem Interview des Deutschlandfunks am 12.11.2006 (http://www.dradio.de/dlf/sendungen/ idw_dlf/562302/)

[4] Peter Blechschmidt: Im Notfall. Jung will Terror-Flugzeuge abschießen. Süddeutsche Zeitung vom 18.2.2006

nach oben