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Die HU auf dem Weg nach Europa

14. Dezember 2006

Workshop zur Bürgerrechtsarbeit in Europa am 2./3. September in Berlin

Mitteilungen Nr. 195, S. 22-23

Die HU auf dem Weg nach Europa

Am ersten September-Wochenende fand in Berlin der Workshop „Die Europäische Union als Raum der Bürgerrechtspolitik“ statt. 15 aktive HU-MitstreiterInnen waren der Einladung des Bundesverbandes und des nordrhein-westfälischen Bildungswerkes der HU gefolgt, um sich zu Fragen des Grundrechtsschutzes in Europa, des institutionellen Aufbaus der Europäischen Union und der Finanzierungs- und Kooperationsmöglichkeiten einer europäisch ausgerichteten Bürgerrechtsarbeit zu informieren. Erfreulich war, dass unter den TeilnehmerInnen nicht nur „altbekannte“ Gesichter, sondern auch einige bisher „stille“ Mitglieder zu finden waren. Das dichte Programm des Workshops wurde am Samstag mit einem Vortrag von Martin Kutscha über die „Rechtsquellen europäischer Bürger- und Grundrechte“ eröffnet. Sein Überblick über die gerichtlichen Möglichkeiten eines Grundrechtsschutzes in Europa begann mit einer ernüchternden Bilanz: In der Europäischen Union stehen die Fragen eines gemeinsamen Wirtschafts- und Handelsraumes immer noch im Vordergrund, der Schutz der Grund- und Bürgerrechte der EU-BürgerInnen spiele dagegen eine nachgeordnete Rolle. Nach dem (vorläufigen) Scheitern des europäischen Verfassungsprojektes gibt es keine verbindliche Grundrechte-Charta und damit auch keinen rechtsverbindlichen Grundrechte-Katalog. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in Den Haag sei in Bezug auf den Grundrechtsschutz nur rudimentär, direkte Klagen von EU-Bürgern vor dem EuGH nicht vorgesehen. Der EuGH könne sich nur auf „gemeinsame Verfassungstraditionen“ der europäischen Staaten berufen. Anhand zahlreicher beispielhafter Entscheidungen verdeutlichte Martin Kutscha das grundrechtliche Profil des EuGH, etwa in Fragen des freien Zugangs zum Beruf und der Gleichstellung. Anschließend ging Martin Kutscha auf die Bedeutung von Europäischer Menschenrechtskonvention (EMRK) und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte (EuGHMR) für den Grundrechtsschutz ein. Durch einen verbindlichen Grundrechts-Katalog und die Möglichkeiten einer Individualbeschwerde vor dem EuGHMR böten diese beiden Institutionen einen wesentlich ausgeprägteren Schutz der Grundrechte als der EuGH. Jedoch sei die EMRK nur eingeschränkt wirksam – in Deutschland etwa komme ihr nur der Rang einfachen Rechts zu. Obwohl alle Mitgliedsstaaten der EU die Konvention unterzeichnet haben, entfalte die EMRK als Produkt des Europarates keine unmittelbare Wirkung im europäischen Raum. Die unterzeichnenden Staaten seien zwar völkerrechtlich an die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte gebunden, jedoch würden sie nicht die durch nationale Instanzen gefällten Urteile aufheben. Nicht zuletzt habe auch das Bundesverfassungsgericht für Deutschland eine mögliche Abweichung nationaler Gesetze von den Entscheidungen des EuGHMR zugelassen. Nach dieser europarechtlichen Tour de Force übernahm Björn Schreinermacher die Aufgabe, den Aufbau der grundlegenden Institutionen der EU und ihrer Entscheidungswege zu erläutern. Zunächst stellte er dazu die drei Säulen der europäischen Zusammenarbeitvor: die Zusammenarbeit in Wirtschaftsfragen(EG), die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik(GASP) sowie die Zusammenarbeitin Fragen der Justiz undder Inneren Sicherheit.Während die HU auf nationaler Ebene relativ systematisch die Entwicklung neuer Vorschläge, Gesetzesinitiativen und Entscheidungen beobachtet und verfolgt, stellt sich dies auf europäischer Ebene wesentlich schwieriger dar. Es entsprach wohl der Erfahrung vieler TeilnehmerInnen, dass wir Entwicklungen auf europäischer Ebene häufig erst dann wahrnehmen, wenn die entsprechenden Entscheidungen bereits gefallen sind. Insofern war es besonders hilfreich, dass Björn Schreinermacher in seiner Darstellung der institutionellen Strukturen darauf einging, an welchen Stellen innerhalb des EU-Entscheidungsgeflechtes eine europäische Bürgerrechtsarbeit einsetzen sollte. Hierbei hob er besonders den Ausschuss der Ständigen Vertreter (COREPER) hervor, der die Sitzungen des Rates der EU vorbereite. In diesem in Brüssel angesiedelten Kreis von Ländervertretern fänden die entscheidenden Abstimmungs- und Aushandlungsprozesse statt, weshalb eine systematische Beobachtung seiner Arbeit wertvolle Hinweise über bevorstehende Entscheidungen geben könne. Im weiteren Verlauf gab Björn Schreinermacher einen Überblick über die Formen der Rechtssetzung auf europäischer Ebene (Verordnungen, Richtlinien, Rahmenbeschlüsse), über das Verhältnis von Kommission und Parlament und die Grenzen der parlamentarischen Beteiligung sowie die Formen des Rechtsschutzes beim EuGH. Nach diesen umfangreichen Informationen sollte das neue Wissen gleich praktisch genutzt werden: In einer ersten Gruppenarbeitsphase wurden deshalb am Beispiel der EU-Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung die Entscheidungswege und -zeiträume rekonstruiert. Die Internet-Recherchen zeigten, dass es nicht so einfach ist, über die Webseiten der EU an alle notwendigen Ratsdokumente und Protokolle zu gelangen. Immerhin konnte aber ein Protokoll des Ausschusses der Ständigen Vertreter vom 5. Oktober 2005 gefunden werden, aus dem das Scheitern der Verhandlungen um einen Rahmenbeschluss hervorging. Die anschließende Umorientierung auf eine neue Rechtsgrundlage (Richtlinie statt Rahmenbeschluss) und die Aushandlung ihrer Inhalte verlief dann sehr schnell – bereits am 14. Dezember 2005 wurde dem Europaparlament der fertige Entwurf der Richtlinie zur Beschlussfassung vorgelegt. Weitere Gruppenrecherchen widmeten sich am Sonntag möglichen Kooperationspartnern auf europäischer Ebene und Finanzierungsquellen für eine europäische Bürgerrechtsarbeit. Auch hier wurde schnell die Unübersichtlichkeit des Informationsangebotes der EU deutlich. Zum einen ist es aufwendig, ein passendes Förderprogramm zu finden, zum anderen sind die Anforderungen an die Antragsteller zum Teil unüberwindbar hoch. Viele praktische Anregungen, um sich im „EU-Dschungel“ zurechtzufinden, gab ein Vortrag von Ben Hayes, der die Arbeit der britischen NGO statewatch vorstellte. Die 1991 als Reaktion auf den Maastrichter Vertrag (wieder)gegründete Gruppe hat sich die Beobachtung und Dokumentation von politischen Entscheidungsprozessen in der EU zur Aufgabe gemacht. Statewatch versteht sich vordergründig als Informationsdienst , der hauptsächlich auf die Veröffentlichung von Dokumenten der EU spezialisiert ist und nur zu ausgewählten sicherheitspolitischen Themen inhaltliche Dossiers und Analysen anbietet. Wie die TeilnehmerInnen des Workshops bei ihren eigenen Recherchen erfahren mussten, ist die Zugänglichkeit von Dokumenten der EU-Gremien durch unübersichtliche Webangebote, aber auch durch zahlreiche verschlossen gehaltene Dokumente stark eingeschränkt. Nach Einschätzung von statewatch betrifft dies etwa 40 Prozent aller Dokumente aus dem Council Document Repository , dem offiziellen Dokumentenverzeichnis der EU. Wie Ben Hayes an ausgewählten Themen zeigen konnte, bietet der Webauftritt von statewatch eine fundierte Informationsquelle , die entsprechend viele Interessenten für ihre Arbeit nutzen. Der Workshop hat nach Meinung aller TeilnehmerInnen viel Neues gebracht: sowohl die sehr gut vorbereiteten Referate , aber auch die eigene Recherchearbeit haben dazu beigetragen , die bürgerrechtliche Arbeit künftig stärker europäisch auszurichten. Viele der TeilnehmerInnen waren sich darin einig, dass dieses lehrreiche Wochenende nur ein erster Anfang sein kann und eine Fortsetzung wünschenswert ist. Mit einer Vertiefung auf europäische Finanzierungsmöglichkeiten wurde auch schon das Thema einer möglichen Fortsetzung im nächsten Jahr gefunden. Europa-Interessierte, die sich in die Fortführung dieser Arbeit einbringen wollen, können sich gern an die Bundesgeschäftsstelle wenden. Die Vorträge des Workshops sowie die Ergebnisse der Gruppenrecherchen zu Finanzquellen und europäischen Kooperationspartnern sind demnächst über die Homepage unter www.humanistische-union.de/europa/ abrufbar.

Martina Kant

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