Beitragsbild Generationswechsel. Bericht vom ersten Verbandstag der vereinigten HU-GHI am 8.-10. Oktober 2010 in Köln
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Genera­ti­ons­wech­sel. Bericht vom ersten Verbandstag der vereinigten HU-GHI am 8.-10. Oktober 2010 in Köln

Mitteilungen21112/2010Seite 12-14

Mitteilungen Nr. 211 (4/2010), S. 12-14

Generationswechsel. Bericht vom ersten Verbandstag der vereinigten HU-GHI am 8.-10. Oktober 2010 in Köln

Etwa 40 Mitglieder fanden sich zum diesjährigen Verbandstag der Humanistischen Union (HU) in Köln ein. Die Veranstaltung war geprägt vom Wandel der HU: Erstmals nahmen an ihr auch Mitglieder aus der Gustav Heinemann-Initiative teil, was sich u.a. in einer Diskussion zur Friedenspolitik widerspiegelte. Daneben konnten wir erfreulicherweise einige neue und jüngere Mitglieder bei der Versammlung begrüßen.

Der Auftakt des Verbandstages – eine Vorabaufführung des Dokumentarfilms über Fritz Bauer – lockte wohl eher die ältere Generation der Mitglieder an (obgleich der Film auch für die Jüngeren viel zu bieten hat). Der Generationswechsel wurde am Folgetag gleich beim ersten Thema, einem Newcomer deutlich:

Netzpolitik

Auf Anregung des Vorstands sollte der Verbandstag ein erster Austausch darüber sein, worin die netzpolitischen Fragestellungen und Ziele der HU bestehen könnten. Rosemarie Will schilderte eingangs, wie sich der Bundesvorstand dem Thema in den letzten Monaten genähert hat: Gemeinsam wurden die netzpolitischen Positionen der Parteien, der beteiligten Ministerien (Innen, Justiz, Verbraucher, Wirtschaft) und anderer Akteure verglichen. So sollten die Kerne jener netzpolitischen Debatte identifiziert werden, die nach dem Achtungserfolg der Piraten im vergangenen Jahr alle Parteien erfasst hat. Natürlich galt die Suche auch den Leerstellen der Debatte und den „Marktlücken” für ein netzpolitisches Engagement der HU. Dabei wurde deutlich, dass „Netzpolitik” kaum auf den Begriff zu bringen ist, sondern mehr ein Konglomerat verschiedener Politikfelder beschreibt, die sich am und im Internet treffen: Infrastruktur, Strafverfolgung & Prävention, geistiges Eigentum, Datenschutz, Informationsfreiheit und Partizipation. Die Ergebnisse dieser Bemühungen stehen im HU-Wiki bereit und können für die weitere Arbeit des netzpolitischen Arbeitskreises genutzt werden (s. Links am Ende des Artikels).

Aus dem Kreis der TeilnehmerInnen kamen einige Anregungen für die weitere netzpolitische Diskussion in der HU: Als erstes die Warnung vor einem selbstauferlegten Perfektionismus (N. Reichling); neben der Ausgestaltung des Netzes sollten der gleichberechtigte Zugang – auch für einkommensschwache Menschen – und die bildungspolitische Bedeutung des Netzes nicht vergessen werden (U. Hausmann). Mehrere Mitglieder warnten vor dem Versuch, die HU könne ein eigenes netzpolitisches Konzept aufstellen; wir sollten uns vielmehr auf die bürgerrechtliche Kritik beschränken und unsere Stärken (etwa den Datenschutz) in der Netzdebatte nicht aus den Augen verlieren. Für die weitere Bearbeitung des Themas haben sich mittlerweile einige Interessenten für den Arbeitskreis Netzpolitik (s. Mitteilungen 209, S. 27) gefunden – weitere MitstreiterInnen sind jederzeit herzlich willkommen. Es wurde angeregt, für einzelne Aspekte des Themas die interessierten Regionalgruppen einzubinden. So könnten einzelne Fragen auch auf Abendveranstaltungen in Bremen, Frankfurt oder anderswo diskutiert werden. Der Vorstand hat diese Anregungen des Verbandstages mittlerweile ausgewertet und einen ersten Einstieg der HU in die netzpolitische Debatte beschlossen: einen Workshop zu den Kompetenzen der Strafverfolger und Sicherheitsbehörden im digitalen Raum, der in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung im ersten Halbjahr 2011 stattfinden soll. Ideen dazu sowie der weitere Fahrplan für die netzpolitischen Aktivitäten der HU im WIKI bzw. über die Geschäftsstelle der HU.

50 Jahre HU

Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Der Vorstand beschäftigt sich seit geraumer Zeit mit der Frage, wie das 50jährige Bestehen der HU im nächsten Jahr angemessen begangen werden kann. Vor 10 Jahren gab es dazu eine Festschrift innerhalb der Zeitschrift vorgänge (Heft 155: 40 Jahre Bürgerrechtsbewegung), die einen breiten Mix von Innen- und Außenansichten zur HU versammelte und Akteure, Themen und … auflistete. Das soll im nächsten Jahr nicht einfach wiederholt werden, zumal nach 10 Jahren die Geschichte der HU nicht gänzlich neu zu schreiben wäre.

Mit Blick auf den Generationenwandel, den die HU derzeit vollzieht, und den damit drohenden Verlust politischer Erfahrungen schlägt der Vorstand das Konzept eines Dokumentenbandes vor. Dieser Band ist der Versuch, die thematischen Traditionslinien der HU, die Entwicklung ihrer Positionen (um nicht zu sagen: ihre Dogmen) sowie ihre Erfolge anhand von Originaltexten zu dokumentieren. Angedacht ist eine Sammlung denkwürdiger Texte zu allen Themenfeldern der HU. Das können Aufsätze, offene Briefe, Memoranden, Musterklagen und dergleichen mehr sein. Mit dieser Sammlung an Originaltexten wollen wir gerade die jüngeren Mitglieder ansprechen, um ihnen die Vorgeschichte und den Zeithorizont mancher Diskussionen in- und außerhalb der HU nahe zu bringen. Und der Dokumentenband bietet zugleich einen Blick auf die Konjunkturen, auf Dauerbrenner wie verloren gegangene Themen aus 50 Jahren HU.

Da unser aller Gedächtnis endlich ist, und viele derzeit Aktive innerhalb der HU auch nicht die ganze Zeit miterlebt haben, bitten wir um tatkräftige Unterstützung bei dem Vorhaben (s. Aufruf). Der aktuelle Recherche- und Diskussionsstand zu den verschiedenen Rubriken lässt sich im HU-WIKI verfolgen. Textvorschläge können gern im Netz eingebracht, oder an die Bundesgeschäftsstelle gesandt werden.

Auf dem Verbandstag wurde das Konzept des Dokumentationsbandes diskutiert, zahlreiche Anregungen für die Themenauswahl gegeben. Außerdem stand Ort und Zeitpunkt des Festaktes zur Debatte. Dieser wurde mittlerweile vom Vorstand auf Samstag, den 24. September 2011 in Berlin festgelegt (s. Terminplan auf Seite 24).

Friedens­po­li­tik: Das Afgha­ni­stan-­Pa­pier

Bis zuletzt befasste sich die Gustav Heinemann-Initiative aktiv mit dem Prozess der Remilitarisierung der Bundesrepublik, mischte sich in die aktuellen friedenspolitischen Debatten ein. Kein Wunder, sind doch viele ihrer Aktiven in der Friedensbewegung verwurzelt. Und so war die Hoffnung groß, dass dieses Engagement auch unter dem Dach der Humanistischen Union einen neuen Platz findet.

Ein erstes Produkt dieser Bemühungen war das vor einem Jahr publizierte Positionspapier „Den Frieden politisch und mit zivilem Aufbau gewinnen – Ausstieg aus dem militärischen Engagement in Afghanistan”, das maßgeblich von Alexander Wittkowsky und Werner Koep-Kerstin formuliert wurde. Vor welchem Hintergrund dieser Text zu verstehen ist (die GHI diskutiert seit 1998 kontrovers über militärische Interventionen), erläuterten Jutta Roitsch und Alexander Wittkowsky. Ihnen ging es darum, zentrale friedenspolitische Anliegen (Vorrang des Zivilen; Deeskalation des militärischen Konflikts …) mit einer Politik der Verantwortung zu verbinden, die sich den durch militärische Interventionen geschaffenen Fakten stellt und sich nicht auf die einfache Formel „Abzug aus Afghanistan“ reduziert. Gegen derlei „realpolitische“ Überlegungen (Was passiert mit der zivilen Hilfe nach einem Abzug? Welche Konsequenzen ergeben sich für die afghanische Zivilgesellschaft?) gab es von einigen „Alt-HUlern“ erkennbare Vorbehalte. Die Diskussion offenbarte Differenzen im politischen Zugriff auf das Thema. Dabei sollte jedoch nicht unterschlagen werden, dass die Frage des Militärischen auch in der „Alt-HU“ immer umstritten war – man schaue sich nur die damaligen vereinsinternen Diskussionen zum Kosovo-Einsatz an.

Alexander Wittkowsky berichtete in Köln weiter vom Stand einer Afghanistan-Konferenz, die ein breites Bündnis friedens- und entwicklungspolitischer Gruppen sowie Menschenrechtsorganisationen für Februar 2011 vorbereitet. Bei dieser Konferenz stehen zur Debatte: die Konditionen des militärischen Abzugs aus Afghanistan, das Verhältnis von Militär und zivilen Hilfsorganisationen, die Perspektiven für die Umsetzung der neuen Verfassung und die ökonomische Zukunft des Landes. Auch hierzu gab es Vorbehalte, dass sich die HU nicht zu tief mit afghanischen Problemen befasse – im Gegensatz zu den anderen beteiligten NGOs betreibe man dort ja keine Hilfsprojekte und könne deshalb nicht auf eigenen Erfahrungen aufbauen.

Angesichts solcher kritischen Anmerkungen befürchteten einige „Alt-GHIler”, ihre friedenspolitischen Anliegen könnten in der Humanistischen Union untergehen. Dies war keineswegs die Absicht der Kritiker. In der Diskussion wurde vielmehr deutlich, dass all die „Afghanistan-Diskussionen“ starke innenpolitische wie bürgerrechtliche Bezüge aufweisen, zu denen eine Selbstverständigung der HU angesagt ist, etwa: über unsere Haltung zur Reform der Bundeswehr und deren Umgestaltung zur Kampftruppe; über die Abschaffung der Wehrpflicht und der parlamentarischen Anbindung der Armee; zu den Verstößen gegen völker- und menschenrechtliche Normen bei Auslandseinsätzen; zu extraterritorialen Staatenpflichten Deutschlands usw.

Die Verständigungsschwierigkeiten der Kölner Debatte zeigten zweierlei: Die Frage der militärischen Gewaltanwendung ist nach wie vor moralisch hoch bewertet und umstritten. Dazu besteht in der HU (nicht erst seit der GHI-Fusion) ein enormer Gesprächsbedarf. Dieser wird noch dadurch verstärkt, dass HU und GHI die friedenspolitischen Traditionen der jeweils Anderen bisher zu wenig wahrgenommen haben. Zum anderen zeugen die Irritationen über den Stellenwert der friedenspolitischen Debatten in der HU vom Integrationsbedarf, den wir nach der Vereinigung mit der GHI noch zu leisten haben. Beides keine unlösbaren Probleme. Am besten hilft wohl Lesen und Reden: Die zentralen friedenspolitischen Texte aus HU und GHI finden sich am Ende dieses Textes; sie sind Pflichtlektüre vor der nächsten vereinsinternen Debatte.

Und sonst …

wurde die Arbeit des Vorstands einer kritischen Prüfung unterzogen – nicht zuletzt von den Vorstandsmitgliedern selbst. Jutta Roitsch-Wittkowsky wies etwa darauf hin, dass zahlreiche Tagungen wie die zum Existenzminium im Mai 2010 verbandsintern kaum genutzt würden, um eine Positionsbestimmung zu den Themen voranzutreiben. Aufwand und Ertrag der Veranstaltungen wären deshalb zu hinterfragen. Ein kurzer Austausch über die Aktivitäten in den Regionalverbänden zeigte, dass die HU auf sehr verschiedenen Ebenen agiert: von der Arbeit nah am Parlament und der Gesetzgebung (Bund & Berlin) über Informationsveranstaltungen im Landtagswahlkamf (NRW) bis zu Veranstaltungen im Strafvollzug (Bremen) oder im studentischen Milieu (Freiburg). Es gab manche Anregung, wie die Zusammenarbeit zwischen Bund und Regionalverbänden innerhalb der HU verbessert werde könne – etwa durch das Angebot fertiger Veranstaltungskonzepte oder Modellprojekte sowie einen gezielten Austausch zwischen den Regionalvertretern. Und schließlich blieb zwischen Auftaktfilm, dichtgepackter Tagesordnung und Fritz-Bauer-Preisverleihung wieder einmal wenig Zeit, um sich abseits des Protokolls auszutauschen.

Sven Lüders
ist Geschäftsführer der Humanistischen Union

Die Planungen des Dokumentationsbandes zu 50 Jahre HU im WIKI unter -> Projekte -> Dokumentationsband bzw. WIKI-Code O1006.

Die Vorarbeiten des Bundesvorstands zur Netzpolitik sowie ein erster Fahrplan für den neu gegründeten Arbeitskreis im WIKI unter -> Intern
-> Projekte -> AK Netzpolitik bzw. WIKI-Code I1003.


Zur friedenspolitischen Lektüre empfohlen:

Gustav Heinemann-Initiative: Gerechter Friede statt „gerechter“ Kriege.
Beschluss des GHI-Vorstandes vom 2. Februar 2005.

Martin Kutscha: Abschied von der Friedensstaatlichkeit? Der Entwurf des neuen Weißbuchs der Bundeswehr, Mitteilungen Nr. 194, S. 1-5.

Rosemarie Will, Sven Lüders: Das neue Weißbuch und die Militarisierung der deutschen Innen- und Außenpolitik. Mitteilungen Nr. 195, S. 8-11.

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