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Gegenreform im Jugend­s­traf­recht? Wider die repressive Hilflo­sig­keit!

01. September 1998

Mitteilungen Nr. 163, S. 67-69

Wenn wir den Medien und der Politik glauben dürfen, wächst sich die Jugendkriminalität gegenwärtig zu einer der ernsthaften Bedrohungen jener Basis unseres Zusammenlebens aus, die man innere Sicherheit nennt. Als die wichtigsten Gründe hierfür werden bekanntlich genannt:
– der ständige Anstieg der Jugendkriminalität;
– die steigende Anzahl von Gewaltdelikten junger Menschen;
– die Ausübung von Gewalt durch immer jüngere Jugendliche, ja durch Kinder.

Auf den einen oder anderen – oder mehrere – dieser Gründe stützen sich so gut wie alle Behauptungen einer von der jungen Generation heute ausgehenden Gefahr. Ebenso bekannt sind die Empfehlungen, wie ihr zu begegnen sei. Die Jugendgerichte, zuständig für alle zur Tatzeit zwischen 14 und 20 Jahre alten Beschuldigten, müßten mit viel strengeren Sanktionen vorgehen; Freiheitsentzug als Sanktion müßte viel intensiver eingesetzt werden, d.h. sowohl häufiger gegenüber noch jüngeren Tätern, als auch allgemein durch längere Strafen. Vom Gesetzgeber wird verlangt, dem Rechnung zu tragen z.B. durch die Anhebung von Strafobergrenzen, die Herausnahme der 18- bis 20jährigen Täter aus dem Jugendstrafrecht oder durch Herabsetzung der für die Strafmündigkeit geltenden Altersgrenze von 14 Jahren.

Das Problem des Gesetzgebers, in dieser Lage dem Anspruch rationalen Handelns zu entsprechen, ist ein doppeltes: Könnte es erstens – unabhängig von einem tatsächlichen Anstieg der Jugendkriminalität – nicht sein Anliegen sein, die Vorstellungen der Bevölkerung, die sich als Angst vor Kriminalität und persönlicher Verunsicherung äußern, ernst zu nehmen und durch eine härtere (Jugend-) Kriminalgesetzgebung zu beschwichtigen? Und gibt – zweitens – ein wie immer ausgeprägter Anstieg der Jugendkriminalität nicht bereits als solcher einen Anlaß, gesetzgeberisch zu intervenieren?

Die erste Frage erscheint uns leichter zu beantworten als die zweite. Denn dem Ziel allein, zu demonstrieren, daß Ängste und Sorgen der Bevölkerung auch vom Gesetzgeber ernst genommen werden, darf seine Tätigkeit niemals dienen; das widerspräche der Forderung der Rationalität seines Tuns. Es könnte ja sein, daß jene Ängste und Sorgen der Menschen ihr aktuelles Niveau vor allem den vielfältigen öffentlichen Informationen über Kriminalität verdanken, nicht aber der Kenntnis ihrer tatsächlichen Dimensionen. Dann aber liegt die Gefahr auf der Hand, daß der Gesetzgeber zur Bekämpfung des Phänomens Mittel vorschriebe, die in der Realität entweder nichts bewirken oder die tatsächliche Lage sogar verschlimmern. Eine solche bloße „Anlaß-Gesetzgebung“ – mitunter noch krasser „Panik-Gesetzgebung“ genannt – hat noch nie mehr genutzt als geschadet.

Stattdessen wäre, bezogen auf das Thema Kriminalität, durch eine Politik der Aufklärung deren Dramatisierungen entgegenzuwirken; so zum Beispiel durch die Information, daß die Opfer von Gewaltanwendung durch männliche Jugendliche überwiegend selber männliche Jugendliche (und nicht Frauen oder alte Menschen) sind. Ein weiteres Beispiel wäre der Befund, daß die sog. Ausländerkriminalität im Gegensatz zur Zahl der deutschen Tatverdächtigen in den Jahren nach 1993 insgesamt zurückgegangen ist und bei den Jugendlichen ihr Zuwachs immer noch beträchtlich hinter dem Zuwachs der Deutschen bleibt.

Die zweite Frage gilt der Notwendigkeit gesetzgeberischen Eingreifens in Anbetracht eines realen Kriminalitätsanstiegs überhaupt. Denn der ergibt sich in der Tat aus dem Anstieg der Zahlen der polizeilichen ermittelten Tatverdächtigen und – wenn auch z.T. deutlich abgeschwächt – der Zahlen der von den Gerichten dann auch verurteilten Jugendlichen und Heranwachsenden. Zwar bilden die Statistiken die „wahre Realität“ nicht ganz wirklichkeitsgetreu ab – es genügt der Hinweis auf das Dunkelfeld der unbekannt bleibenden Täter und Opfer –, und zugleich unterliegt ihr Zustandekommen Einflüssen wie z.B. den Prioritäten, die die Polizei für ihre Ermittlungen setzt, oder den von Staatsanwälten und/oder Richtern verfügten Einstellungen von Bagatellverfahren. Dennoch bleibt der Statistik genügend Substanz, um den Anstieg der Jugendkriminalität als Anlaß für gesetzgeberisches Eingreifen zur Diskussion zu stellen.

Wir meinen indessen, daß ein solcher Anlaß nicht besteht, und zwar aus folgenden Gründen:

Die verfügbaren Daten und kriminologischen Informationen lassen jenen Anstieg weit hinter seiner aktuellen Dramatisierung zurückstehen. Nach wie vor tritt nur ein sehr kleiner Teil aller Jugendlichen und Heranwachsenden strafrechtlich als tatverdächtig oder gar verurteilt in Erscheinung.

Phasenhafte Entwicklungen der Jugendkriminalität sind seit ihrer Zählung nicht neu. Daß bei ihrem Auf und Ab insgesamt eine ständige Zunahme unverkennbar ist, stellt ein „Schicksal“ dar, das Deutschland mit allen modernen Industriestaaten teilt. „Härte“ als Antwort nutzt im Zweifel nichts. Hinweise auf die Vereinigten Staaten von Amerika liefern in diesem Zusammenhang keine Argumente; denn wo dort „hart zurückgeschlagen“ wird, gingen auch die kriminellen Aktionen Jugendlicher (z.B. in Großstädten) über alles hier Bekannte weit hinaus; und als Bilanz der amerikanischen Politik bleibt insoweit vorerst noch abzuwarten, ob nicht vor allem mit einer Praxis der radikalen Inhaftierung die Probleme nur zeitlich verlagert, wenn nicht gar gesteigert werden.

Die Bilanz der kriminologischen Forschung ist eine andere: Etwa mit Beginn des dritten Lebensjahrzehnts nimmt die Kriminalitätsbelastung kontinuierlich wieder ab. Auch das ist zwar eine Feststellung mit langer Tradition, sie gewinnt jedoch besondere Bedeutung, wenn sie sich auch in Zeiten des Anstiegs von Delikten im Jugendlichenalter bewahrheitet. Wäre dem nicht so, müßten ganze Lawinen von Straffälligen in späteren Lebensaltern die Strafjustiz erdrücken.

Entsprechendes gilt auch für den Anstieg von Gewaltdelikten junger Menschen. Zwar wird das Phänomen einer „neuen Jugendgewalt“ häufig berufen, ggf. in Verbindung mit der Annahme einer brutalisierten jungen Generation. Indessen fehlen für eine solche neue Qualität bisher die empirischen, einer Verallgemeinerung fähigen Beweise. Vielmehr stützt jene Annahme sich auf die Schilderung von Einzelfällen, bei denen die Art und Weise der ausagierten Gewalt sich entweder plausibel als (oft nur allzu früh) gelerntes und den Erwachsenen nachgeahmtes Verhalten darstellt oder aber (wie schon immer) auf gravierende, oft genug sehr frühe psychische Schädigungen hinweist.

Bekanntlich befindet sich in der Gruppe von jungen Straffälligen von Generation zu Generation eine kleine Untergruppe von um die 10%, die im Laufe der Zeit eine sogenannte kriminelle Karriere einschlagen, indem sie immer wieder rückfällig werden und sich in z.T. gravierende Delikte verstricken. Diese „Intensivtäter“ früh identifizieren zu können, wäre ein erheblicher kriminalpolitischer Fortschritt, und entsprechende Anstrengungen kriminologischer Forschung waren und sind international verbreitet. Dennoch gibt es für eine derartige Frühprognose (bisher) noch keine verläßliche Methode. Deshalb würde, wollte man aus Sicherheitsgründen die einer solchen Entwicklung auch nur Verdächtigen vorsichtshalber erst einmal einsperren, gerade der Sicherheit damit nicht gedient. Denn die von einer solchen Maßnahme unbegründet Betroffenen würden am Ende und aufgrund derselben erst in eine solche Karriere gedrängt.

Der hiermit angesprochene Mechanismus ist den meisten Bürgern aus Redensarten wie „Gefängnisse als Hochschulen des Verbrechens“ vertraut. Was daran richtig ist und wieviel davon Übertreibung, steht hier nicht zur Debatte. Denn allein schon die Jedermanns- und Jederfrau-Alltagserfahrungen mit jungen Menschen lassen es ratsam erscheinen, mit Freiheitsentzug als Sanktion gegen junge Straftäter so sparsam wie möglich umzugehen; ist uns doch allen nur allzu vertraut, wie unvergleichlich wichtig für diese Altersgruppe die körperliche Bewegungsfreiheit als solche ist, weshalb auch nur wenig Phantasie nötig ist um sich auszumalen, welche und wie viele Aggressionen jede Einsperrung hier schon von vornherein auslösen muß. Zu den wenigen international übereinstimmend bejahten Grundsätzen der Kriminalpolitik gehört deshalb der, den Freiheitsentzug gegenüber jungen Straftätern auf das Mittel der letzten Wahl und „äußersten“ Lösung zu reduzieren.

Aus alledem folgt – auch das ist keine neue Erkenntnis –, daß kriminalpolitisches Handeln sich nur partiell auf wirklich „harte“ Fakten stützen kann und sich weithin unter Bedingungen relativen Nicht-Wissens vollzieht. Das erschwert es, und zwar dem Gesetzgeber allen voran, mit solchem Handeln dem zuvor genannten Rationalitätsanspruch wirklich gerecht zu werden. Das Wunschbild von einst, wonach die empirische Wissenschaft nur die nötigen Daten über die (Täter und Opfer betreffenden) Zusammenhänge zu unterbreiten brauche, um damit zugleich die Richtung und die Instrumente der nötigen Gegensteuerung vorzugeben, hat sich längst aufgelöst in den immer schnelleren und immer komplexeren gesellschaftlichen Veränderungen von Modernisierung und Globalisierung; deren Schattenseiten ingestalt von Armutsentwicklung, Arbeits- und Perspektivlosigkeit gefährden bekanntlich junge Menschen besonders und belasten die Klientel der Jugendgerichtsbarkeit erst recht.

Die einzige Konsequenz daraus kann nur lauten: Verantwortliche Jugendkriminalpolitik muß vor allem behutsame Kriminalpolitik sein!

Hieraus wiederum folgt nahezu zwingend das Postulat, die gesetzlichen Vorgaben für die Jugendgerichtsbarkeit derzeit nicht zu verändern. Das geltende Jugendstrafrecht hat dem Erwachsenenstrafrecht vor allem zweierlei voraus: Vielfalt des möglichen Reagierens und Flexibilität der Prozeduren. Mit beidem steht ein Instrumentarium zur Verfügung, das es erlaubt, den Verhältnissen, Bedürfnissen und „Lagen“ der 14 bis 21jährigen, die strafrechtlich auffallen, mit einem hohen Grad an Individualisierung (im Wortsinn:) gerecht zu werden. Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte, Jugendgerichts- und Jugendbewährungshelfer haben es im letzten Jahrzehnt immer besser verstanden, dieses Instrumentarium genau in diesem Sinne zu nutzen. Sie – die Praktiker – waren es auch, die in den Jahren 1993/94 durch ihre einhellige Ablehnung der damaligen Pläne gesetzlicher Veränderungen eine Verarmung an Vielfalt und Flexibilität verhindert haben.

Noch konkreter bedeutet dies, daß sowohl die Strafmündigkeitsgrenze von 14 Jahren beizubehalten als auch die Regelungen des Heranwachsendenstrafrechts in ihrem heutigen Zuschnitt zu erhalten sind. Das vollendete 14. Lebensjahr stellt die international verbreitetste Altersmarke für den Eintritt von Verantwortlichkeit dar, deren Verschiebung sich nicht einfach dekretieren läßt, ohne zugleich ganz erhebliche Folge-Änderungen im gesamten System des Jugendgerichtsgesetzes auszulösen. Die geltenden Regelungen für die 18- bis 20jährigen ermöglichen eine nach Tat, Entwicklungsstand und Reaktion austarierte Antwort auf die Delinquenz Heranwachsender und haben sich eben deshalb praktisch bewährt. Die Jugendstrafanstalten schließlich, als Orte des „letzten Mittels“, arbeiten mit hohem Einsatz auf die Wiedereingliederung ihrer Insassen hin; sie dürfen nicht – und sei es auch nur wegen Überfüllung – zu Sicherungsinstitutionen denaturieren.

Wehret den Anfängen!

August 1998

Zur Erklärung über die Gegenreform im Jugend­s­traf­recht

Mit der hier veröfffentlichten Erklärung haben insgesamt 52 Jugendstrafrechtsprofessoren und Kriminologen in der Bundesrepublik Deutschland Stellung gegen eine Verschärfung des Jugendstrafrechts bezogen (vgl. Namensliste am Schluß des Artikels). Dies ist die ganz eindeutige Mehrheit in diesem Wissenschaftsbereich.
„Auf die Beine gestellt“ wurde die Resolution von dem Leiter der Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Prof. Dr. Heribert Ostendorf (von 1989 bis 1997 Generalstaatsanwalt in Schleswig-Holstein).

Zusammengefaßt sprechen sich die deutschen Jugendstrafrechtsprofessoren und Kriminologen aus:

gegen
· eine Dramatisierung der Sicherheitslage,
· eine Herabsetzung des Strafbarkeitsalters,
· eine pauschale Verurteilung von Heranwachsenden · · als Erwachsene,
· eine allgemeine Verschärfung des Jugendstrafrechts,

für
· eine differenzierende Behandlung jugendlicher/ heranwachsender Straftäter entsprechend ihrer Verantwortungsreife;
· eine ursachenbezogene strafjustizielle Reaktion, die unterscheidet zwischen Entwicklungstätern und gefährdeten Intensivtätern;
· einen Vorrang ambulanter erzieherischer Maßnahmen, vor freiheitsentziehenden repressiven Sanktionen,
· eine behutsame Kriminalpolitik.

Diese Unterschriftenaktion ist in der deutschen Strafrechtsgeschichte bislang einmalig. Damit bezieht die Wissenschaft Position: Professor = Bekenner. Wissenschaft muß sich zu ihren Erkenntnissen bekennen, auch wenn gerade diese dem Zeitgeist zuwiderlaufen. Wenn wir krank sind, verlassen wir uns nicht auf Quacksalber sondern gehen zum Fachmann, zum Arzt; wenn die Gesellschaft am Verbrechen leidet, muß sie auch auf den Fachmann hören und darf sich nicht auf Kurpfuscher verlassen.

Unterzeichnende:
Prof. Dr. J. Baumann, Tübingen; Prof. Dr. A. Böhm, Mainz; Prof. Dr. L. Böllinger, Bremen; Prof. Dr. B. Burkhardt, Mannheim; Prof. Dr. H. Colla-Müller, Lüneburg; Prof. Dr. D. Dölling, Heidelberg; Prof. Dr. R. Egg, Wiesbaden; Prof. Dr. D. Fabricius, Frankfurt/Main; Prof. Dr. J. Feest, Bremen; Prof. Dr. Th. Feltes, Villingen-Schwenningen; Priv.Doz. Dr. W. Feuerhelm, Regensburg; Prof. Dr. D. Frehsee, Bielefeld; Prof. Dr. M. Frommel, Kiel; Prof. Dr. H. Giehring, Hamburg; Prof. Dr. G. Grünwald, Bonn; Prof. Dr. B. Haffke, Passau; Prof. Dr. W. Heinz, Konstanz; Prof. Dr. W. Heitmeyer, Bielefeld; Dr. R. Herz, Köln; Prof. Dr. J.-M. Jehle, Göttingen; Prof. Dr. H. Jung, Saarbrücken; Prof. Dr. H.-J. Kerner, Tübingen; Prof. Dr. D. Krauß, Berlin; Prof. Dr. A. Kreuzer, Gießen; Prof. Dr. H.-H. Kühne, Trier; Prof. Dr. R. Lempp, Stuttgart; Prof. Dr. K. Lüderssen, Frankfurt/Main; Prof. Dr. E. Müller, Saarbrücken; Prof. Dr. S. Müller, Tübingen; Prof. Dr. H. Müller-Dietz, Saarbrücken; Prof. Dr. C. Nestler, Köln; Prof. Dr. R. Northoff, Neubrandenburg; Prof. Dr. H. Ostendorf, Kiel; Prof. Dr. Chr. Pfeiffer, Hannover; Prof. Dr. J. Plewig, Lüneburg; Prof. Dr. L. Pongratz, Hamburg; Prof. Dr. C. Prittwitz, Rostock; Prof. Dr. C. Roxin, München; Prof. Dr. F. Sack, Hamburg; Prof. Dr. K. Sessar, Hamburg; Prof. Dr. B.-R. Sonnen, Hamburg; Prof. Dr. U. Schroth, München; Prof. Dr. H. Schüler-Springorum, München; Prof. Dr. K.-F. Schumann, Bremen; Prof. Dr. H. Steinert, Frankfurt/Main; Prof. Dr. F. Streng, Erlangen; Prof. Dr. Th. Trenczek, Jena; Prof. Dr. M. Walter, Köln; Prof. Dr. Th. Weigend, Köln; Prof. Dr. E. Weßlau, Bremen; Prof. Dr. G. Wolfslast, Rostock.

Stand: August 1998

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