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Nicht so wörtlich?

Buchbesprechungen

Mitteilungen Nr. 163, S. 88

Reiner Engelmann und Urs M. Fiechtner (Hg.): Frei und gleich geboren. Ein Menschenrechte-Lesebuch., CH-Aarau: Sauerländer Verlag 1998, ISBN 3-7941-4343-4, 287 Seiten, 36,– DM

Der 50. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte geht auch an dem Buchmarkt nicht spurlos vorbei. Einige bemerkenswerte Neuerscheinungen sind auch dabei. So zum Beispiel ein „Menschrechte-Lesebuch“, das Till Müller-Heidelberg Ende März in Bingen vorstellte (Rede leicht gekürzt):

[…] Immer wieder haben Menschen und Staaten sich zu den unverbrüchlichen Menschenrechten bekannt – und sie doch immer wieder gebrochen, so dass der Kampf nie zu Ende geht, sich nie erübrigt. Die […] Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948, die in dichterisch gestalteter Form von Urs M. Fiechtner den Anfang und Ausgangspunkt des vorzustellenden Buches darstellt, ist nicht der Abschluss der Entwicklung. Ein Jahr später folgt das Grundgesetz mit seinem Grundrechtekatalog und dem Artikel 1: „Die Würde des Menschen inst unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Der Europarat verabschiedet am 4. November 1950 die Straßburger Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, und 1969 folgen die Pakte der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche und kulturelle Rechte.
Und gegenwärtig wird in der Europäischen Union gerungen um eine europäische Verfassung, um einen Grundrechts- und Menschenrechtskatalog.
Trotz dieser Vielzahl von Menschenrechtsverbriefungen berichtet Thorsten Urhahn in seinem Beitrag, dass bei ca. 180 UNO-Mitgliedsstaaten der Jahresbericht 1997 von Amnesty International über Menschenrechtsverletzungen aus 152 Staaten zu klagen hat, über Inhaftierung von gewaltlosen politischen Gefangenen in 94 Staaten, über Folter und Misshandlungen in 124 Staaten. Warum? In einem faszinierenden 2-Personen-Bühnenstück zu Anfang und als Grundlage des Menschenrechte-Lesebuchs lässt Urs M. Fiechtner einen Menschen die UNO-Menschenrechtserklärung vorlesen in Gegenwart eines Lautsprechers, Symbol des anonymen Staates. Nachdem der Mensch die Präambel verlesen hat, mischt sich der Lautsprecher mit der Frage ein, was er da eigentlich tue.
„Mensch: Ich lese aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vor. Vom 10. Dezember 1948. Aus der Präambel.
Lautsprecher: Und habe ich das denn erlaubt?
Mensch: Sie haben sie unterschrieben.
Lautsprecher: Im Ernst?
Mensch: Das weiss ich nicht. Aber sie haben unterschrieben.“
Und nachdem so die gesamte Menschenrechtserklärung im Zwiegespräch vorgeführt worden ist, gibt der Lautsprecher, unsere Staatengemeinschaft, seinen Schlusskommentar:
„[…] Wenn es nicht anders geht, gebe ich auch zu, dass ich – in einem schweren Augenblick – dies alles unterschreiben musste. Aber es ist nicht wörtlich zu verstehen. Du hast es selbst gesagt: Hier geht es nur um ein Ideal. Um dein Ideal. Dem mag man folgen oder nicht. Ich mag es nicht und bin zu mehr als ein paar Kompromissen nicht bereit. Ich weiche nur dem Druck, nicht der Vernunft. Was immer Du von mir verlangst, Du musst es Dir schon selber holen.
[…] Ich werde immer nützliche Idioten finden, die meiner Fahne folgen und mir blind gehorsam sind und die, wo der Befehl allein nicht hilft, bereit sind, blindlings zuzuschlagen, um mir Gehorsam zu erzwingen.
Doch Du – wieviele wirst Du finden, die ihre Angst beherrschen, um nicht von ihr beherrscht zu werden?“
In acht Kapiteln berichtet das Buch über verschiedene Aspekte der Menschenrechtsverletzungen: Politische Gefangenschaft, Folter, Todesstrafe, die Rechte der Kinder, Verschleppt und Verschwunden, Diskriminierung und Vorurteile, auf der Flucht, Umgang mit den Tätern. […]
In seinem Bericht über das Verschwindenlassen von politischen Gegnern unter der Militärdiktatur in Argentinien schreibt Osvaldo Bayer im Menschenrechte-Lesebuch: „Als Verbrechen gegen die Menschenrechte gelten eben nur solche, die weit draussen vor den Landesgrenzen in fremden Regionen verübt werden.“ Der Menschenrechtsbericht der Bundesregierung befasst sich nur mit Menschenrechtsverletzungen weltweit. Der Menschenrechtsausschuss des Bundestages ist ein Unterausschuss des Auswärtigen Ausschusses. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung ist der Staatssekretär Schäfer im Aussenministerium. Dass es auch Menschenrechtsverletzungen in der Bundesrepublik Deutschland geben könnte, kommt in der Bundesregierung nicht vor. Das vorzustellende Buch macht deutlich, dass es so einfach nicht ist.
[…] Wenn ich sage, dass bei aller Bedrückung dieses Buch doch gleichzeitig auch aufmunternd ist, dann mag als Beleg dafür ein Zitat stehen, welches das Buch beendet und von Vaclav Havel stammt, dem Gründer der Charta 77, der Bürgerrechtsbewegung in der Tschecheslowakei und deren heutiger Präsident. Ein Zitat, welches für alle Bürgerrechtler, Menschenrechtskämpfer gilt, welches uns im täglich frustrierenden und immer wieder vergeblichen Kampf für die Einhaltung der Bürger- und Menschenrechte aufrecht erhält.
„Wer behauptet, ich sei ein Schwärmer, der die Erde in ein Paradies verwandeln wolle, hat nicht Recht. Nur wenige haben so wenige Illusionen wie ich. Ich spüre nur die Verantwortung, mich für das einzusetzen, was ich für gut und richtig halte. Ob es mir hin und wieder gelingt, tatsächlich etwas zum Besseren zu wenden, oder ob es mir überhaupt nicht gelingt, etwas zu verändern, das weiss ich selbstverständlich nicht. Ich lasse beide Möglichkeiten zu.
Ich lasse nur eines nicht zu: Dass es grundsätzlich keinen Sinn mache, das Gute anzustreben.“

Till Müller-Heidelberg

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