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Auf neuen Pfaden - Humanisten auf der Suche nach tragfähigen Konzepten

Mitteilungen16412/1998Seite 107-109

Mitteilungen Nr. 164, S. 107-109

Humanistischer Verband Deutschlands (HVD) – die verwandte Bezeichnung läßt auf Berührungspunkte zur Humanistischen Union schließen: Tatsächlich gibt es Kontakte, sei dies in Anhörungen zum Ethikunterricht, gemeinsamen Veranstaltungen oder auch über paralleles Engagement einiger HumanistInnen in beiden Vereinigungen, wie beispielsweise durch unser im März 1998 verstorbenes Gründungs- und Beiratsmitglied Prof. Dr. Ossip K. Flechtheim. Im folgenden dokumentieren wir eine Selbstdarstellung des HVD aus der Feder des Berliner Landesvorsitzenden und zugleich verantwortlichen Redakteurs der humanistischen Zeitschrift „diesseits“, Christian John.
Die Redaktion

Freigeistige und freidenkerische Organisationen haben sich in Deutschland zu lange ausschließlich als intellektuelle Bewegungen verstanden – es gab nur wenig Humanismus der unmittelbaren sozialen Tat. Seit gut fünf Jahren gibt es den Versuch, es besser zu machen: Geistige Orientierung und Diskurs, dies in Verbindung mit sozialen Dienstleistungen und praktischer Lebenshilfe – dies ist der konzeptionelle Ansatz des 1993 neugegründeten Humanistischen Verbandes.
Ins Leben riefen den Humanistischen Verband westdeutsche Traditionsverbände wie die Freigeistige Landesgemeinschaft Nordrhein-Westfalen (1859). Aus Ostdeutschland waren die Freien Humanisten Sachsen-Anhalt (1990), der Interessenverband der Konfessionslosen in Brandenburg (1991) mit von der Partie sowie der Berliner Landesverband des Deutschen Freidenker-Verbandes (Sitz Berlin), der auf das Jahr 1905 zurückgeht. Später schloß sich auch der Bund für Geistesfreiheit in Nürnberg (1848) an. Kleinere Landesverbände als Neugründungen gibt es inzwischen in Baden-Württemberg, Hamburg, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Für die neue bundesweite Organisation galt es einen Namen zu finden, mit dem sich alle identifizieren konnten. Der Blick über deutsche Grenzen brachte die Lösung: Im internationalen Maßstab beschreiben viele Konfessionslosenverbände ihre Sicht auf die Welt als „humanistische Lebensauffassung“. Viele englischsprachige Nachschlagewerke und philosophische Wörterbücher definieren Humanismus per se als nicht-religiöse Lebensauffassung. Bei uns in Deutschland ist dies anders – noch.

Niederlande und Norwegen als Modell

Pate für die neue Entwicklung stand der Humanistische Verband der Niederlande, der mit vielen Angeboten für konfessionslose Menschen eine Breite erreicht hat, von der deutsche Humanisten nur träumen können. Ähnliches gilt für die norwegischen Humanisten. Wie die Niederländer bieten sie seit Jahrzehnten den Menschen nicht nur „geistiges Futter“ an, sondern praktische Lebenshilfe. In Deutschland setzte der Prozeß des Nachdenkens darüber, wie man „real existierende Konfessionslose“ anspricht, erst sehr spät ein. Als Entschuldigung dafür mag gelten, daß sich Freidenker und Freireligiöse in der Nachkriegszeit niemals von ihrer brutalen Zerschlagung durch die Nationalsozialisten erholten. In der sowjetisch besetzten Zone und später in der DDR wurde die Gründung von Freidenker-Organisationen bis 1989 gar nicht erst zugelassen. Es gab zwar Freireligiöse, so in Leipzig und Magdeburg, die allerdings ein eher kümmerliches Dasein fristeten. Im Westen hängt der relative Mißerfolg sicher damit zusammmen, daß die Kirchen als Gegenpol längst nicht mehr so ein dankbares Feindbild abgaben, aber auch die Verweltlichung der Gesellschaft voranschritt. In den fünfziger und sechziger Jahren zeigte sich zudem, wie sehr die Freidenker Kind eines bestimmten Milieus innerhalb der Arbeiterschaft waren. Während die Sozialdemokraten 1959 mit ihrem „Godesberger Programm“ der Auflösung des Arbeitermilieus und damit neuen gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung zu tragen versuchten, gab es vergleichbare strategische Diskussionen in humanistischen Kreisen nicht. Man dümpelte vor sich hin, tat vorsichtshalber nichts und beklagte die stetig nachlassende Resonanz. Erst Anfang der achtziger Jahre begannen erste Diskussionen: Welche Funktionen und Aufgaben müßte unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen ein Verband für Konfessionslose übernehmen? Was wäre sein ideologischer Standort? Die Debatte mündete letztendlich in die Gründung des Humanistischen Verbandes. Der Humanistische Verband setzt als einzige Organisation in Deutschland die lebenslaufbezogene Feierkultur der Freidenker und Freireligiösen breit fort. An seinen Jugendfeiern nehmen bundesweit fast 11.000 Jugendliche teil, nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch im tiefen Westen in Städten wie Dortmund, Wuppertal oder Nürnberg. Vom Traditionsbegriff der Jugendweihe haben die Humanisten sich allerdings bereits 1989 verabschiedet. Nicht etwa, um sich von dem abzugrenzen, was unter diesem Namen in der DDR stattfand. Man fand einfach den Begriff der Weihe sprachlich antiquiert, meinte auch, er habe zu starke religiöse Anklänge. Jugendliche feiern mit Unterstützung der Humanisten die Tatsache, daß sie erwachsen werden – deshalb also Jugendfeier.

Anknüpfen an alte Traditionen

Das zweite Standbein der Freidenker und Freireligiösen neben der Jugendweihe war stets das Bestattungswesen. Sie unterhielten Unterstützungskassen für den Todesfall und machten in Deutschland die Feuerbestattung populär. Diese hat heutzutage ihren spezifisch freidenkerischen Charakter verloren. Im Bestattungswesen konnten die Freidenker in den fünziger und sechziger Jahren an alte Traditionen auch deshalb nicht anknüpfen, weil das von den Nationalsozialisten beschlagnahmte Versicherungsvermögen aus politischen Gründen nicht erstattet oder rückübertragen wurde. Viele Arbeitergroschen landeten über die „Deutsche Bestattungskasse“ der NS-Zeit schließlich bei der Versicherungsgesellschaft „Ideal“. Die nordrhein-westfälischen Humanisten haben eine ganze Reihe von Trauerrednern, ebenso die freien Humanisten Niedersachsen. In Berlin konzentrieren sich die Humanisten auf Bereiche wie Selbsthilfegruppen für trauernde Angehörige und geistigen Beistand für schwerkranke Patienten. Übergreifendes Ziel der Humanisten ist es, Menschen zu einem würdigen und selbstbestimmten Lebensende zu verhelfen. Ein wichtiges Instrument sind dabei indviduelle Patientenverfügungen, bei deren Abfassung geholfen wird. Patientenverfügungen sind eine attraktive Dienstleistung, über die inzwischen zahlreiche neue Mitglieder (in Berlin jährlich rund 150) zum Humanistischen Verband finden.

Humanis­ti­scher Verband als Sammel­be­cken

Der Humanistische Verband wird in den nächsten Jahren immer mehr zum Sammelbecken aller weltlich-humanistischen Kräfte in Deutschland werden. Die Mitglieder anderer freigeistiger Verbände blicken mit Interesse auf die Entwicklung, die der Verband seit seiner Gründung vor fünf Jahren nimmt. Er ist zwar mit seinen bundesweit 10.000 Mitgliedern immer noch sehr klein, weist im Gegensatz zu allen anderen freigeistigen Verbänden aber eine positive Dynamik auf. Immerhin ist es in fünf Jahren gelungen, ein kleines Netz von Projekten und humanistischen Serviceleistungen aufzubauen. Über 600 hauptamtliche Mitarbeiter sind inzwischen bundesweit für den Humanistischen Verband in sozialen Projekten, in Beratungsstellen, in Kindertagesstätten oder in Berlin als Lebenskundelehrer tätig. Mittelfristig kann der Verband auf die vielen Konfessionslosen setzen, die seine Dienstleistungen in Anspruch nehmen: in sozialen Projekten, in Beratungs- oder Betreuungseinrichtungen. Immer mehr Menschen wissen die lebenslaufbezogene Begleitung durch die Humanisten zu schätzen und sind dankbar für Orientierungshilfe oder den Diskurs über ethische Fragen. Wenn es gelingt, auch nur einen kleinen Teil derjenigen organisatorisch zu binden, die schon heute kommen, dann muß einem um die Zukunft der bereits existierenden Gruppen und Verbände nicht bange sein. Mittel- und langfristig muß der Humanistische Verband die schwierige Aufgabe meistern, Menschen von seiner Sache zu überzeugen, die bisher noch keinen Kontakt mit ihm haben. Um dies zu erreichen, muß all das abgelegt werden, was dem Humanistischen Verband noch Sektiererisches anhaftet. Noch sträuben sich manche gegen weltanschauliche und politische Breite und fühlen sich in einem Nischendasein recht wohl. Oft verbindet sich eine solche Haltung mit einer distanzierten Sicht auf unseren Staat. Dabei ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer Staat, ein Staat, mit dem Humanisten sich identifizieren können. Die Zeiten des Bündnisses Thron und Altar sind längst vorbei. Humanisten müssen heute notwendigerweise aus ihren Grundsätzen andere Entscheidungen ableiten als vor 10 oder 20 Jahren. Humanisten begehen einen schweren Fehler, wenn sie sich in fundamentalistischen Posen verkrampfen und jegliche Kooperation mit dem Staat ablehnen. Speziell die Berliner Humanisten haben in den vergangen Jahren de facto begonnen, das Verhältnis von Staat auf der einen und Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften auf der anderen Seite durch ihre Praxis neu zu bestimmen. Sie bieten nunmehr seit 1982 gleichberechtigt neben den Kirchen ihren humanistischen Unterricht Lebenskunde in der Berliner Schule an. Das Fach erfreut sich in Berlin einer enormen Nachfrage. Mittlerweile nehmen an dem freiwilligen Unterricht über 20.000 Berliner Schüler teil. Über 350 speziell ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer unterrichten das Fach. Ein Drittel der Lehrkräfte ist direkt beim Humanistischen Verband beschäftigt. Eltern wünschen ganz offentsichtlich eine lebenspraktische, an humanistischen Werten ausgerichtete Moralerziehung für ihre Kinder. Es gibt in Berlin eine Gesetzeslage, die von der anderer Bundesländer abweicht und die es Humanisten erleichtert, in der staatlichen Schule zu arbeiten. Religions- und Weltanschauungsunterricht findet zwar in staatlichen Schulen Zeit und Raum, ist aber ein freiwilliger Unterricht. Den inhaltlichen Rahmen setzt für seinen Unterricht der jeweilige Träger, der auch die Dienst- und Fachaufsicht über die Lehrkräfte hat. Ein großer Vorteil ist, daß der Staat 90 Prozent der Personalkosten trägt.

Kirchen und Staat

Dies alles sind Vorgaben, die auch jemand akzeptieren kann, der sich eine deutliche Trennung von Staat und Kirche wünscht. Insofern ist das Berliner Modell eines, für das sich Humanisten bundesweit stark machen sollten. Humanisten sollten in Zukunft deutlich sagen: Trennung von Staat und Kirche heißt, daß bestimmte gesellschaftliche Aufgaben von den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften eigenverantwortlich und im wesentlichen ohne staatliche Einmischung wahrgenommen werden. Zum Beispiel in der Schule oder auf dem weiten Feld der sozialen Arbeit. Pflicht des Staates ist es, ein weltanschauliches pluralistisches Konzept zu verfolgen und einen Alleinvertretungsanspruch der Großkirchen zurückzuweisen. Gesamtgesellschaftlich ist der Humanistische Verband noch immer ein „Schmuddelkind“. Trotz aller Erfolge und Fortschritte spielen Humanisten in der Zweiten Liga. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, gelingt es bisher fast gar nicht, Politiker oder prominente Künstler, Wissenschaftler, Spitzenmanager, Journalisten und Sportler an den Humanistischen Verband zu binden. Noch wird eine Mitgliedschaft von vielen nicht als opportun empfunden, selbst dann nicht, wenn sie mit Kirche und Religion nichts verbindet. Vielfach sieht man den Humanistischen Verband – nicht ganz zu unrecht – als eine kleine Glaubensgemeinschaft von lauter Überzeugungstätern an, als eine Art Ersatzkirche für Atheisten. Bezeichnend ist der Steckbrief, den eine Studie vom typischen Konfessionslosen zeichnet: Der ist jung und ledig, lebt in der Großstadt, hat einen hohen Bildungsstand und arbeitet in qualifizierter Stellung. Inwieweit deckt sich dieses Bild mit der Mitgliederzusammensetzung des Humanistischen Verbandes? Die Antwort lautet: kaum. Hier hilft Public Relation allerdings nur begrenzt weiter. Es geht nicht um die gefällige Verpackung des Produkts Humanistischer Verband. Profilierung allein über Religionskritik reicht nicht aus. Der Diskurs über humanistischen Lebensstil, über Formen humanistischer Lebens- und Orientierungshilfe ist mindestens ebenso wichtig. Letztlich muß der Begriff Humanismus besser ausgefüllt werden. Die Nagelprobe dafür, inwieweit dies gelingt, wird die geplante Überarbeitung des „Humanistischen Selbstverständnisses“ werden. Die Zeit in Deutschland ist längst reif für ein „Humanistisches Manifest“.

Christian John

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