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Bericht vom HU-Ver­bandstag 1998 in Berlin

Mitteilungen16412/1998Seite 98-99

Mitteilungen Nr. 164, S. 98-99

Der diesjährige Verbandstag vom 2. – 4. Oktober wurde am Freitagabend mit einer Schifffahrt um die Berliner City eröffnet. Bei diesem Wiedersehen kamen die Gespräche mit alten und neuen Bekannten nicht zu kurz. Sehr schön war u.a. das Feuerwerk am neuen Potsdamer Platz. Der „eigentliche“ Verbandstag begann tags darauf im Haus der Demokratie mit der Abstimmung der inhaltlichen Tagesordnung.

1. Bundeswehr und Kosovo-Konflikt
2. Innere Sicherheit
3. Trennung Staat – Kirche
4. Strafverfolgung durch Hoheitsträger –
4. Berufsverbote in Ostdeutschland
5. 50 Jahre Grundgesetz: offene Bürgerrechte
6. Volksentscheid
7. Ausländerrechte
8. Braunkohleabbau Garzweiler
9. Kultursteuer (vgl. Antrag zur DK 1997)

Im Mittelpunkt des Interesses stand auch die Diskussion zur Reform der HU-Satzung auf der Grundlage eines von Jürgen Roth ausgearbeiteten Vorschlagspapiers. Wegen der besonderen Bedeutung der Satzungsdiskussion und als Info zu den Vorschlägen wird auf die im Anschluß an diesen Verbandstags-Bericht veröffentlichte Zusammenfassung verwiesen. Zu den weiteren Themen des Verbandstags:

1.
Bundeswehr und Kosovo-Konflikt. Zu diesem Punkt verabschiedeten die Teilnehmenden am Sonntag eine Resolution in Form eines offenen Briefes an die Mitglieder des SPD-Parteirates, dessen Wortlaut das Diskussionsergebnis wiedergibt:

Sehr geehrte Damen und Herren,

der Verbandstag der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union hat sich am 4. Oktober in Berlin mit der aktuellen Situation im Kosovo befaßt und appelliert an den am 5. Oktober in Bonn tagenden Parteirat der SPD mit einem offenen Brief:
Die Humanistische Union wendet sich dagegen, auf aktuelle Menschenrechtsverletzungen im Kosovo durch militärische Schläge ohne UNO-Mandat zu reagieren. Im Namen der humanitären
Verantwortung darf die NATO nicht die eigene Bindung an Humanität und Völkerrecht außer Kraft setzen. Insbesondere darf die Ausübung des Vetorechts im Sicherheitsrat nicht im Fall Kosovo als Mißbrauch, in den Fällen Palästina und Kurdistan dagegen als problemlos bewertet werden.
Wer sich für Tornado-Kampfeinsätze auf die Gefühle „jedes anständig denkenden Menschen“ (Günter Verheugen im WDR-Interview v. 30.09.1998) beruft, übersieht, daß solche Gedanken an einen „gerechten Krieg“ immer wieder zu Grausamkeiten, Tod und Leid unbeteiligter Zivilisten, Frauen und Kinder geführt haben. Geeignetere Mittel zur Befriedung und Trennung der Konfliktparteien sind Einsätze wie SFOR in Bosnien, Waffenembargo und Wirtschaftssanktionen.
HU, gez. Dr. Till Müller-Heidelberg, Bundesvorsitzender

2.
Innere Sicherheit. Die Debatte drehte sich zunächst um die programmatischen Aussagen der Parteien zu diesem wahlkampfbestimmenden Politikfeld (Stichwort ‘Instrumentalisierung von Kriminalität‘). Eine rege Diskussion entwickelte sich zu der aus Sicht unserer Nicht-Regierungsorganisation neuartigen Tatsache, daß gleich mehrere Mitglieder der HU und des Beirats an den laufenden Koalitionsverhandungen teilnehmen und voraussichtlich zu zentralen Akteuren der kommenden Regierung werden könnten. In diesem Zusammenhang wurden mögliche Interessenkonflikte zur beratenden Funktion eines Beiratsmitglieds diskutiert: Eine förmliche Sanktionsmöglichkeit gegenüber Beiratsmitgliedern wird von der Satzung keinem Vereinsorgan ausdrücklich zugebilligt. Auch wenn eine solche Entscheidung im Verantwortungsbereich des Bundesvorstands gesehen wird, wäre eine entsprechende Parteinahme wohl auch wenig förderlich für die Arbeit der HU, zumalen diese satzungsgemäß keine parteipolitischen Ziele verfolgt Dem Vorstand wurde von Teilnehmenden des Verbandstags empfohlen, sich in solchen Fällen mit besonders exponierten Regierungsmitgliedern ins Benehmen zu setzen, ob ein Verbleiben im Beirat sinnvoll und gewünscht ist oder die Mitgliedschaft im Beirat beispielsweise ruhen solle. Besprochen wurde auch die eher technische Seite der Problematik (Aktualisierungen des Briefkopfs).
Übrigens: Die Bundesgeschäftsstelle stellt für Orts- und Landesverbände gerne eine Kopiervorlage des Briefkopfs oder aktualisierte Druck-Dateien bereit.

3.
Trennung Staat – Kirche. Der Arbeitskreis Staat – Religion – Weltanschauung informierte zu seiner Arbeit, u.a. zum Thema „Missionierung in den Neueren Bundesländern“ (Bundeswehr, Kirchen-Arbeitsrecht), sowie dem Themenkomplex: LER-Unterricht und Pflichtfach ‘Ethik‘ in Brandenburg bzw. ‘praktische Philosophie‘ in NRW, dem Urteil des BVerwG vom 17.06.1998 (Fam. Neumann gg. Land Baden-Württemberg) sowie dem Abschlußbericht der Bundestags-Enquête „sog. Sekten und Psychogruppen“. Zum Tendenzschutz im Kirchen-Arbeitsrecht verabschiedeten die Anwesenden dann am Sonntag eine Resolution in Form einer Pressemitteilung (Wortlaut s. unter Pressemitteilungen).

4.
Strafverfolgung durch Hoheitsträger – Berufsverbote in Ostdeutschland. In der Debatte hierzu informierte u.a. Rosemarie Will zum ‘Rentenstrafrecht‘ in Ostdeutschland. Hierzu wird für November eine höchstrichterliche Entscheidung erwartet. Erich Küchenhoff erläuterte die aktuelle Urteilspraxis (u.a. BVerwG 1995 zu Eignungskündigung unter teilw. Übernahme der Extremisten-Rechtsprechung des Jahres 1975). Der Verbandstag beschloß eine Anregung an den Bundesvorstand, dieses Thema zusammen mit weiteren Interessierten zu beraten sowie die Geltung der Berufsverbotspraxis (Extremisten-beschlüsse) in den alten Bundesl@¤ndern kritisch zu hinterfragen.

Die TO-Punkte 5.-9. wurden nur andiskutiert.

Besonders zu erwähnen bleibt das Kulturangebot vom Samstagnachmittag für die Teilnehmenden des Verbandstags: Die gebotenen Sonderführungen „aus erster Hand“ durch das künftige Jüdische Museum sowie durch die Topographie des Terrors fanden großes Interesse und dienten gerade zum Nationalfeiertag als eindrückliche Kontrapunkte zu den ‘offiziellen‘ Jubelfeierlichkeiten. Herzlichen Dank an alle, die dies ermöglicht hatten!
Der öffentliche Vortrag des Kriminologen Prof. Dr. Fritz Sack mit dem Titel „Vom wohltätigen zum strafenden Staat?“ und die anschließende Diskussion zur gesellschaftspolitischen Instrumentalisierung der „Inneren Sicherheit“/ Kriminalität bildeten ein weiteres Hauptthema des Verbandstages. Fritz Sack referierte zum evidenten Paradigmenwechsel und die Wende in der Kriminalpolitik der neunziger Jahre: An die Stelle des Resozialisierungdenkens tritt verstärkt der technische Einsatz repressiver Mittel. Parallel zum festgestellten Wachsen undifferenzierter (erzeugter?) – Bedrohungsgefühle werden die Polizeien gegenüber Staatsanwaltschaften und Gerichten aufgewertet. Dem steht in den meisten Bereichen eine empirisch belegbare jahrelange Stagnation – wo nicht Rückgang – der Kriminalitätsziffern entgegen. Die verstärke Forderung nach Freiheitsstrafen und Herabsetzung der Strafmündigkeit (anstelle von Geld– oder Bewährungsstrafen sowie die Diskussion zur Übernahme der zero-tolerance-Ansätze – der kompromißlosen Verfolgung von Bagatelldelikten – veranschaulicht für Fritz Sack eine Entwicklung analog dem gesellschaftlichen Wandel (Individualisierung): Rückgang der Erwerbsarbeit und zunehmende Ökonomisierung („the rich get richer – the poor get prisoned“) bei institutioneller Verschlankung und Schwächung des Staates. In letzter Konsequenz münde diese Entwicklung in einer Zurechenbarkeit des Verhaltens nach sozialen Kriterien. Zu diesen Thesen fand im Anschluß an den Vortrag eine intensive Diskussion statt.

Resümee: Etliche der zentralen Diskussionsthemen des Verbandstages spiegelten auch die Tagesaktualität im Vorfeld der rot-grünen Koalitionsverhandlungen wieder. Auch die Intensität der Diskussion hierzu zeigte, daß der Zeitpunkt des Verbandstages zwischen Bundestagswahl und den Koalitionsverhandlungen glücklich gewählt war. Last but not least bot der Veranstaltungsort allen Teilnehmern auch die Gelegenheit, die Bundesgeschäftsstelle nach ihrem ersten Jahr an neuem Ort kennenzulernen.

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