Themen / Europa / Internationales

Verfas­sungs­pa­tri­o­tismus *

01. Januar 1999

Mitteilung Nr. 165, S. 05

In der ersten Auflage von Meyers 15-bändigem „Neuen Konversations-Lexikon für alle Stände“ heißt es 1859 zum Stichwort:

Patriotismus, Vaterlandsliebe, und zwar nicht allein die Liebe zu dem Lande und Volke, dem man durch die Geburt angehört, sondern zugleich die Gesinnung, vermöge welcher der Einzelne sein Privatinteresse dem des Ganzen unterzuordnen und aufzuopfern, oder es wenigstens nicht im Widerspruche mit Letzterem geltend zu machen sich bewogen findet. […] Schon im Begriffe des Bürgers (Civis) liegt der Begriff des Patrioten […] Naturgemäß beruht der Patriotismus auf der Gemeinschaft des Volkes oder der Nationalität; er gewinnt aber seine volle Bedeutung erst dadurch, daß in der Form des Staates die Gemeinschaft des Volkes sich ausprägt und der Einzelne sich als Mitglied des Staates betrachtet.
Einen umso größeren Spielraum seiner Betätigung findet aber der Patriotismus, je mehr durch die Staatsverfassung dem Einzelnen gestattet ist, an den öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmen. Doch ist die Gesinnung und Pflicht des Patriotismus nicht an eine bestimmte Verfassung gebunden; denn es hat sich gezeigt, daß gerade solche politische Zustände, wo die öffentlichen Angelegenheiten wie Privatsachen der Mächtigen behandelt wurden, den Sinn für das Gemeinwohl, für die Ehre und Selbständigkeit des Volks oft am kräftigsten hervorriefen. Leicht kann der Patriotismus geschwächt werden, wo die Einheit der Nation nicht mit der Einheit des Staates zusammenfällt. […]

In der 17. Auflage des Brockhaus von 1971 wird der Patriotismus als „Voraussetzung jeder Staatlichkeit“ behauptet, „der die gegenseitige Anerkennung und Achtung der Nationen grundsätzlich nicht ausschließt“. Das sicherlich verwandte Nationalbewußtsein soll die Liebe zur Heimat, die Hochschätzung der Kultur und der politischen Einrichtungen sein. Der Patriotismus sei am Staat ausgerichtet, der Nationalismus am Volk (?).
Das menschliche Zusammenleben erfordert Regeln, Institutionen. Deren Respektierung und Beachtung läßt sich aber nicht allein auf die Gesetzeskraft, auf den Zwang/staatliche Gewalt oder auf die Vernunft (Einsicht in die Notwendigkeit) begründen. Jedes staatliche Gemeinwesen bemüht sich und muß sich auch um eine emotionale Zustimmung seiner Bürgerinnen und Bürger bemühen. Dies zeigt sich besonders deutlich im deutschen Wort für Patriotismus, nämlich Vaterlandsliebe.
Dies war früher relativ einfach, solange die Menschen in der Regel dort, wo sie geboren wurden, auch lebten und starben, also in einer wenig mobilen und damit gleichzeit auch relativ homogenen Gesellschaft. Sich der Landschaft und den Menschen verbunden zu fühlen, wo man aufgewachsen ist und lebt, ergibt sich gewissermaßen von selbst. Mit der Mobilität unserer Tage, wo zum einen wir selbst nicht mehr dort leben, wo wir aufgewachsen sind, wo zum anderen umgekehrt auch dort, wo wir (evtl. sogar stationär) leben, viele andere Menschen leben, die nicht aus dieser Gegend heraus geboren sind, entsteht eine heterogene Gesellschaft mit unterschiedlichen regionalen, auch kulturellen Wurzeln und Identitäten und durch Fremdheit (die eigene oder die der anderen) ein gesellschaftliches und emotionales Auseinanderfallen. Hinzu kommen die Erfahrungen dieses Jahrhunderts, daß positiv verstandene Vaterlandsliebe/Patriotismus leicht zu übersteigertem Nationalismus, zu Feindschaft und Kriegen führt, also kein unbestritten positiver Wert mehr ist.
Wo durch Immigrationsbewegungen die Völker durcheinander geworfen werden und wo durch die Entwicklung zur Europäischen Union bewußt im Interesse einer friedlichen Zukunft die Nationalgrenzen überschritten werden sollen und müssen, wird der Begriff des Patriotismus als Vaterlandsliebe zunehmend problematisiert und muß es auch.
Außerdem: Warum soll ich ein deutscher Patriot sein und mich als solcher von dem französischen Patrioten abgrenzen, welchen Grund gibt es dafür, mich nicht eher als Mainzer oder rheinischen Patrioten zu betrachten und vom bayerischen oder preußischen Patrioten abzugrenzen? Warum sollten wir, die wir ganz selbstverständlich im Urlaub ins Ausland fahren oder im Ausland studieren oder im Ausland arbeiten oder umgekehrt bei uns in Deutschland Ausländer im Urlaub erleben oder als Studenten oder als Arbeitnehmer überhaupt einen deutschen Patriotismus für wünschenwert halten und nicht lieber die anderen Gegenden, Völker, Nationalitäten gleichwertig lieben? Ich persönlich jedenfalls empfinde mich auch emotional spätestens seit dem Studium bereits viel eher als Europäer denn als irgendetwas anderes, emfinde aber durchaus gleichzeitig einen gewissen europäischen Patriotismus im Vergleich etwa zu den USA, weil mir die europäische Lebensart, Kultur und Geschichte positiver erscheinen, durchaus auch in der Abgrenzung.
Wenn es aber richtig ist, daß menschliches Zusammenleben in einer staatlichen Einheit zumindest gefördert wird (wenn nicht sogar notwendigerweise voraussetzt), wenn auch eine emotionale Bindung zu bestimmten Werten vorhanden ist, und wenn es gleichzeitig richtig ist, daß ein Patriotismus hergebrachter Prägung an Landschaft und Volk wegen der Gefahr der Übersteigerung nicht wünschenswert und wegen der sich verändernden Lebensverhältnisse auch immer weniger möglich erscheint, so stellt sich die Frage, ob nicht ein Patriotismus anderer Art erstrebenswert sein sollte.
Der Meyer von 1859 hat noch ausdrücklich ausgeführt, daß Patriotismus nicht an eine bestimmte Verfassung gebunden sei – weil er eben nach damaliger Definition bezogen ist auf Land und Volk, auf Kultur und Geschichte und den Staat, repräsentiert durch den Monarchen. Der heutige Staat jedoch wird repräsentiert durch die Verfassung und die in der Verfassung niedergelegten Werte.
Der oberste Wert, obendrein in Artikel 79 Abs. 3 Grundgesetz ausgestattet mit einer Ewigkeitsgarantie, also auch durch verfassungsändernde Mehrheiten nicht abzuschaffen, ist die Menschenwürde, d.h. daß der einzelne Mensch im Mittelpunkt zu stehen hat und nie bloß Objekt des Staates oder staatlicher Regulatorien sein darf. Daraus folgen die weiteren in den folgenden Grundrechten niedergelegten Werte der freien Entfaltung der Persönlichkeit, der Selbstbestimmung jedes Menschen über sich selbst, der daraus sich dann ausprägenden Einzelfreiheiten wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Berufsfreiheit usw. Zu den die Verfassung prägenden Werten gehören sodann genauso (ebenfalls mit der „Ewigkeitsgarantie“ des Artikel 79 Abs. 3 geschützt) die Grundprinzipien des föderalen Aufbaus als Sicherung kultureller und politischer Vielfältigkeit im Gegensatz zum Zentralismus anderer Staaten und der demokratische und soziale Rechtsstaat des Artikel 20 Grundgesetz.
Dies sind Werte, deren Wert zwar den meisten Bürgerinnen und Bürgern nicht bewußt ist und folglich auch nicht erkannt wird, die aber wirklich konstitutiv für unsere Gemeinschaft und unser Zusammenleben sind, und für die es lohnt, sich zu engagieren. Wenn man bewußt macht, wie konstitutiv und unabdingbar diese Werte für ein bürgerschaftliches Leben sind, dann ist es auch möglich, eine emotionale Bindung an diese Werte zu erzeugen. Und wenn es richtig ist, daß aufgrund der gesellschaftlichen, örtlichen und nationalen Mobilität unserer Gesellschaft ein volks- und landesbezogener Patriotismus weder möglich noch wünschenwert ist, wenn es aber ebenfalls richtig ist, daß ein einigendes Band, bezogen auf gemeinsame Werte, sehr wohl wünschenswert ist, dann muß es Ziel sein, einen Patriotismus bezogen auf diese Verfassungswerte zu fördern, um bei aller glücklicherweise bestehenden Unterschiedlichkeit der 80 Millionen Menschen in unserem Lande oder der 350 Millionen Menschen in Europa einen einigenden Wertekonsens, wo man sich trifft, herbeizuführen.
Dies hat (oder hätte) auch Auswirkungen für die gegenwärtige Diskussion der Staatsbürgerschaft.
Ist das Staatsbürgerschaftsrecht zumindest in Deutschland seit dem Reichs- und Staatsange-hörigkeitsgesetz von 1913 auf die Deutsche Nation, bösartig ausgedrückt auf „Blut und Boden“ bezogen, so kann dies in einer zusammenwachsenden Europäischen Union nicht mehr der richtige Bezugspunkt sein und ist es in nahezu allen anderen europäischen Ländern schon längst nicht mehr. Weder kann es für die Staatsangehörigkeit darauf ankommen, ob man von deutschen Eltern abstammt, noch kann es darauf ankommen, ob man seine möglicherweise andersartigen familiären und kulturellen Wurzeln abschneidet, sich lossagt, also eine frühere Staatsbürgerschaft aufgibt. Was haben wir davon, was nützt es unserer gesellschaftlichen und staatlichen Einheit, daß wir von neuen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die auf Dauer hier leben, fordern sollten, sie müßten sich durch Aufgabe ihrer früheren Staatsangehörigkeit von ihrer Herkunft distanzieren? Warum sollten wir von Kindern aus gemischt-nationalen Ehen verlangen, daß sie sich durch Entscheidung für eine Staatsbürgerschaft gleichzeitig mit einem Elternteil identifizieren und vom anderen abwenden? Worauf es uns legitimerweise nur ankommen kann, ist nicht die Ablehnung anderer kultureller, gesellschaftlicher oder auch staatlicher Zugehörigkeit, sondern vielmehr „nur“ das Bekenntnis zu unserer Verfassung und den darin verkörperten Werten. Ein Verfassungspatriotismus, der unsere Verfassungswerte positiv bejaht, ist ausreichend für ein friedliches Zusammenleben in unserer Gesellschaft und bedarf nicht gleichzeitig der negativen Ablehnung weiterer, andersartiger Bezugslinien.
Gerade eine zunehmend heterogener werdende Gesellschaft wie die heutige bedarf gemeinsamer Werte und – bezogen auf diese Werte – emotionaler Bindung. Wenn zu den Werten des Grundgesetzes aber ausdrücklich gerade die Pluralität der Werte gehört (unterschiedliche weltanschauliche, religiöse, politische, gesellschaftliche Auffassungen), dann liegt der eigentliche verbindende Wert eben gerade in der Hochschätzung dieser Verfassungswerte der Menschenwürde, des sozialen demokratischen Rechtsstaats und der Pluralität – also im Verfassungspatriotismus.
Daß ein solcher Verfassungspatriotismus nicht nur eine abstrakte Schimäre ist, sondern auch in der Realität ein Staatsvolk, eine Nation zu konstruieren vermag, zeigt sich am Beispiel der Schweiz. Von einer Nation im völkischen Sinne (Blut und gemeinsame Sprache) kann nicht die Rede sein. Trotzdem verstehen sich die Schweizer als ein Volk, als ein Staat, weil sie gemeinsam stolz sind auf ihre Verfassungswerte: Die Volksdemokratie, die Unabhängigkeit und Neutralität, die Bürgerrechte seit über 700 Jahren (1291).

Till Müller-Heidelberg, Bundesvorsitzender HU

Berichtigung

In den Beitrag „Jagdszenen aus Nordelbien“ der letzten Mitteilungen (Nr. 164, S.109 f.) hat sich eine Namensverwechslung eingeschlichen: Der erwähnte Weltanschauungsbeauftragte der ev.-lutherischen Landeskirche in Lübeck heißt Detlef Bendrath und nicht wie angegeben S. Gaschke. Susanne Gaschke ist Redakteurin im Ressort Politik der Zeit und hat in einer Ausgabe der „Zeit-Punkte“ (Nr.4/1997: Achtung Seelenfänger“) über den Weltanschauungsbeauftragten Bendrath geschrieben. Wir bitten die Verwechslung zu entschuldigen.

Tobias Baur

nach oben