Themen / Rechtspolitik

Das Recht ist eine knappe Ressource

01. Dezember 1999

Mitteilung Nr. 168, S. 92-96

1. Grundrechte und Rechtsstaat

Im ausgehenden Jahr überschlugen sich die Festveranstaltungen zu einem halben Jahrhundert Bundesrepublik und Grundgesetz. Immer wieder bekam man dabei zu hören: Das Grundgesetz ist die beste Verfassung, die wir Deutschen je hatten. Was ist daran so gut, daß man von der besten Verfassung sprechen darf? Zum einen sind es die Grundrechte, beginnend mit Artikel 1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Zum zweiten ist es der demokratische und soziale Rechtsstaat, wobei interessanterweise der Begriff „Rechtsstaat“ im Grundgesetz nicht auftaucht aber doch glücklicherweise völlig unstreitig ist und aus verschiedensten Einzelnormen als Verfassungsgebot abgeleitet wird.Die beste Verfassung und der gesicherte Rechtsstaat – das war einmal. Sowohl Grundrechte als auch Verfahrensrechte sind in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend eingeschränkt worden. Von der „knappen Ressource Recht“ ist überall die Rede – sei es aus finanziellen Gründen (obwohl die Justizhaushalte nur ca. 3 % der Länderhaushalte ausmachen, im Bund noch viel weniger) oder aus anderen Gründen, wie insbesondere unserer Sicherheit. Dem in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden Recht des Bürgers auf Freiheit vor dem Staat wird der Anspruch des Bürgers gegen den Staat auf Sicherheit gegenübergesetzt, und dieser sei nur durchsetzbar durch Einschränkung der Freiheitsrechte. Dies jedoch ist eine Illusion. Es gibt keine absolute Sicherheit, selbst nicht im Polizeistaat. Hier gilt das bekannte Zitat Benjamin Franklins: „Der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzugeben, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren.“Auch die angebliche „querulatorische Prozeßwut“ der Bürger, die zu immer mehr Rechtsstreitigkeiten führe und den Staat folglich zwinge, die knappe Ressource Recht zu rationieren, ist Unsinn: Der Gesetzgeber selbst erzwingt durch immer mehr, immer neue und immer kompliziertere, häufig auch immer widersprüchlichere Gesetzesregelungen Streitigkeiten und Prozesse. Klassisches aber keineswegs einziges Beispiel ist das Steuerrecht. Der Präsident des Bundesfinanzhofes, also der höchste Finanzrichter dieses Staates, hat in einem Festvortrag hierzu ausgeführt: Am Bundesfinanzhof, dem höchsten deutschen Steuergericht, gibt es keinen einzigen Richter, der das Steuerrecht beherrscht! Das heißt, der Staat ist es, der durch seine Rechtsetzung Streitigkeiten provoziert, und nicht der Bürger. Die Verfassung, die doch die beste war, die die Deutschen je hatten, ist alleine in den vergangenen 50 Jahren 46 mal geändert worden, von den Grundrechten Artikel 1 bis 19 GG wurden zwei Drittel geändert. Die unveränderten Artikel brauchten auch deshalb nicht geändert zu werden, weil sie ohnehin unter dem Vorbehalt jedes beliebigen Gesetzes stehen. Ein Abbau der Rechtsgewährung und des Rechtsstaats sowohl im alltäglichen Bereich der Gerichtsverfahren wie auch im Grundrechtsbereich Bürger/Staat, im Bereich der Bürgerfreiheiten, hat schleichend begonnen und vollzieht sich in zunehmend schnellerem Tempo, ohne daß es die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger merkt.

2. Einschrän­kungen im alltäg­li­chen Verfah­rens­recht

Einschränkungen beginnen im normalen Gerichtsverfahren, wie es fast jeden Bürger irgendwann einmal betrifft, der zu Gericht geht, um sein Recht zu bekommen. Da allerdings Richter auch Menschen sind, gibt es nicht nur richtige, sondern auch Fehlurteile. Dies erscheint nicht so schlimm – dafür gibt es ja die nächste Instanz. Rechtsmittel bis hin zu den Obersten Bundesgerichten, BGH, BFH, BAG, BSG, BVerwG und schließlich als letzte, sichernde Instanz das Bundesverfassungsgericht. Schön wäre es …Zivilgerichte. Am relativ besten sieht es noch bei den Zivilgerichten aus, die auch die meisten Gerichtsverfahren im Lande erledigen. Ursprünglich gab es die erste Instanz, dann die Berufung, die den Fall umfassend im sachlichen und rechtlichen Bereich überprüfte, und schließlich die Revision allein zur Kontrolle von Rechtsfragen. Zu einem großen Teil ist dieses Rechtsmittelverfahren, das man zu kennen glaubt, Geschichte: Seit 1915 gibt es eine Berufungssumme, um Bagatellstreitigkeiten von diesem umfangreichen Rechtsweg auszuschließen. Zunächst belief sich diese Berufungssumme auf DM 300,– , dann auf DM 700,– , heute liegt sie bei DM 1.500,–. Das heißt, der erstinstanzliche Richter – auch beim Landgericht heute meist nur ein Einzelrichter – hat über sich nur den blauen Himmel. Und welcher Mensch neigt nicht dazu, weniger sorgfältig zu arbeiten, wenn er weiß, daß niemand ihn kontrollieren kann. Und bei bis zu 20 oder gar 30 Terminen pro Verhandlungstag und zwei Verhandlungstagen pro Woche ist es dem Amtsrichter auch objektiv gar nicht möglich, eine derartige Vielzahl von Fällen gründlich zu bearbeiten. Aber ist wirklich für jeden ein Rechtsstreit über DM 1.500,– so unwichtig, daß er auch problemlos ein Fehlurteil verschmerzen kann? In die Revisionsinstanz zum Bundesgerichtshof kommen nur noch Streitigkeiten, bei denen das Oberlandesgericht ausdrücklich die Revision zugelassen hat wegen Grundsätzlichkeit oder Divergenz oder mit einem Wert von mehr als DM 60.000,–. Ist bei DM 50.000,– etwa eines Häuslebauers wegen Pfusch am Bau Rechtsschutz nicht so nötig? Und selbst wenn der Streitwert von DM 60.000,– überschritten wird, entscheidet der BGH unanfechtbar, ob er die Revision überhaupt annehmen, also sich damit befassen will, § 454 b ZPO, bezeichnenderweise eingefügt durch das Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz vom 17. Dezember 1990. Strafrecht Hier sieht es nicht besser aus, wenn auch jedenfalls dort der Mangel der Rechtsmittel nicht neu ist. Gerade in den schwerwiegenden Straftaten, die vor der Großen Strafkammer am Landgericht angeklagt werden, gab und gibt es nur die Revision, keine Berufung. Die Revision kann nur Rechts- und Verfahrensfehler korrigieren. Davon hängt aber kaum ein Strafurteil ab. Entscheidend ist immer der Sachverhalt, der sich überwiegend auf Zeugenaussagen stützt, also das unzuverlässigste Beweismittel von allen. Der Angeklagte ist somit faktisch dem erstinstanzlichen Richter – und gegebenenfalls auch dessen Voreingenommenheiten – völlig ausgeliefert. Auch der Satz „im Zweifel für den Angeklagten“ schützt ihn nicht. Denn er bedeutet nicht etwa einen Freispruch dann, wenn man objektiv Zweifel an der Tat oder dem Täter haben muß, sondern Freispruch nur dann, wenn auch der Richter selbst sagt, ich habe Zweifel. Und die Mehrzahl der Strafrichter ist – vielleicht berufsbedingt – der Auffassung: Wenn die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt, dann wird der Angeklagte wohl auch schuldig sein, soll er doch das Gegenteil beweisen.Obendrein sind die Rechte des Angeklagten, der ja laut Europäischer Menschenrechtskonvention unschuldig ist, solange er nicht rechtskräftig verurteilt worden ist, in seiner Verteidigung immer mehr beschnitten worden: Inzwischen gibt es den verdeckten Ermittler, den Polizeibeamten, der nicht als solcher auftritt, sondern sich unter einer Legende einschließlich Urkundenfälschung (damit die Legende glaubhaft ist) in das Leben anderer Leute einschleicht und als Freund ausgibt. Abgesehen davon, daß verdeckte Ermittler gerade in kriminellen Kreisen, die mit solchen rechnen, einer sog. „Keuschheitsprobe“ unterzogen werden, also Straftaten begehen müssen (als: beamtete Straftäter!), werden ihre Ermittlungen auch nur verdeckt in das Verfahren eingeführt. Weder der Angeklagte noch sein Verteidiger erfahren je, wer der verdeckte Ermittler ist, denn wenn dessen Identität als Zeuge im Verfahren offenbart würde, wäre er ja als verdeckter Ermittler „verbrannt“. Wieviele Falschaussagen aber werden vor Gericht gemacht. Und oft genug kann man solche Aussagen als Falschaussagen nur widerlegen, wenn man weiß, wer sie macht. Beim verdeckten Ermittler gibt es praktisch keine Möglichkeit für den Angeklagten, dessen Aussagen zu widerlegen. Ähnlich ist es bei dem Kronzeugen. Eingeführt für Betäubungsmittelstraftaten hat er inzwischen ein weites Betätigungsfeld im gesamten Strafrecht. Wer also selbst wegen einer Straftat angeklagt wird, kann nun seinen Kopf aus der Schlinge ziehen: Wenn er der Staatsanwaltschaft und dem Gericht als Zeuge gegen die Mittäter und Mithelfer zur Verfügung steht, angeblich zur Aufklärung beiträgt, darf er selbst mit Milde rechnen. Wer wäre da nicht versucht, um seinen eigenen Kopf zu retten, Falschaussagen über Mittäter zu machen und diesen die Verantwortung aufzubürden? Vor Gericht jedoch gilt er seltsamerweise als glaubwürdiger Zeuge. Wenig verbreitet ist die Erkenntnis, die der Hessische Generalstaatsanwalt öffentlich verkündet: Seit Einführung des Kronzeugen ist ein drastischer Anstieg der Aussagedelikte (Meineid, Falschaussage) zu verzeichnen. Wen kümmerts? Wen kümmert, daß neuerdings nun selbst der Geheimdienst Bundesnachrichtendienst zur Verbrechensbekämpfung eingesetzt wird und in Bayern z.B. auch der Verfassungsschutz? Bisher galt das sog. Trennungsgebot, daß Geheimdienste und Polizei/ Strafverfolgungsbehörden nicht zusammenarbeiten und nicht vermischt werden dürfen.Wehren kann man sich gegen die geheime Überwachung, in der Regel nicht, ebensowenig wie gegen Abhörmaßnahmen durch Telefonüberwachung oder den Großen Lauschangriff. Dazu noch später im Einzelnen. Zwar wird uns durch die Politiker bei Verabschiedung der Gesetze regelmäßig erzählt, alle diese Eingriffe würden striktestens gerichtlich überprüft – alles Schall und Rauch. Zum einen nämlich: Man erfährt gar nicht, daß man überwacht wurde. Zwar ist dies in der Regel unter gewissen einschränkenden Voraussetzungen in den Geheimdienst- und Polizeigesetzen vorgesehen – nur es erfolgt schlicht nicht. Und wenn man dann versucht, seinen im Prinzip vorgesehenen Auskunftsanspruch – ob man denn geheim überwacht worden sei – durchzusetzen, so hat man auch damit in der Regel keinen Erfolg. Der Staat stellt sich einfach – trotz entgegenstehender Gesetzeslage – auf den Standpunkt, er müsse und dürfe nichts sagen. Durch Gesetz vom 17. Juli 1997 sind das Beschleunigte Verfahren und die Hauptverhandlungshaft eingeführt worden, d.h. in angeblich einfachen Fällen soll unverzüglich – spätestens binnen einer Woche – Anklage erhoben werden und diese braucht nur mündlich zu sein. Geht die Staatsanwaltschaft davon aus, daß der Angeklagte nicht freiwillig zu diesem Verhandlungstermin erscheint, wird er eben verhaftet – bis zu einer Woche. Da dies laut Gesetz gerade nur bei einfachen Fällen geschehen darf, wäre in solchen Fällen nie mit einer Freiheitsstrafe, jedenfalls nicht ohne Bewährung, zu rechnen. Mit der Hauptverhandlungshaft wird also eine Strafe vollzogen, die hinterher durch das Gericht gar nicht ausgesprochen werden darf. Auch wird der Angeklagte in so kurzer Zeit schon aus Termingründen häufig keinen Verteidiger finden können und wenn doch, wie sollen sich Angeklagte und Verteidiger auf die Anklage vorbereiten, die sie nicht kennen? Die Staatsanwaltschaft hat im Zweifel Polizisten als Zeugen zur Verfügung – wie soll der Angeklagte Gegenzeugen beschaffen, zumal er noch nicht weiß, was ihm konkret vorgeworfen werden wird? Etwa bei angeblichem Widerstand gegen die Staatsgewalt oder Körperverletzung anläßlich einer Demonstration, wenn es darauf ankäme, dafür Zeugen zu finden, daß der Angeklagte gar nicht an dem entsprechenden Ort war? Und der Höhepunkt aus der ersten Erfahrung mit solchen Verfahren: Gelingt es wider Erwarten dem Angeklagten doch, einen Verteidiger zu beschaffen und gelingt es ihnen beiden, etwa die Zeugenaussagen der Polizisten (die oft genug präpariert und abgesprochen sind) zu erschüttern, dann erfolgt nicht etwa ein Freispruch, wie es im normalen Verfahren der Fall wäre, sondern dann erklärt die Staatsanwaltschaft, daß es sich offensichtlich doch nicht um einen einfachen Fall handele, und folglich nicht das kurze Verfahren durchgeführt werden soll. Es geht dann wieder ins normale Ermittlungsverfahren über. Ein letztes Beispiel der knappen Ressource Recht im Bereich des Strafrechts: Seit über 20 Jahren schreibt das Strafvollzugsgesetz vom 16. März 1976 in § 43 vor, daß Gefangene für ihre Arbeit ein Arbeitsentgelt erhalten müssen in Höhe „des durchschnittlichen Arbeitsentgelts aller Versicherten der Rentenversicherung“. Seit über 20 Jahren weigern sich die Justiz- und Finanzminister des Bundes und der Länder, diesen Gesetzesauftrag zu erfüllen. Das sei zu teuer. Für den normalen Bürger gilt die Erklärung, man habe nicht genügend Geld, um irgendeine rechtliche Verpflichtung zu erfüllen, nicht als Entschuldigung. Der Staat aber glaubt offenbar, sich anders verhalten zu dürfen. Und dabei handelt es sich nicht etwa um eine Wohltat für den Gefangenen, sondern um ein Verfassungsgebot: Das Bundesverfassungsgericht hat erneut am 1. Juli 1998 (wie auch schon 1973) entschieden, daß es zur unveräußerlichen Menschenwürde des Art. 1 Grundgesetz gehört, daß auch jeder Gefangene Hoffnung darauf haben muß, wieder ein normales Leben führen zu dürfen, und daß folglich die Resozialisierung als zwingendes Verfassungsgebot anzusehen ist, und zur Resozialisierung gehört nach dem BVerfG Arbeit gegen angemessenes Entgelt. Die Justizminister von Bund und Ländern haben im Juni 1997 in Saarbrücken darauf hingewiesen, daß wegen der dramatischen Entwicklung der Gefangenenzahlen und der katastrophalen Überbelegung der Gefängnisse das gesetzlich und verfassungsrechtlich vorgeschriebene Ziel der Resozialisierung bei Gefangenen nicht mehr möglich sei. Die Justizminister verkünden damit öffentlich, daß unser Gefängniswesen verfassungswidrig ist. Bei den Arbeitsgerichten, die doch potentiell für 90 % der deutschen Bevölkerung – nämlich die Arbeitnehmer – wichtig sind, gibt es grundsätzlich überhaupt keine Revision. Die Revision beim Bundesarbeitsgericht ist nur möglich, wenn sie zugelassen wird, was selten erfolgt. Ansonsten kann man nur die Nichtzulassungsbeschwerde erheben, die aber nicht einmal mit der Begründung, es handele sich um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung möglich ist! Daher sind auch nur 3 bis 5 Prozent der Nichtzulassungsbeschwerden erfolgreich. Bei den Verwaltungsgerichten gibt es nicht nur keine Revision mehr, es gibt auch seit 1996 grundsätzlich keine Berufung mehr. Um überhaupt eine zweite, Berufungsinstanz zu erreichen, muß man den Antrag stellen – und durchsetzen – die Berufung zuzulassen. Die Spitze ist die Finanzgerichtsbarkeit! Hier gibt es überhaupt keine Berufung, keine zweite Tatsacheninstanz. Das Finanzgericht ist die erste und letzte Instanz in allen Tatsachenfragen – und jeder Rechtsstreit besteht überwiegend nicht aus Rechtsfragen, sondern in der Klärung des wirklichen Sachverhalts. Nur für Rechtsfragen gibt es die Revision beim Bundesfinanzhof – aber selbst diese ist seit 1985 nicht mehr uneingeschränkt möglich. Sie findet nur statt, wenn entweder das Finanzgericht sie ausdrücklich zuläßt, oder wenn sie mit der Nichtzulassungsbeschwerde – mit geringer Erfolgsaussicht – erzwungen wird. Der Rechtsstaat verlangt Recht in angemessener Zeit. Wenn Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz jedem Bürger das Recht garantiert, bei Verletzung in seinen Rechten durch die öffentliche Gewalt vor die Gerichte zu ziehen, so ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dieser Rechtsweg nur garantiert, wenn er auch in angemessener Zeit zu einem Ergebnis führt (so kürzlich auch das BVerfG mit Beschluß vom 17.11.1999 – Az. 1 BvR 1708/99 – zur Dauer eines überlangen Zivilverfahrens seit 1984!). Auch die europäische Menschenrechtskonvention schreibt in Artikel 6 vor: „Jedermann hat Anspruch darauf, daß seine Sache … innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird.“ Eine Vielzahl der Fälle vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof dreht sich um diese Frage – zunehmend auch bei Rechtsstreitigkeiten aus Deutschland. Allgemein wird die Dauer der Gerichtsverfahren beklagt. Durch mehr Richter, Rechtspfleger, Schreibkräfte und durch eine bessere Organisation wäre das Problem zu lösen. Und angesichts des minimalen Anteils des Justizhaushalts am Gesamthaushalt überzeugt auch nicht das Argument, es sei kein Geld da. Dennoch geschieht hier nichts. Und typisch ist: Wenn gegen den Staat geklagt wird, dauert der Rechtsstreit am längsten, ist die Rechtsverweigerung am größten. Vor den Zivil- und Arbeitsgerichten ist die Dauer der Gerichtsverfahren längst nicht so, wie in der Öffentlichkeit vermutet. Bei den Arbeitsgerichten findet der erste Gütetermin in der Regel etwa drei Wochen nach Klageinreichung statt. Zivilverfahren vor den Amtsgerichten brauchen durchschnittlich nur wenig mehr als ein halbes Jahr, vor den Landgerichten weniger als ein Jahr. Bei den Sozialgerichten, Verwaltungsgerichten und Finanzgerichten jedoch ist in der Regel selbst mit einem ersten Termin im ersten Jahr nicht zu rechnen, teilweise dauert es sogar bis zu vier Jahren. Letztinstanzliche Entscheidungen sind kaum vor acht Jahren zu erwarten. Und das, obwohl nach seriösen Schätzungen etwa 50 % aller Steuerbescheide (Finanzgerichte) und 50 % aller Bescheide der Arbeitsverwaltung (Sozialgericht) falsch sind. Faktisch gibt es hiergegen kaum einen Rechtsschutz, wenn man etwa an den Fall denkt, daß die Arbeitsverwaltung zu Unrecht eine Sperrzeit für das Arbeitslosengeld von 3 Monaten verfügt – wovon soll der Betreffende inzwischen leben? Verwaltungsgerichtsprozesse um rechtswidrig versagte Baugenehmigungen gibt es kaum, denn was nützt mir mein Recht, wenn der Rechtsstreit allein in der ersten Instanz mehrere Jahre dauert und inzwischen die Baukosten gestiegen sind und die Zinsen für die laufende Finanzierung gezahlt werden müssen. Man fügt sich halt in die „knappe Ressource Recht“ und tut, was die eventuell arrogante Verwaltung will. Im Ausländer- und Asylrechtwird der Rechtsweg nun sogar kraft Gesetzes weitgehend verweigert. Wenn ein Asylbewerber aus einem Land kommt, in dem nach Auffassung des Gesetzgebers die Europäische Flüchtlingskonvention gilt, hat er von vornherein kein Recht auf Asyl nach Art. 16 a GG. Dasselbe gilt grundsätzlich, wenn er aus einem Land kommt, in dem es gem. Bundesgesetz keine politische Verfolgung gibt. Und in beiden Fällen ist es nach Art. 16 a Abs. 4 GG selbst den Gerichten grundsätzlich untersagt, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren. In § 72 des Ausländergesetzes heißt es, daß Widerspruch und Klage gegen die Ablehnung eines Antrags auf Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung keine aufschiebende Wirkung haben. Im Asylverfahrensgesetz wird es noch einfacher: Nach §11 findet „gegen Maßnahmen und Entscheidungen nach diesem Gesetz … kein Widerspruch statt.“ Anträge nach §18 a und §36 müssen in drei Tagen oder binnen einer Woche gestellt werden, eine Klage nach § 74 in zwei Wochen: Ein Ding der Unmöglichkeit. Zum Vergleich: Gegen einen Mahnbescheid hat man für den Widerspruch zwei Wochen Zeit – braucht dazu allerdings nichts zu unternehmen, außer ein Kreuz und seinen Namen auf ein vorbereitetes Formular zu setzen. Und gegen jede staatliche Entscheidung hat man für den Einspruch oder Widerspruch einen Monat Zeit, wobei auch hier der Satz „ich lege Einspruch/ Widerspruch ein“ ausreicht und man sich mit der Begründung soviel Zeit lassen kann, wie man möchte! Aber Rechtsgewährung an Ausländer ist in Deutschland aus dem Rechtsstaatsgebot anscheinend nicht mehr abzuleiten, trotz Art. 19 Abs. 4 GG. Die Ressource Recht ist eben knapp – für manche noch knapper als für andere.

3. Abbau von Grund­rechten und Grund­frei­hei­ten.

Kaum etwas, was die Grundfreiheiten und den Rechtsstaat in unserer Verfassung betrifft, ist seit der Verabschiedung am 8. Mai 1949 unverändert geblieben. Erste Einschränkungen erfolgten durch die Wehrverfassung 1956, fortgeführt durch die Notstandsverfassung 1968; der Asylkompromiß von 1993 hat dieses Grundrecht weitgehend abgeschafft und der Große Lauschangriff vom 26. März 1998 ist lediglich die vorläufig letzte Grundrechtseinschränkung, die die bisher uneingeschränkte Freiheitssphäre in meiner Wohnung beendet hat. Versteckt in sogenannten „einfachen Gesetzen“ und nur unscheinbar abgesichert über einen entsprechenden Gesetzesvorbehalt im Grundgesetz sind unsere Bürgerfreiheiten überall beschränkt worden. Die Telefone werden abgehört durch die Polizei und die Geheimdienste. Um eine abgehörte Person zu verurteilen, mußten einer Studie von Prof. Dr. Christian Pfeiffer zufolge (ZRP 1994, 7 ff.) durchschnittlich 78 nicht betroffene Personen mit abgehört werden. Und es handelt sich nicht „nur“ um einige tausend Fälle in der Bundesrepublik Deutschland, sondern abgehört werden jährlich mittlerweile etwa 1,5 Mio. Menschen! Damit ist von zirka 18 Millionen abgehörten Kommunikationsvorgängen im Jahr auszugehen. Oder um noch eine andere erschreckende Zahl zu zitieren: Im Falle einer einzigen Telefonüberwachung des Bundeskriminalamtes wurden 60.000 Telefonate abgehört (Spiegel 18/1991, Seite 20). In unserem abhörwütigen Staat dürfte das Risiko auch des nicht verdächtigen Bürgers, abgehört zu werden, mittlerweile knapp 50 mal höher sein als in den USA, wo im Gegensatz zur europäischen Rechts- und Staatstradition das Bewußtsein der persönlichen Bürgerfreiheit wesentlich stärker ausgeprägt ist und solche Auswüchse verhindert. Das schlimmste daran: Man erfährt nichts und kann sich folglich nicht wehren.Dasselbe gilt für die verdeckten Ermittler, eine Vorstellung, die das preußische OVG im autoritären preußischen Staat im vergangenen Jahrhundert weit von sich gewiesen hätte. Der Staat hat dem Bürger erkennbar, mit offenem Visier, entgegenzutreten und ihn nicht heimlich zu belauschen und auszuspähen. Zwar wurden Versammlungen beobachtet – aber für jedermann erkennbar durch einen Polizisten in Uniform. Dieses war noch zu Beginn der Bundesrepublik so selbstverständlich, daß ich etwa die Einführung von Zivilfahndern in den 60er Jahren gar nicht glauben wollte. Eine Polizei, die nicht in Uniform auftritt, kann es doch gar nicht geben. Die Konsequenzen sieht man immer wieder: Wenn unschuldige Bürger in Zivilfahndern verständlicherweise Verbrecher vermuten, etwa einen Raubüberfall, und sich entsprechend wehren und die Zivilfahnder dann in ihrem guten Glauben an ihre Polizeieigenschaft prügeln oder schießen. Nicht nur der verdeckte Ermittler, auch der Kronzeuge beseitigt den fairen Prozeß. Wer eine Belohnung erwarten darf, für eine Aussage, die die Staatsanwaltschaft wünscht, von dem kann keine wahrheitsgemäße Aussage erwartet werden – und wie soll sich der Angeklagte dagegen wehren? Das verfassungsrechtliche Postulat des Art. 1 GG „die Würde des Menschen ist unverletztlich“, gilt auch für den Angeklagten, ja selbst für den Verurteilten. Dies gerät immer mehr in Vergessenheit gegenüber der Ansicht, aus Gründen der angeblich bedrohten Sicherheit müsse der Staat eben dieselben Mittel anwenden dürfen wie das Verbrechen (also geheim arbeiten, täuschen, Straftaten begehen) und müsse „mit allen Mitteln“ die vermeintliche Wahrheit suchen, das vermeintliche Verbrechen aufdecken. Auch der Große Lauschangriff vom 26. März 1998 richtet sich nicht gegen den Verbrecher, sondern potentiell gegen jeden von uns. Jeder kann in Verdacht oder auch nur in Kontakt zu einem Verdächtigen kommen. Es gibt kein Zeugnisverweigerungsrecht des Ehegatten mehr, kein Schweigerecht des Verdächtigen, jeder wird Zeuge gegen sich selbst. Wir landen wieder beim Inquisitionsprozeß des Mittelalters. Niemand ist, wie das Menschenbild des Grundgesetzes es fordert, bis zum Beweis des Gegenteils der staatstreue Bürger. Im Gegenteil: Jeder ist der potentiell Verdächtige und damit der potentielle Straftäter. Das erlaubt es, daß der BND nunmehr mit Absegnung des Bundesverfassungsgerichts sämtliche Auslandsgespräche abhören darf. Das erlaubt es, daß nach dem BGS-Gesetz vom 25. August 1998 der Bundesgrenzschutz als Bundespolizei verdachtsunabhängige Kontrollen durchführen darf, also auch ohne Grund jeden kontrollieren darf. Und wer so kühn ist, sich auf die staatlichen Gesetze zu verlassen und nach dem Personalausweisgesetz seinen Personalausweis nicht bei sich zu führen, der wird eben – obwohl keinerlei Verdacht gegen ihn vorliegt – mit auf die Wache genommen und erkennungsdienstlich behandelt, während sein Zug inzwischen abfährt. So wird mittelbar das Personalausweisgesetz in sein Gegenteil verkehrt.Und der Höhepunkt in dieser Allmacht der Polizei wird erreicht durch das Europol-Immunitätenprotokoll, vom Bundestag am 25. Mai 1998 abgesegnet. Schon der gesetzgeberische Verfahrensgang ist ein demokratischer und verfassungsrechtlicher Sündenfall ohne Beispiel: Dem Bundestag wurde im Frühjahr 1998 der Europol-Vertrag zur Abstimmung vorgelegt, wonach die Europol-Behörde geschaffen werden soll. Wer könnte dagegen sein. Daß aber durch ergänzende Verordnungen und Protokolle weitere Regelungen getroffen werden sollten (ohne Bundestag) war zwar bekannt, aber niemand wußte, was hier vorgesehen war – und bereits in fertigen Entwürfen vorlag. Allerdings höchst geheim! Im Immunitätenprotokoll nämlich sollte den Beamten der europäischen Polizeibehörde Immunität verschafft werden. Der damalige Bundestagsvizepräsident Dr. Burkhard Hirsch erst zerrte dieses Immunitätenprotokoll in seiner Rede im Deutschen Bundestag im April 1998 ans Licht der Öffentlichkeit – und die Regierung tat zunächst so, als ob sie nichts davon wisse. Immerhin wurde wenigstens dadurch erreicht, daß ein Parlamentsvorbehalt eingefügt wurde – auch das allerdings half nichts. Schließlich verabschiedete der Bundestag auch dieses Europol-Immunitätenprotokoll mit dem Inhalt, daß die Beamten der europäischen Polizeibehörde Europol von jeglicher Verantwortung freigestellt sind. Sie dürfen also zumindest nach dem Buchstaben des Gesetzes Gesetze brechen, prügeln, betrügen, morden – keine Staatsanwaltschaft kann sie dafür vor Gericht stellen oder verurteilen (mit Ausnahme der ausdrücklichen Zustimmung des obersten Europol-Polizisten). Keine Diktatur hätte je gewagt, im Lichte der Öffentlichkeit ein solches Gesetz vorzulegen! Die knappe Ressource Recht jedoch rechtfertigt heutzutage alles. Sei es, daß der Staat angeblich zu wenig Geld hat, um einen funktionierenden Rechtsstaat mit Rechtsmitteln zu gewährleisten, sei es, daß wir uns angeblich „soviel Freiheit nicht leisten können“. Dies deformiert den Rechtsstaat und wird ihn und die Gesellschaft verändern.Ins öffentliche Bewußtsein, welches allein für Abhilfe sorgen könnte, ist diese Entwicklung allerdings nur unzureichend gedrungen. Bürgerrechtsorganisationen stehen weitgehend auf verlorenem Posten: Wer an politisch hervorragender Stelle diese gefährlichen Entwicklungen sieht und kritisiert, wie etwa die frühere Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger oder der Bundestagsvizepräsident a.D. Dr. Burkhard Hirsch, verliert an politischem Einfluß. Und die große Masse der Bevölkerung denkt: Was geht mich das an. Ich bin ja nicht betroffen. Vergessen wird schnell die Tatsache, wie leicht ein jeder grundlos verdächtig werden kann – oder auch wie schnell ein „kleiner“ Verstoß oder eine Streitigkeit entstehen – und er dann auf die Grundrechte und Grundfreiheiten, auf die Ressource Recht, angewiesen wäre. Wir alle müssen begreifen, wie wichtig für jeden von uns die Ressource Recht ist, wie wichtig Grundrechte und Verfahrensrechte für jeden von uns sind – auch solange wir noch nicht im Einzelfall konkret von deren Schwund betroffen sind. Der fortwährenden Entwicklung gilt es entgegenzutreten, wie dies Martin Niemöller, wenn auch in ganz anderem Zusammenhang formuliert hatte: Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Katholiken holten, habe ich nicht protestiert; ich war ja kein Katholik. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

Dr. Till Müller-Heidelberg

Der abgedruckte, gekürzte Artikel basiert auf einem Vortrag von Till Müller-Heidelberg.

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