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Mögliche Ursachen von Jugend­ge­walt – eine geschlechts­s­pe­zi­fi­sche Betrachtung

Mitteilungen16803/2000Seite 101

Mitteilung Nr. 169, S. 15

Immer wieder wird in der letzten Zeit über Jugendgewalt gesprochen und es werden Diskussionen über die Ursachen geführt. Als Ursache werden in der öffentlichen Diskussion immer wieder gewalttätige Medieninhalte – insbesondere vermittelt durch das Fernsehen und durch Computerspiele – genannt. Gerade unter Laien scheint dieses Erklärungsmuster sehr populär sein, vielleicht deswegen, weil es dadurch möglich ist, „den Medien“ die Schuld in die Schuhe zu schieben, ohne sich näher mit dem gesellschaftstrukturellen Hintergrund von Gewalt befassen zu müssen. Selbst nach Professor Pfeiffer, Kriminologe in Hannover, kann Jugendgewalt nicht durch den Einfluss der Medien erklärt werden. Pfeiffer macht deutlich, dass gewalttätige Medieninhalte gewaltfördernd auf hierfür gefährdete Jugendliche wirken können (siehe HU-Pressemitteilung: „Die Gesellschaft als Geisel“ in den Mitteilungen Nr. 168, S. 101). Also muss selbst nach dieser Ansicht bereits eine anderweitige Gefährdung vorliegen. Dies liegt auch auf der Hand, kann doch eine gewalttätige Mediendarstellung beim Betrachtenden auch das Gegenteil zur Folge haben, nämlich das Auslösen von Abscheu gegen diese Gewalt. Mögliche Gewaltursachen müssen also anderswo gesucht werden:
In diesem Zusammenhang sollte einmal die Tatsache betrachtet werden, dass Gewaltdelikte Jugendlicher – und nicht nur Jugendlicher – fast ausschließlich ein männliches Problem sind; Jugendgewalt ist in den meisten Fällen Jungengewalt. Wer hier mit biologischen Argumenten kommt, verkennt, dass Gewalt ein soziales Konstrukt ist, Geschlechterverhalten ist antrainiertes Rollenverhalten. Ein typisches Rollenverhalten von Jungen ist nach wie vor eine starke Gefühlsnegierung. Dies kann man schon aus bloßer Beobachtung schließen: Während sich jugendliche Mädchen etwa oftmals mit Umarmung und Küssen begrüßen, sieht man dies unter Jungen praktisch überhaupt nicht. Letztlich erscheint es mir naheliegend, dass diese Erziehung der Jungen zur Gefühlsnegierung auch mangelndes Einfühlungsvermögen zur Folge hat und damit möglicher Weise auch eine erhöhte Gewaltanwendung auslöst. Wer hier erwidert, heutzutage würden Eltern ihre Kinder doch unabhängig vom Geschlecht gleich behandeln, übersieht, dass Kinder nicht nur durch ihre Eltern sozialisiert werden. Im Fernsehen etwa werden Jungen oftmals als die wilden Draufgänger dargestellt, während die Mädchen oftmals eine verantwortungsvollere, auch einfühlsamere Rolle darstellen. In diesem Zusammenhang einzuordnen ist auch das meiner Ansicht nach häufig biologistisch verknappte Sexualitätsbild vieler Jungen. Sexualität wird oftmals als etwas rein technisches begriffen, sie wird reduziert auf den heterosexuellen Beischlaf zwischen Mann und Frau; dass Sexualität – auch zwischen Mann und Frau – mehr darstellt als nur Geschlechtsverkehr, scheint vielfach nicht bekannt zu sein. Diese Einstellung zur Sexualität führt zu einer künstlichen Zwangsheterosexualität, die alle anderen möglichen Formen von Zärtlichkeit, Erotik und Sexualität nicht zulässt. Zur Folge hat dies, dass gerade unter männlichen Jugendlichen Zärtlichkeit und das Zeigen von Gefühlen untereinander verpönt ist, was wiederum Gefühlsnegierung und möglicher Weise Gewalt zur Folge hat.
Die Behauptung, Geschlechterrollen spielten heute keine Rolle mehr, ist einzuschränken: In den letzten Jahrzehnten liegt eine einseitige Aufhebung der Geschlechterrollen vor: Die traditionelle Mädchenrolle ist deutlich abgeschwächt: Ein Mädchen, das in die traditionelle Jugendrolle strebt, sich etwa für Technik interessiert und gern Fußball findet, wird in den meisten Fällen Anschluss finden und von ihrer Altersgruppe – aber auch insgesamt – akzeptiert werden. Auch Frauen haben heute in früher den Männern vorbehaltenen Berufen gute Chancen, etwa als Lokführerin, Busfahrerin oder Ingenieurin. Andererseits ist die Jungenrolle viel weniger stark aufgelöst: Ein Junge, der in die traditionelle Mädchenrolle strebt; etwa gefühlvoll ist und gern mit Puppen oder Pferden spielt, wird es wesentlich schwerer haben, akzeptiert zu werden. Dass die Geschlechterrollen nur einseitig aufgelöst sind, sieht man schon an einer Äußerlichkeit: Während Mädchen, die ehemals Jungen vorbehaltenen Hosen tragen, selbstverständlich voll akzeptiert werden; würde der Junge mit Mädchenkleidern verspottet werden.
Die Auflösung der alten Frauenrolle hat im Laufe dieses Jahrhunderts dazu geführt, dass auch Mädchen Abitur machen und in die Arbeitswelt streben. Die freie Entfaltung der Mädchen und Frauen ist dadurch erst möglich geworden. Jungen sind heute in gewisser Weise die Benachteiligten, weil sie noch immer viel stärker an ihre Rolle gebunden sind. Woran liegt es wohl, dass heute etwa auf Hauptschulen deutlich mehr Jungen als Mädchen zu finden sind, dass auch bei denjenigen, die gar keinen Schulabschluss schaffen, die Jungen deutlich in der Überzahl sind? Liegt es nicht vielleicht daran, dass Mädchen von den für das Zurechtkommen in der Gesellschaft nützlichen Teilen der alten Mädchenrolle – wie Verantwortungsbewusstsein und Geduld – weiterhin profitieren, während die sie ausgrenzenden Teile der alten Mädchenrolle – der Zwang zu Haus und Herd – verschwunden sind? Jungen dagegen bleiben in ihrer alten Männlichkeitsrolle des „starken, gefühllosen“ Geschlechts gefangen und erlernen dadurch die sich aus dem gefühlvollen Umgang miteinander erschließenden Kompetenzen nicht – auch eine mögliche Ursache von Gewalt.
Bezeichnender Weise richtet sich auch die geschlechtsspezifische Jugendarbeit in der Praxis in der überwiegenden Mehrzahl an Mädchen. Schon bei Veranstaltungen für Kinder im Grundschulalter werden oftmals spezielle Mädchenangebote durchgeführt, teilweise gibt es gar Mädchenspielplätze. Vergleichbare Angebote für Jungen bleiben dahinter deutlich zurück. Sehr merkwürdig auch die Begründungen für diese Mädchenprojekte: Es habe sich gezeigt, dass Mädchen durch das draufgängerische und von sich selbst eingenommene Verhalten der Jungen ihre eigene Persönlichkeit nicht angemessen entfalten könnten. Das mag ja sogar stimmen, aber die darauf folgende Reaktion kann man nur als verfehlt bezeichnen: Zum einen müssen Mädchen auch im täglichen Leben mit Jungen umgehen und müssen sich auch als Erwachsene mit Männern auseinandersetzen, zum Anderen: Warum schafft man hier einen zweifelhaften Schutzraum für Mädchen, anstatt das Problem bei der Wurzel zu packen und sich daran zu machen, die Jungen aus ihrer Geschlechterrolle zu befreien. Es wäre ja auch im Sinne der Frauen: Letztlich wäre es für Frauen wesentlich leichter Familie und Beruf zu vereinen, wenn mehr Männer die Kinderbetreuung übernehmen würden; dass dies immer noch recht wenig sind, liegt auch an der im Jungenalter vermittelten Männlichkeitsrolle.
Zum Abschluss: Nach meiner Auffassung kann Ursache für Jungengewalt auch das fortdauernde Gefangensein in der männlichen Geschlechterrolle sein. Wir sollten uns aber auch aus einem anderen viel wichtigeren Grund endlich daran machen, Jungen aus ihrer Geschlechterrolle zu befreien: Damit diese sich ähnlich frei entfalten können wie die Mädchen dies zumindest im europäischen Kulturkreis endlich tun können!
Zur Diskussion um Gewaltprävention sei abschließend noch angemerkt: Eine tatsächliche Steigerung der Jugendgewalt ist nicht feststellbar. Zudem wäre eine freiheitliche Gesellschaft ganz ohne Gewalt meines Erachtens nicht zu erreichen. Auch in einer Gesellschaft, in der sich alle Menschen wirklich frei entfalten können und es keine Rollenbilder gäbe, gäbe es Fälle von Gewalt. Wo sich Menschen entfalten, wird es stets zu Konflikten kommen, die in Gewalt münden können. Eine vollkommen gewaltlose Gesellschaft wird man nur um den Preis absoluter Konformität erreichen können – ein Ziel, das kaum erstrebenswert sein dürfte.

Steve Schreiber

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